Gregor Laschen (Hrsg.): Das erste Paradies

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Gregor Laschen (Hrsg.): Das erste Paradies

Laschen (Hrsg.)/Clement-Das erste Paradies

DIE WEGE ENTLANG

Nachts husten die Wege.
Sie drehen sich um und gehen zurück
wie alte Männer und die Zeit.
Sie schnüffeln wie kleine Hunde
die Ränder entlang, um das Unsichtbare
nicht ganz aus dem Sinn zu verlieren.
Die Nacht ist schwarz wie umgegrabene Erde.
Mal spielen wir, mal bewegen wir uns unsicher
in unserer Welt aus Bäumen und Hundelauten.
Die Herzen sind weiche klebrige Schnauzen,
wie Schnecken auf zeitlosem Marsch,
bereit, Bande zu brechen, Rufen zu folgen, auf ferne Schläge zu lauschen…
Wir gehen, aber niemand lauscht. Nur die Wege hören zu.
Eingehüllt in der Nacht Ölteppich und Asphaltdecke,
kreuzen wir eine doppelt gestreifte Linie, ein giftig gelbes Gatter.
Wir beten, aber nur das Gebet hört unsere Worte.
Wir begegnen der Zeit auf ihrem endlosen Marsch,
des Augenblicks dichter Tiefe entgegen.
Wege sind keine Flüsse. Du mußt sie entlang gehen, arbeiten
wie ein Schmied in deines Angesichts Glut, sie umschmieden aus Pfaden
zu breiten Alleen und wenn es Nacht wird
zu Fährten und Schluchten
und Bäumen, die sich in Wegrichtung neigen.

Terje Johannsen
Übersetzung Michael Buselmeier

 

 

 

Vorsatz

Der Autor aber, der sich als Übersetzer dem Fremden stellt, es in seiner unerschließbaren Andersheit annimmt, von ihm also auch das annehmen kann, was ihm unbegreiflich bleibt, ist – ganz gleich, welcher Zeit er angehört – ein Romantiker. „Der wahre Übersetzer dieser Art muß“, nach einer Notiz von Novalis, „in der That der Künstler selbst seyn“; er rezipiert, er akzeptiert den fremden Text, indem er sich durch ihn verändern läßt, und was ihn verändert, ist eben das Fremde, das er, statt es sich anzueignen, als das eigentlich Fremde, das Fremde im Eigenen, die eigene Befremdlichkeit im Akt des Übersetzens zur Geltung bringt. „Er muß“, so Novalis, „der Dichter des Dichters seyn und ihn also nach seiner und des Dichters eigner Idee zugleich reden lassen können.“

*

Aufgabe des Übersetzers… nascha sadatscha… sei es, meint Mandelstam, den Weg des Lesers zum Autor zu verkürzen; nicht aber, ihn zu eliminieren und damit den Schritt zum Andern, den Gang in die Fremde überflüssig, vielleicht gar unmöglich zu machen.

*

Der übersetzte Text ist ein weitergeschriebener Text. Dem Original wird man mit übersetzerischer Treue am wenigsten gerecht.
Die literarische Übersetzung hat nicht primär die Botschaft des fremden Texts, sondern dessen Machart – als Lesart – zu vermitteln. 

Felix Philipp Ingold

 

In seinen „Wahrnehmungen aus sieben Ländern“, die 1987 unter dem Titel Ach Europa! versammelt erschienen, notiert Hans Magnus Enzensberger, was das Norwegische an Norwegen sein könnte, durchaus in der Spur des norwegischen Dichters Henrik Wergeland („Es kommt darauf an, Norwegen so norwegisch wie nur möglich zu machen.“): 

Norwegens Uhren sind immer anders gegangen als die des Kontinents. Dieses Land ist das Reich der Ungleichzeitigkeit. Scharfsichtige Beobachter haben das früh bemerkt. Der berühmte Historiker Ernst Sars hat für dieses Aus-der-Reihe-Tanzen den klassischen Terminus geprägt: „den norske utakt“. Wahrscheinlich hat er es anders gemeint, aber was mich an dieser kleinen, peripheren Gesellschaft verblüfft, ist ein unbewußtes Kunststück, das ihr in den letzten 170 Jahren immer wieder gelungen ist: sie hinkt hinter der Zeit her und ist ihr zugleich voraus. (…) 

Irgendwo dazwischen ist – wie alle gute Dichtung – auch die hier versammelte norwegische Poesie verankert, in sich und im Anderen, Fremden, Benachbarten, im „ersten Paradies“ von allen Paradiesen. Nicht anders die deutschen Übertragungen, Nachdichtungen, Übersetzungen.
Wie bei den vorangegangenen Bänden dieser Reihe, den Begegnungen mit Dichtern aus Dänemark, Ungarn, Spanien, Island, den Niederlanden, Bulgarien, Italien und Frankreich, hat der Spiel-Raum „Dichter übersetzen Dichter“ auch diesmal, die schöne Spannung zwischen Nachdichtung und mehr wortgetreuer Übertragung voll ausmessend, des öfteren in eine deutsche Mehrsprachigkeit desselben Original-Gedichts geführt, eigen und genau.
Ich danke allen, die beitrugen zu unserer Begegnung mit den norwegischen Kollegen, sehr herzlich, insbesondere Ulrike Thelen, Ingo Wilhelm, Wolfgang Butt und Johann P. Tammen.

Gregor Laschen, Vorwort

Das Erstaunen der Poeten auf dem falschen Planeten

und die einfache Einsicht, daß alles ist, wie es ist

Kannst du ein Gedicht machen
an dem ein Bauer Geschmack findet,
sollst du zufrieden sein.
Aus einem Schmied wirst du niemals schlau.
Am schwersten ist, es einem Schreiner
recht zu machen.

Olav H. Hauge

Im Museum der modernen Poesie, das Hans Magnus Enzensberger 1960 herausbrachte, war Norwegen mit einem einzigen Autor vertreten, Rolf Jacobsen (1907–1994), der als einer der Wegbereiter der modernen norwegischen Lyrik gilt. Bis in die sechziger Jahre dominierte in Norwegen eine traditionalistische Vorstellung von der Poesie; die gebundene Form war bindende Norm, Inhalte und Bildsprache orientierten sich am Ideal der Verbindlichkeit, d.h. einer relativ umstandslosen Nachvollziehbarkeit der dichterischen Aussage. Zwischen Autoren und Publikum herrschte Einverständnis über den dichterischen Kode.
Eine der wesentlichen Ursachen der lang anhaltenden Herrschaft des Traditionalismus lag in der durchaus handgreiflichen Funktion nationaler Selbstvergewisserung, die der Dichtung nach der späten Unabhängigkeit des Landes (Auflösung der Union mit Schweden 1905) und ganz besonders während des Widerstands in den Jahren der deutschen Besatzung (1940–1945) zukam.
Man hat Norwegen einmal eine Poetokratie genannt, und in der Tat haben manche große Dichter des Landes wie Henrik Wergeland (1808–1845), Bjørnstjerne Bjørnson (1832–1910) und Arne Garborg (1851–1924) sowie in unserem Jahrhundert Arnulf Øverland (1889–1968) und Nordahl Grieg (1902–1943) sich als Volksaufklärer verstanden und damit der Vorstellung vom Dichter als dem Verkünder höherer Wahrheiten – oder tieferer Einsichten – zu einem längeren Leben verholfen als anderswo. Dies war kein günstiger Boden für einen avantgardistischen Neuansatz, der sich der traditionellen Erwartung an die Dichtung (Verkündung positiver Wahrheiten in überkommenen Formen) verweigert.

*

In den sechziger Jahren begannen junge Lyriker aus dem Umkreis der Literaturzeitschrift Profil, aus der klaustrophobischen Enge dieser Verbindlichkeit auszubrechen. Walter Baumgartner hat diesen Vorgang als die Dezentralisierung der norwegischen Poesie beschrieben: die Abkehr vom Erhabenheitsgestus der herkömmlichen Dichterrolle, die Öffnung für neue Stoffe, Themen und Ausdrucksformen jenseits der bis dahin als allein seriös geltenden Muster der Natur-, Liebes- und Gedankenlyrik.
Es ist die Zeit der Pop-Kultur, die Dichtung sprengt ihre alten Grenzen, tritt in die Sphäre des Alltäglichen ein, sucht nicht den erhabenen Sinn im Metaphysischen, sondern den Reflex des Wirklichen und Lebendigen in all seinen Spielarten bis zum Absurden und Banalen. Reduktion, Destruktion, Minimalismus sind Begriffe aus der Lyrikdiskussion der späten sechziger Jahre, die jene Dezentralisierung als lyrische Befreiungsaktion kennzeichnen.

Zwei der im vorliegenden Band vertretenen Autoren, Georg Johannesen (geb. 1931 in Bergen) und Einar Økland (geb. 1940 in Valevåg), haben diesen Wandel in den sechziger Jahren mit herbeigeführt. An der Unterschiedlichkeit ihres Werks läßt sich die Spannbreite der Erneuerung ablesen.
Bei Georg Johannesen, dem geschulten Rhetoriker, hat die gebundene Form weiterhin Bestand. In seinen überwiegend gereimten und strophisch streng gebauten Gedichten steht die äußere Ordnung in einem Spannungsverhältnis zu einer durch den Inhalt vermittelten, von Disharmonie bestimmten Welterfahrung.
In den frühen Gedichten der Sammlung Dikt 1959 klingt hier und da im Tonfall und in den ironischen Brechungen noch Heine an, doch der Grundton ist Brecht nahe, mit dem Johannesen in „Die finsteren Zeiten“ sagt:

In den finsteren Zeiten
bin ich nicht weise
Ich singe und spreche
von den finsteren Zeiten

Das Ich der Gedichte von Georg Johannesen ist nicht das einer isolierten individuellen, sondern das einer komplexen und kollektiven Lebens- und Welterfahrung, ein politisches Ich, das provokativ und parteiisch seine Stimme erhebt gegen die Einfalt der einfachen Wahrheiten einer Welt, die ihren wahren Zustand nicht wahrhaben oder ihn vergessen, ja verdrängen möchte. „Doch was sitzt hier drinnen im Herzen? / Hier drinnen im Herzen sitzt mein Verstand“, sagt dieses Ich am Ende des Gedichts „Ferien“.
Auch das Naturerlebnis, auch die Liebe, auch die Lebensfreude, von denen Johannesens Gedichte nicht weniger handeln als von Krieg und Völkermord, setzen diesen Verstand nicht außer Kraft. Dieses Nebeneinander von Rationalität und Emotionalität ist für manches Paradox in den Texten des dialektischen Aufklärers Georg Johannesen gut, dessen auch ins Deutsche übertragenes Hauptwerk Ars moriendi oder die sieben Todesarten davon handelt, wie man lernt zu denken.

Einar Økland ist nur neun Jahre jünger als Johannesen, repräsentiert jedoch schon eine andere, nicht im gleichen Maße vom 2. Weltkrieg geprägte Generation. Er gehörte der Profil-Gruppe an und beschrieb 1967 die neue nüchterne Selbsteinschätzung des Autors:

Er ist kein auserwählter und erhabener Wahrheitsverkünder. Er ist kein Prophet. Auch kein Dekorateur. Er ist ein freier Arbeiter. Er ist ein Analytiker. Er ist ausgebildet, beeinflußt, funktionierend. Er ist von seiner Umwelt geformt und er hat sich selbst geformt. Vor allem ist er seinem Ursprung nach nichts.

Die Absage an die Autorität der überkommenen Dichterrolle zeigt sich unmittelbar in der weitgehenden Abwesenheit eines lyrischen Ichs in Øklands frühen Texten, die sich häufig wie anonyme Mitteilungen an den Leser richten, den sie als „du“ anreden oder mit einem „wir“ einbeziehen. Auch die formale und sprachliche Reduktion ist beträchtlich; schlanke Textbilder herrschen vor, Lakonie bis zur Kargheit, überraschende Pointen und Nonsenseffekte sorgen dafür, daß die Texte nicht abheben zu pathetischen Höhenflügen, sondern auf dem Boden bleiben. Nicht dem der Tatsachen, denn es wimmelt von surrealen Bildfügungen in Øklands Gedichten, sondern dem der Bescheidenheit, der schlaglichtartigen kleinen Einsichten, des Sprachspiels und des Witzes. 

Dieser Minimalismus ist ein auffallendes Merkmal der Profil-Autoren in den siebziger Jahren, von denen Paal-Helge Haugen, Eldrid Lunden und Jan Erik Vold durch Übersetzungen seit den späten achtziger Jahren auch dem deutschen Lyrikpublikum zugänglich geworden sind.
Eins ihrer einheimischen Vorbilder war der abseits des literarischen Trubels als Obstbauer am Hardangerfjord lebende Olav H. Hauge, ein Meister der kurzen Form, bei dem philosophische Nachdenklichkeit, Bauernschläue und präzise Beobachtung der Natur und des alltäglichen Lebens sich zusammenfügen zu einer bestechenden lyrischen Einfachheit. 

Komm nicht mit der ganzen Wahrheit,
komm nicht mit dem Meer für meinen Durst,
komm nicht mit dem Himmel, wenn ich um Licht bitte,
aber komm mit dem Tau, dem Schimmer, der Flocke,
so wie die Vögel Wassettropfen vom Bad mit sich tragen
und der Wind ein Salzkorn.

Die volkstümliche Einfachheit und unsentimentale Naturverbundenheit Olav H. Hauges findet man auch bei dem auf einem kleinen Hof an der norwegischen Westküste lebenden Einar Økland, der mehreren seiner Gedichtsammlungen den Untertitel Folkeminne (Volksgut) gegeben hat. Øklands künstlerisches Profil zeigt sich in der unangestrengten Verbindung dieser Elemente von Bodenständigkeit mit einer urbanen Intellektualität.

Terje Johanssen, 1942 auf den Lofoten geboren, aber jetzt „in einer Bauernlandschaft“ nördlich von Oslo wohnend, steht mit der visionären Metaphernsprache seiner häufig in Zyklen gebauten großen Gedichte dem klassischen Modernismus näher. Oft bildet eine konkrete Situation (Natur-, Stadt-, Reise-, Liebesmotiv) den Ausgangspunkt, bevor die Bilder sich vom Realen lösen und in einer visionären Dimension entfalten. Sie evozieren meist Schmerzliches, Einsamkeit, Verlust, Trauer, Angst. Auch in Momenten des Glücks verbirgt sich die Schwere des Seins. „Weißt du noch, daß ich sagte: Niemand kann glühen / ohne zu Asche zu werden, es gibt keine Freude / ohne tiefe Trauer, keinen schönen Mund / ohne die Kontur des Totenschädels“, heißt es in dem Gedicht „Nach einer Beerdigung“. Johanssens Sprache nimmt nichts auf die leichte Schulter und nichts leichtes auf die Schulter, und auch in seinen zahlreichen Liebesgedichten lauert stets ein Hauch von Vergeblichkeit.

Das Gefühl der Fremdheit im Dasein hat der Symbolist Sigbjørn Obstfelder (1866–1900) in dem Gedicht „Ich sehe“ auf die in Norwegen sprichwörtlich gewordene Formel gebracht

Ich sehe, ich sehe…
Ich bin wohl auf einen falschen Planeten gekommen!
Hier ist es so sonderbar…

Torgeir Rebolledo Pedersen, 1949 in Nes (Romerike) geboren, jetzt in Oslo lebend, zitiert die Obstfeldersche Weltmüdigkeit in einem seiner Gedichte. Sie ist eins seiner Themen. Doch begegnet er ihr mit einer poetischen Strategie nonchalanten Trotzes. „Die nonchalante Art mit der / der Fuchs auf die Trauben verzichtet / kann dem Faktum zugeschrieben werden / daß es eine Alternative gibt z.B. / das viel Süßere in Reichweite“, heißt es in einem seiner jüngsten Gedichte.
Die großen Fragen sind, so scheint es, unerledigt ad acta gelegt, die idealen Welt- und Lebensentwürfe Makulatur:

Mein Privileg
ist zu fragen Was ist die Frage
Nicht ob es sich lohnt zu fragen
Wenn es sich lohnen muß zu fragen
und lohnen muß zu antworten, was wäre die Frage?

Mit dieser Charakterisierung eines poetischen Projekts (so der Titel des Gedichts, dem die Zeilen entnommen sind) relativiert Pedersen das Wort Ibsens „Ich frage lieber, zu antworten bin ich nicht berufen“ und schraubt seinen Anspruch herunter. Für Ibsen noch Berufung, ist die Dichtung für Pedersen ein Privileg, vielleicht kann man sagen, eine Nische, in der er sich eingerichtet hat mit der fundamentalen Verletztheit des von einem un(be)greifbaren Gott in einer nur als Experiment gedachten Schöpfung alleingelassenen Menschen.
Der spielerische poetische Umgang mit dieser Erfahrung ist ohne Larmoyanz und ohne Zynismus, ein Drahtseilakt zwischen Verstand und daraus folgender Verzweiflung auf der einen und Gefühl und hedonistischer Lebensbejahung auf der anderen Seite. 

Erfrischend unbelastet vom Erbe des abgewrackten Abendlandes und ohne den weltmüden, enttäuschten Blick tritt die jüngste in diesem Band vertretene Lyrikergeneration auf. Daß sie von zwei Frauen repräsentiert wird, verleiht diesem Eindruck wohl seine besondere Prägnanz und eine gewisse pikante Note. Sie fühlen sich nicht als Enterbte und Geworfene wie die älteren männlichen Kollegen Johanssen und Pedersen. Ihre Autoridentität ist nicht an ein statisches lyrisches Ich gebunden, sondern variabel, multifunktionell, ungehemmt oszillierend.
Wenn Gro Dahle, 1962 in Oslo geboren und „mit Mann, 3 Kindern, 2 Kaninchen, 5 Fischen, 2 Papageien, einem Hund und einer Schildkröte“ auf einer kleinen Insel im Oslofjord lebend, am Anfang ihres Gedichtbandes Das Evangelium des Affen diesen vom Himmel kommen läßt, um Tag von Nacht, Mann von Frau zu trennen, befinden wir uns fern jeder Blasphemie in einem Phantasieraum, in dem die Unschuld der Voraussetzungslosigkeit und die Gleichberechtigung der Dinge und Wesen, Gedanken und Gefühle herrscht.
In einem von Gro Dahles Regenwetterrätseln heißt es unter dem Titel „Was wenn das Schwein?“:

Weißt du wohl nicht, ist
auch nicht leicht: wissen, reden schon
gar nicht und überhaupt
die großen Worte, wir denken nicht
groß, und die Worte kommen nicht
von allein.

Aber: das Großschwein
ist nüchtern, liebt
die gläsernen Äpfel, weiß schon:
oben ist oben, unten
unten.

Wo Gro Dahle die Sense des Nonsens schwingt, fallen die überzüchteten Pflanzen der lyrischen Hochkultur und machen einem wildwüchsigen Elementarismus Platz, einer Welt, in der, wie im Märchen, alles ist, wie es ist. Als Kinder würden wir uns nicht fragen, warum das Schwein redet, warum der Papst sich unter den Tisch verkriecht und Kekse mampft. Durch eingefahrene Sehweisen sind unsere Augen schmal geworden. Sich auf Gro Dahles Gedichte einlassen heißt, wieder große Augen bekommen. 

Auch die Texte der 1955 geborenen und hoch im Norden in Tromsø lebenden Eva Jensen beziehen ihre Wirkung aus der Abwesenheit großer lyrischer Gebärden. Eva Jensen begann mit raffinierten Kurzgedichten, die mit surrealen Effekten und witzigen Pointen aufleuchten wie ein Streichholz und wieder verlöschen – so beschrieb der finnlandschwedische Lyriker Rabbe Enckell in den 20er Jahren seine „Streichholzgedichte“ – wie dieses aus Dikt og tekstar (1984):

Ein Mann ging durch die Stadt
mit einem Hering an der Leine
da bohrte ich die Schnauze tief in meinen Katzenkörper
und lachte still in mich hinein
immer muß ich mich schlechter machen als ich bin.

In ihren folgenden Büchern hat Eva Jensen das freistehende Einzelgedicht nahezu aufgegeben und stellt prosalyrische Texte zu episch strukturierten Zyklen zusammen, in deren perspektivischem Mittelpunkt meistens Frauen stehen, zuletzt allerdings ein Hund mit ähnlich diesseitigen Einsichten in die guten einfachen Dinge, die das Leben lebenswert machen, wie Gro Dahles Affe sie vom Baum spricht. Mit ihrer knallharten Diesseitigkeit und ihrem kernigen Humor legen Jensens Texte Zeugnis ab nicht nur von weiblichen Lebensstrategien, sondern auch von dem Mut und der Stärke, deren es bedarf, um in einer der nördlichsten bewohnten Regionen Europas zu leben und sagen zu können:

Es ist gut zu leben.

Du mußt nicht das nicht wiederholen und wiederholen daß alles Staub ist und alles Staub ist – was hattest du dir denn vorgestellt?
Alles ist Staub und bei Ausgangspunkten können wir uns nicht lange aufhalten. 

Wolfgang Butt, Nachwort1

 

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