Godehard Schramm: Zu Rainer Malkowskis Gedicht „Stadtkirche am Vormittag“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Malkowskis Gedicht „Stadtkirche am Vormittag“ aus Rainer Malkowski: Einladung ins Freie.

 

 

 

 

RAINER MALKOWSKI

Stadtkirche am Vormittag

Wer die Tür nicht festhält,
löst einen Schuß aus:
Totenstille danach
im Kirchenschiff.

Die alte Frau in der letzten Bank,
vornübergenickt,
rührt sich nicht.

Das Haus des Lebendigen –

erhellt
durch eine Orange,
die in der Dämmerung allmählich
aus dem Einkaufsnetz der Frau
zu leuchten beginnt.

 

Einladung zum Sehen

Er beklagt keinen Zustand, er fordert nicht auf, Versäumtes nachzuholen – wie er überhaupt die Welt nie aus der Perspektive einer Anklagebank betrachtet: Rainer Malkowski (1939 in Berlin geboren, im oberbairischen Brannenburg lebend) ist einer der wenigen „neuen“ Lyriker, die mit ihren Gedichten Gegenstände bilden, die nicht allein Resultat konzentrierter Betrachtung sind, sondern eine eigene Welt enthalten. Dort zählen Erlebnisse, nicht aber Reflexionen. Die Überschrift deutet dieses Unzeitgemäße an.
Bei einem Besuch zur unüblichen Zeit in einer katholischen Kirche, vermutlich mittlerer Größe, werden wir nicht mit kunstgeschichtlichem Interieur vertraut gemacht. Es genügt der Hinweis auf die schwere Tür; diese, nicht festgehalten, könnte ins Schloß fallen, so laut – und hier reicht die Wahrnehmung des Dichters weiter –, daß der Besucher mit ihr „einen Schuß“ auslöst. Weil er das so voraushört, bleibt er in der Logik seines aufgenommenen Bildes, und das Nächste wird vorstellbar: durch die Mechanik der Tür, die Stille einer Kirche schärfer verletzend als störendes Umhergehen nicht andächtiger Besucher, wird klar, daß nach diesem „Schuß“ in diesem Raum „Totenstille“ herrscht. Dieses Wort öffnet sich nach zwei Richtungen; ein scharfer Kontrast zur üblichen Vorstellung vom Inhalt eines Kirchenschiffes: Stille wohl, aber nicht Totenstille.
In so Unerwartetem liegt die Überlegung nahe: wenn der, der vormittags eine Kirche betritt, nichts mitbringt, alles von der Kirche erwartet, wird er nur „Totenstille“ vernehmen. Der Schuß als Klang – sein Echo die Totenstille. Ich dachte dabei an die sehr stille, fast kalte Helligkeit von Kircheninterieurs des niederländischen Malers Pieter Saenredam (1597–1665). In der zweiten Strophe wird diese Stille lebendig. War in der ersten Strophe die Tür ins Allgemeine aufgegangen, richtet sich nun der Blick auf einen Menschen; dem poetischen Urteil – Stille gleich Totenstille – folgt die Anwesenheit einer Frau ohne Kommentar. Als Querstrich summiert die dritte Strophe: „Das Haus des Lebendigen“. Das klingt ironisch: Totes, Stilles, Eingeschlafenes, nichts von der Anwesenheit des lebendigen Gottes. Wäre das alles, wäre es nur Momentaufnahme.
In der letzten Strophe zeigt sich die Kraft des Lyrikers Malkowski besonders: er schaut unvermittelt wo ganz anders und näher hin. Nicht das „ewige Licht“, sondern ein Nahrungsmittel „erhellt“ das Haus des Lebendigen. Man stutzt einen Augenblick. Malkowski bringt, gleichsam mit einer theologischen Volte, das natürlich Gegenständliche zum Leuchten in einem sakralen Raum. Auch wird die Totenstille zum Lichtwert: jetzt ist sie Dämmerung, in der Profanes und Sakrales zusammenkommen; Farbe wird erfahrbar als „Tat des Lichtes“.
Wieder stellt sich ein Querverweis zu einer malerischen Arbeitsweise ein: wie Rembrandt aus der umgebenden Düsternis das Licht herausarbeitet, so holt Malkowski aus der Dämmerung das Licht der Orange, erhellt so die scheinbar herrschende Totenstille. So leuchtet es zugleich nur, wenn der Besucher selbst etwas mitbringt. Der Autor hält nicht den Augenblick eines Fotografen fest – er gestaltet den Eindruck zum Vorgang. So spricht er in diesem geglückten Gedicht eine Einladung zum Sehen aus. Nun erscheint Totenstille nicht mehr als Abwertung. Er versteht das Gedicht als Bereicherung, „damit uns die Bilder nicht ausgehen“, und als Rätsel; nur, daß er vom Rätsel doch ein Stück zu fassen bekommt.

Godehard Schrammaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfter Band, Insel Verlag, 1980

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