Giuseppe Ungaretti: Poesiealbum 88

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Giuseppe Ungaretti: Poesiealbum 88

Ungaretti/Goltzsche-Poesiealbum 88

FÜR DIE TOTEN DES WIDERSTANDES

Hier
Wachen für immer
Die Augen die verschlossen wurden dem Licht
Damit alle
Sie offen behielten
Für immer
Dem Licht

Übertragung: Michael Marschall von Bieberstein

 

 

 

Giuseppe Ungaretti

Ein Gedicht Giuseppe Ungarettis, „Freude der Schiffbrüche“ überschrieben, beginnt mit den Versen: „Und plötzlich nimmst du die Fahrt wieder auf.“ Ungarettis Dichtung ist, bei aller Bedrohtheit menschlicher Existenz, die sie erinnert, ein Universum von geradezu ozeanischer Gelöstheit, von unmißverständlicher Klarheit und von einer Freiheit der Empfindung, die diesen Poeten zur wichtigsten Erscheinung der italienischen Poesie des zwanzigsten Jahrhunderts werden ließen. Kein anderer Dichter seines Landes hat der literarischen Öffentlichkeit so die Zunge gelöst. Ein neues Gedicht Ungarettis genügte, um eine Handvoll neuer Streit-Zeitschriften ins Leben zu rufen. Wenn Literatur derart provokant zum Zu- oder Widerspruch herausfordert, muß in ihr ein Übermaß an Wirklichkeit aufgehoben sein.

Verlag Neues Leben, Ankündigung

Äußerstes Formbewußtsein

verbindet sich in Ungarettis Dichtung mit einer verhaltenen, aber auch dramatisierten Gegenstandsbezogenheit. Geschult an der poetischen Kultur der Franzosen, Engländer, Spanier und Araber, in der er sich durch eigene Übersetzungen heimisch gemacht hat, findet er seine poetische Sprache, in der das Wort das Schweigen der Dinge durchbricht. So überrascht den Leser bei diesem Meister des Kurzgedichts eine dissonantisch bewegte Bildsprache, in der eine ganz diesseitsbezogene Sehnsucht nach mitmenschlicher Solidarität aufleuchtet.

Karlheinz Barck, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1975

 

Giuseppe Ungaretti: die lichtvolle Hermetik

Alexandria, das in der Antike eine subtile Nachblüte der griechischen Kunst erlebte, die mit Kallimachos und Theokrit ihren (später für Rom bedeutungsvoll werdenden) Höhepunkt erreichte, ist auch in der Moderne Wirkungsstätte oder zumindest Ausgangspunkt wichtiger lyrischer Ereignisse gewesen. Im Europäerviertel der am Nildelta gelegenen Hafenstadt hat nicht nur Kavafis, der Schöpfer der neuen griechischen Poesie, gelebt; hier sind auch die Italiener Marinetti und Ungaretti zur Welt gekommen, die, nachdem sie sich in Paris mit den progressiven Tendenzen der europäischen Kunst vertraut gemacht hatten, im Land ihrer Nationalität Leistungen von imposanter Bedeutung verrichteten. Zwar war Marinetti in erster Linie ein polemisches Talent, mehr ein Niederreißer des Gewesenen als ein die eigenen Postulate erfüllender Künstler, doch ohne seine provokanten Thesen, die aller überkommenen Kunst den Todesstoß zu versetzen trachteten, wäre das Terrain nicht freigeworden für eigene Eskapaden wie auch für die von Ungaretti durchgeführte tatsächliche Erneuerung des lyrischen Vokabulars:

TEPPICH

Jede Farbe breitet sich aus und gibt sich auf
in den anderen Farben

Um einsamer zu sein wenn du hinsiehst

Giuseppe Ungaretti befreite die italienische Dichtung von der jahrhundertealten Last der Rhetorik. Wo unverrückbar Präfiguriertes, gedanklich und emotional kaum Wandelbares gestanden hatte, erschien plötzlich Impulsives, das sich in so verkürzter Weise zu Wort meldete, daß Traditionalisten meinten, mit der Verdächtigung operieren zu müssen, hier handle es sich nicht mehr um Poesie, sondern allenfalls um lyrische Entwürfe. Francesco Flora, ein Adept der Croce-Schule, war nicht bereit, die Auflösung der alten Formen und die faktische Liquidation der überkommenen Wertvorstellungen hinzunehmen. Er rückte die knappen Gebilde Ungarettis in die Nähe jener Modellzeilen, die man in theoretischen Büchern über Verskunst findet, und er sprach von absichtlicher Mystifikation. Flora war unfähig, zu erkennen, daß die frammenti Ungarettis nicht durch Phantasielosigkeit oder durch mangelnde oratorische Fähigkeit entstanden, sondern durch die Absicht, mit Hilfe von gezielter Reduktion dem „Altern der Sprache“ entgegenzuwirken:

HEUT ABEND

Balustrade aus Wind
um heut abend
meine Traurigkeit
aufzustützen

Es war Ungaretti darum zu tun, die unmittelbarsten Empfindungen seines Lebens und die entscheidenden Stationen seiner Vita zum Ausdruck zu bringen. Weil er sein Dasein aber als eine Kette unzusammenhängender Vorkommnisse empfand, erschien ihm das (sorgsam erarbeitete) Bruchstück als die seinen Intentionen am meisten adäquate Form. Die Welt, wie sie sich dem neuzeitlichen Menschen darstellte, war kein sinnvoll geschlossenes Ganzes, das aus einem transzendentalen Bereich eine durch nichts in Frage zu stellende Bedeutung erhielt. An die Stelle der Kontinuität und Totalität war der Moment getreten, der Gültigkeit nur durch psychische Vertiefung, Wahrhaftigkeit einzig durch imaginative Hingabe erfuhr: „Ich erleuchte mich / durch Unermeßliches.“ Dieser Zweizeiler enthielt das poetologisch-philosophische Programm des jungen Ungaretti, der dem abgenutzten Idiom dadurch noch einmal das Flair faszinierender Ursprünglichkeit gab, daß er den Reichtum an Metren und Klängen nicht wie die Lyriker vor ihm zu erweitern trachtete, sondern daß er vielmehr einen Stil der Beschränkung schuf, dessen suggestive Kargheit auch nicht die Futuristen hatten zuwege bringen können, weil sie zu oberflächlich vorgingen, wenn sie ihre naiv-positivistische Liebe zur Technik mit einem amoralischen Vitalismus verbanden und sich in ästhetischer Hinsicht als allzu putzsüchtig erwiesen.
Ungaretti beendete die poetische Inflation der italienischen Sprache, indem er sich aus den weitläufigen neo-lateinischen Perioden zurückzog und dem einzelnen Wort die exakte Bedeutung wiedergab, die dem semantischen Kraftfeld immer noch innewohnte, allem Verschleiß von Petrarca bis d’Annunzio zum Trotz. Ungaretti entschlackte die Sprache. Er führte das Substantiv und das Verb in den Zustand einer geradezu archaisch-schlichten Unschuld, und er brachte die Regeneration dadurch zustande, daß er eine ganze Reihe jener Ratschläge befolgte, die Marinetti 1912 in seinem „Technischen Manifest der futuristischen Literatur“ erteilt hatte. Zwar zerstörte Ungaretti nicht die Syntax. Und er zeigte sich auch nicht bereit, das Zeitwort nur noch im Infinitiv zu gebrauchen (der Dichter, der aus dieser Regel den größten Nutzen ziehen sollte, war der deutsche „Expressionist“ August Stramm). Ungarettis Gewinn aus dem Repertoire futuristischer Maximen bestand vor allem darin, daß er die Interpunktion tilgte, den plumpen Wie-Vergleich mied, den Gebrauch der Adjektive nur noch sehr sparsam betrieb und an die Stelle diskursiven Redens oder blasser Dekorkunst jene neuartige – durch Rimbaud und Mallarmé angeregte – Metaphorik setzte, die durch die Empfehlung Marinettis auch in die französische (Reverdy; die Surrealisten) und in die spanischsprachige (Huidobro, Diego, Lorca, Alberti) Literatur gelangen sollte. „Die Bilder“, sagte Marinetti,

sind nicht Blumen, die man mit Sparsamkeit auswählen und pflücken muß, wie Voltaire sagte […] Dichtung muß eine ununterbrochene Folge neuer Bilder sein […] Je mehr die Bilder weite Beziehungen enthalten, desto länger bewahren sie ihre Fähigkeit, in Erstaunen zu versetzen […] Um alles zu umfangen und zu erfassen, was es an Flüchtigem und Unfaßbarem in der Materie gibt, muß man ENGMASCHIGE NETZE VON BILDERN ODER ANALOGIEN bilden, die man in das geheimnisvolle Meer der Erscheinungen auswirft.

Die theoretischen Forderungen Marinettis allein, so plausibel und nützlich sie waren, hätten Ungarettis lyrische Emanzipation vermutlich nicht zu bewirken vermocht. Doch aus der Begegnung mit der französischen Literatur und dem Pariser Geistesleben ergab sich eine Fülle stimulierender Anregungen, zumal sich die Eindrücke ergänzten und etwa der Einfluß der Zerebralisten Mallarmé und Valéry dadurch reduziert wurde, daß der junge Dichter auch die Bekanntschaft von Cendrars, Apollinaire, Picasso, Bergson und anderen machte.
Als Ungaretti 1914 nach zweijährigem Aufenthalt in der Seine-Metropole nach Italien ging, sah er sich bald genötigt, die (ihm noch kaum vertraute) Heimat als Soldat zu verteidigen. Und der Krieg mit seinen Artillerieüberfällen und Grabenkämpfen löste nicht nur Affekte wie Angst und Trauer aus, er bewirkte auch eine Intensivierung des Daseinswillens:

Eine ganze Nacht lang
hingeworfen
neben einen hingemetzelten
Kameraden
mit seinem gefletschten
Mund
dem Vollmond zugewandt
mit dem Blutandrang
seiner Hände
der in mein Schweigen
einbrach
habe ich Briefe geschrieben
voll von Liebe

Nie bin ich so sehr
am Leben
gehangen.

Daß Ungaretti auch in der Zeit seines künstlerischen Beginnens nicht, wie etwa die Futuristen, den totalen Bruch mit der Vergangenheit gesucht hatte, sondern lediglich um ein (seinem Empfinden gemäßes) Artikulieren bemüht gewesen war, verrät die Paraphrasierung einiger klassischer Worte, die er 1918 zu Papier brachte:

SOLDATEN

So
wie im Herbst
am Baum
Blatt und Blatt

Die – meines Wissens von der Ungaretti-Forschung bisher nicht herangezogene – Bezugsquelle bei Homer lautet: Hoie per phyllon gene toide kai andrón (wie das Geschlecht der Blätter, so das der Menschen). Ungaretti, dem die Schrecknisse des Krieges die volle Bedeutung der Gefühlsspanne zwischen allegria, Freude, und dolore, Schmerz, offenkundig werden ließen, sah in quälender Schärfe die Befristetheit jeglichen Lebens und darüber hinaus auch die Finalität der gigantischen Maschinerie des Universums: „Eingeschlossen zwischen sterbliche Dinge // (Auch der gestirnte Himmel wird enden) // Warum giere ich nach Gott?“
Wie sein Freund de Chirico, der Begründer der pittura metafisica, erlebte Ungaretti die Welt nicht optimistisch-futuristisch, nicht als dynamisch zu belebenden Raum, sondern hauptsächlich als Zeit. Kein Wesen, kein Zustand, keine Stimmung war von Dauer, weder Hoffnung noch Furcht. Sogar vom biographischen Ursprungsort, von der ägyptischen Landschaft her drängten sich, wie das Gedicht „Erinnerung an Afrika“ erkennbar macht, Eindrücke der Flüchtigkeit auf: „Die Sonne überwältigt die Stadt // Man sieht nichts mehr // Nicht einmal die Gräber wehren sich lang.“ Bei Camus wurde später die Wahrheit des gleißenden mediterranen Lichtes gleichfalls als untrennbar von der Wahrheit des Todes empfunden. Unsterblichkeitsdenken war ersetzt durch ein ätherisches Lebensgefühl, das seine Stärke aus dem Bewußtsein der Vergänglichkeit erhielt:

ORIENTALISCHE PHASE

Im weichen Verlauf eines Lächelns
fühlen wir uns gepackt vom Wirbelwind
aus Sprößlingen des Verlangens

Die Sonne erntet uns

Wir schließen die Augen
um unendliche Versprechen in einem See
schwimmen zu sehn

Wir fassen uns wieder und stempeln die Erde
mit diesem Körper
der jetzt viel zu schwer für uns ist

Die Betonung des Sinnlichen war nicht die Überwindung des Tragischen, sondern seine befristete Zurückweisung. Zum Hedonismus besaß Ungaretti nicht genug Unbekümmertheit, die Zeitläufte hatten ihn mit der Erfahrung ständiger Gefährdung konfrontiert: „Den Tod / büßt man / lebend ab.“ Der Lyriker („verloren im Unendlichen“) bewunderte zwar die einfache Religiosität des Volkes:

Dieser Bauer
vertraut sich der Medaille
des heiligen Antonius an
und geht leicht einher.

Doch er selbst fand keinen Halt im Glauben, und so konnte er nur darum bemüht sein, zwischen Lust und Leid, zwischen Besitzverlangen und Hingebungsbereitschaft einen Zustand psychisch-moralischer Stabilität herzustellen:

Eine Qual
ist es mir
wenn ich mich nicht
im Einklang weiß.

Gerade weil er der Dichter der kleinen Zeiteinheit war, benötigte Ungaretti ein größeres, ein überpersonales Bezugsfeld. Er fand es ähnlich dem Hymniker Saint-John Perse, dem andalusischen Illusionisten Alberti und dem gutgelaunten Seetouristen Cendrars – im Maritimen, das ihn mit den assoziativen Möglichkeiten abenteuerlicher Weite versah:

Mit dem Meer
habe ich mir
eine Bahre aus Frische
gemacht.

Dieser Vierzeiler mit dem Titel Universum ist datiert vom 24. August 1916. Schon vorher, in dem programmatischen Poem „Der begrabene Hafen“, hatte der Soldat Ungaretti eine Begegnung mit der See zum Anlaß genommen, emphatisch auszurufen:

Dort kommt der Dichter an
und wendet sich dann zum Licht mit seinen Gesängen
und er verstreut sie

Das Wasser, auch das von Flüssen, wurde zum Ausdruck des Lebensspendenden; und sich selbst stellte Ungaretti 1917 in dem Text „Freude der Schiffbrüche“ als einen vom Tode nicht eben leicht zu besiegenden Matrosen dar:

Und plötzlich nimmst du
die Fahrt wieder auf
wie
nach dem Schiffbruch
ein überlebender
Seebär

Ungaretti veröffentlichte seinen ersten Gedichtband, die schmale Sammlung Il porto sepolto (Der begrabene Hafen), 1916 in Udine. Er erweiterte das Büchlein und gab ihm 1919 den paradox-luziden Titel Allegria di naufragi (Freude der Schiffbrüche). Die Absicht, die er mit seinem Erstling verfolgte, beschrieb der Dichter folgendermaßen:

Dieses Buch ist ein Tagebuch. Der Autor hat keinen anderen Ehrgeiz, und glaubt auch, daß die großen Dichter keinen anderen hatten, als eine eigene schöne Biographie zu hinterlassen. Die Gedichte sind daher seine formalen Qualen, aber er wünscht ein für allemal begreiflich zu machen, daß die Form ihn bloß quält, weil er von ihr fordert, daß sie den Veränderungen seines Sinns, seines Gemüts entspreche, und wenn er irgendeinen Fortschritt als Künstler gemacht hat, so möchte er, daß dies nichts anderes bedeute, als daß er auch einige Vollkommenheit als Mensch erreicht hat.

Nimmt man Ungarettis Erklärung wörtlich, dann erweist sie sich heute, da man vom Ende seines Lebens her auf sein Werk blicken kann, als eine Äußerung von nicht ungefährlicher Ambivalenz. Denn die nächsten Sammlungen Sentimento del tempo (Gefühl der Zeit, 1919-1935), Il Dolore (Der Schmerz, 1937–1946) und Poesie disperse (Verstreute Gedichte, 1945) zeigten einen Autor, der seine individuelle Sprechweise erkennbar zugunsten angestammter Metren und schließlich sogar vorgegebener Strophenformen aufgab. Und wenn konservative Geister in der Annäherung an Leopardi und die Tradition auch einen Prozeß der Reifung sehen mochten, so waren die Bewunderer von Ungarettis primärer Spontaneität über die Umkehr zur Tradition ebenso enttäuscht, wie es die Anhänger von de Chiricos metaphysischer Malerei waren, als der Meister sich anschickte, ein Klassizist zu werden.
Zwar gelangen Ungaretti weiterhin vollkommene und tiefe Verse:

Er bessert das Lumpige aus, errichtet Gräber,
Und um dich zu denken, Ewiges,
Hat er nichts als Flüche.

Insgesamt besaßen seine Bücher jetzt jedoch weniger Aroma und Individualität. Die augenblicksgesättigte lichtvolle „Hermetik“ der Allegria-Gedichte wich einer ewigkeitsorientierten und intellektualistischen Dunkelheit, die raffinierte Wort-Bild-Schleier ausbreitete und dadurch das Faktum zu verbergen trachtete, daß der Dichter zwischen Freude und Schmerz nicht mehr so heftig umgetrieben wurde wie in jener Zeit, als er sich als „Landstreicher“ empfunden und von sich selber gesagt hatte:

In keiner
Gegend
der Erde
kann ich
hausen

[…]

Ich suche
ein unschuldiges
Land

In der mittleren Schaffensphase wirkte einzig persönliches Leid der Literarisierung entgegen, der Tod des Bruders und der des neunjährigen Sohnes. Im allgemeinen erlag Ungaretti nun der Versuchung des romanischen Menschen: Er formalisierte seine Emotionen, noch bevor diese Eigengestalt annehmen konnten. Und wenn er in dieser Zeit Góngora zu seinem Vorbild erkor, so suchte er ihn nicht dort auf, wo er spanisch und volksnah ist, in seinen Romanzen und Letrillas, und er folgte ihm auch nicht an die reinsten und tiefsten Stellen seiner Soledades, sondern er versicherte sich des iberischen Einzelgängers in jenen Partien, in denen er italisierte und also selber fremde Einflüsse aufgriff. Nicht die irreale Metapher, vielmehr die bildliche Dekoration und die Rhetorik verlockten. Ungaretti, der von 1936 bis 1942 als Professor für italienische Literatur in São Paulo lebte und der dann, und zwar um sogleich vom Mussolini-Regime ausgezeichnet zu werden, nach Italien zurückkehrte, hatte seine Poesie mittlerweile weitgehend akademisiert. Und eine gewisse Affinität zur klassischen Literatur zeigte sich auch in seinem Alterswerk. Allerdings wurde in den Stücken des Bandes La Terra promessa (Das verheißene Land, 1950) – zumindest in der die Äneis thematisierenden Folge „Chöre, Didos Gemütszustände zu beschreiben“ – wieder die seelische Natur des Dichters spürbar:

Eine Stumme, umdunkelt,
so schreitest du zu über saatloses Land:
dir zur Seite, stolz, erwartest du keinen.

Indem Ungaretti den Chören der trauernden Dido keine Monologe des Äneas gegenüberstellte, verschob er die Gewichte. Aus dem Heldenepos wurde ein Werk des Manierismus, wurde das kryptogrammatische Diarium einer vom Seins- und Geschichtszusammenhang abgetrennten Einzelexistenz. Das Individuum, nicht eine übergreifende Idee stand im Zentrum; und die Szene war beherrscht von der Klage:

Im Sturm, da öffnete sich, im Finstern, ein Hafen,
der war, hieß es, sicher.

Ein Golf, ausgesternt,
und, so schiens, unwandelbar sein Himmel.
Doch jetzt, wie anders!

Solche Gedichte gaben – mehr als die von den Traditionalisten wegen ihrer formalen Meisterschaft bewunderte „Canzone, den Gemütszustand des Dichters beschreibend“ und das symbolüberfrachtete „Rezitativ des Palinurus“ – der Sammlung Das verheißene Land den Rang eines außerordentlichen Werkes. Die Abbreviatur entsprach dem Fragmentarismus des modernen Weltbildes weit besser als die große architektonische Komposition, die, wo es nur Trümmer, Fissuren und Unzusammenhängendes gab, Kontinuität und universellen Kontext lediglich vortäuschen konnte. So nannte Ungaretti denn seinen letztem Gedichtband von 1960, der stimmungsmäßig den Verlust der Lebensgefährtin widerspiegelte, Il Taccuino del Vecchio, Das Merkbuch des Alten. Die Verse dieser Sammlung setzten den aufrichtig-pessimistischen Ton von La Terra promessa fort, in Übereinstimmung mit Ungarettis Ansicht, daß jede wahre Kunst durch die Hölle zu gehen habe:

Nicht atembar der Abend, kein Lufthauch,
wenn ihr, meine Toten, und ihr gezählte Lebende, die ich liebe,
mir nicht in den Sinn kommt,
glückbringend, während
ich begreife, aus Einsamkeit, abends.

Ungaretti, der meinte, „… es ist keinesfalls die Realität, die nicht meßbar wäre, sondern das Geheimnis“, war in anderer Weise engagiert als die Dichter, die auf ihn, Saba und Montale folgten. Seine Vorstellungen vom Leben und Schaffen waren noch denen Rilkes verwandt, der geglaubt hatte, es käme darauf an, „Herz-Werk“ zu tun. Existieren hieß für ihn neben anderem auch – und mit den Jahren immer mehr –, auf anständige, würdige Weise zu sterben: „Sollte es so kommen, daß ich / arglos verkinde?“
Die Selbstachtung erforderte dauernde Aufmerksamkeit. Und dem sicheren und sichtbaren Verfall war einzig ein poetisches Reden angemessen, das den Ernst des Schweigens enthielt, wenn es, elliptisch protokollierend, sogar noch die physische Niederlage zu einem Triumph des Geistes und der Gestaltungskraft machte:

Kein Sturm mehr die Liebe,
wie er mich jüngst, inmitten
nächtlicher Blendung in Fesseln schlug zwischen
Ohne-Schlaf- und Getriebensein,

ein Blinken ist sie, vom Leuchtturm,
das steuert er an, gelassen,
der alte Kapitän.

Hans-Jürgen Heise, aus Hans-Jürgen Heise: Das Profil unter der Maske, Claassen Verlag, 1974

Stimme zu Ungaretti

Vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte haben wir einen großen Dichter erlebt, der gleichzeitig ein Gelegenheitsdichter gewesen ist; und der mit den Jahren an jeder neuen Gelegenheit gewachsen ist.

Jean Paulhan

 

 

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Zum 85. Geburtstag des Autors:

Hans-Jürgen Heise: Ungaretti: Die lichtvolle Hermetik
Die Tat, 10.2.1973

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLfGIMDb +
Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Brigitte Friedrich Autorenfotos + Keystone-SDA +
deutsche FOTOTHEK
Nachruf auf Giuseppe Ungaretti: Tat

 

Giuseppe Ungaretti liest Inno alla morte.

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