Gregor Laschen und Manfred Schlösser (Hrsg.): Der zerstückelte Traum • Für Erich Arendt

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Gregor Laschen und Manfred Schlösser (Hrsg.): Der zerstückelte Traum • Für Erich Arendt

Laschen & Schlösser-Der zerstückte Traum • Für Erich Arendt

LIEBER ERICH ARENDT

Wann rufen Sie wieder an? Wann kann ich Ihre
aaaaaReisestimme
wieder hören im knackenden Telefon? (Die Stimme,
die das Unglück erlernt hat wie einen Beruf,
zu dem man gezwungen wird. Hundert Semester
aaaaaFortschritt
an den Universitäten der Hoffnung und noch immer
kein Abschluß. Woher diese Ausdauer? Woher diese
aaaaasanfte Entschlossenheit?)

Wann rufen Sie wieder an, Erich Arendt? Wann kann ich
ihre Poetenstimme wieder hören? (Eine widerständige
Stimme trotz ihrer Scheuheit; mit den kurzen Unterbrechungen
für die Interpreten in den Schaltzentralen. Eine südliche
Stimme aus Wilhelmshorst, Preußen, geschult in ganz anderer
Zeit und an Orten, die unser Gedächtnis bedrohn.)

Wann rufen Sie wieder an, Erich Arendt? Wenn die Historiker
mit den Zeitungsgesichtern zur Beichte gehn? Mit ihren
viereckigen Köfferchen voller Schrot und Schrott,
mit den Propagandamasken, mit den schlechtsitzenden Anzügen
über all ihrer Unwissenheit. Rufen Sie bald an!
Die Gegenwart ist weiß vor Wut über Ihre leise Stimme,
über ihre Gleichmäßigkeit in all den Jahren.

Wir können uns in Spanien treffen, wenn Sie wollen,
in Barcelona oder in Madrid. Ich nehme Ihre Bücher mit
und lese im Caféhaus Ihre Verse vor. Diese Welt hätten wir
nicht mehr erfinden können, lieber Erich Arendt!
Der tödliche Biß und dennoch: die heile Haut;
die helle Verachtung für die laute Herrschaft des Kopfes
und dennoch: ein unermüdlicher Kopf, der das Glück beschreibt.

Wann sehen wir uns endlich wieder, Erich Arendt?
Welche Ordnung regelt unsre Treffen?
Gut zu wissen, daß Sie auch hier ein Zimmer haben −
aus machtlosen Worten; doch solide gebaut.

Michael Krüger

 

 

ERICH ARENDT – MAHNER ZUM TRAUM

Es gilt, Tribut zu zollen einem großen deutschen Dichter – dessen Namen hierzulande kaum einer kennt; es gilt, das sei eingestanden, auch persönlichen Dank abzustatten für eine Freundschaft, die ein Vierteljahrhundert währt. Die dem blutjungen Literaturstudenten entgegengebracht wurde von dem gerade aus dem Exil Heimgekehrten.
Es begann, fast möchte ich sagen: kaum zufällig, in einem Hafen – dem von Rostock. Von dort fuhren die Schiffe nach Hiddensee. Der 49jährige Erich Arendt war vor wenigen Monaten erst aus Kolumbien nach Deutschland zurückgekehrt, wir hatten einander gelegentlich in einem Verlagslektorat oder bei Veranstaltungen des Schriftstellerverbandes gesehen. Nun bat er mich, auf dem Wege nach Berlin, seiner Frau Katja in Klosters auf der Ostseeinsel Hiddensee versehentlich mitgenommene Schlüssel zu bringen. In einem bequemen, großzügig eingerichteten Haus öffnete eine Frau, deren große schwarze Augen unter einem Büschel von weißen Locken zugleich strahlen und skeptisch blicken konnten. So banal geht es manchmal zu: Sie hieß Katja Arendt, und sie sah aus wie eine Zwillingsschwester von Hannah Arendt.
Beide waren Boten aus einer anderen Welt. Sie lebten ein unbürgerliches Leben, sie waren „undeutsch“: vom Rotwein mit Käse zu Gershwin, von der indianischen Kunst an den Wänden zum selbstgemachten Konfekt, das Katja Arendt bis heute zu Weihnachten für ihre Freunde verschickt; denn vom Herstellen des Konfekts, das der deutsche Dichter hausierend verkaufen mußte, hatten sie in den Tropen gelebt – es war die verwirrende Mischung, die es einst nur in Berlin gegeben haben mag. Großbürgerliche Bildung, aber den Ideen des Sozialismus zugewandt, die intellektuelle Wachheit des jüdischen Bürgertums mit einer verwöhnten Kultur sogar des Geschmäcklerischen verbunden.
Für den grauen Osten, für den eben an der brävlich regulierten Humholdt-Universität Immatrikulierten, öffneten die beiden Arendts eine Welt. Die Nächte literarischer Diskussionen nahmen kein Ende, die erste Lorca-Lektüre oder Whitman-Sucht kam von ihnen; Abende mit Gustav Seitz oder Ernst Bloch, jungen Franzosen, Spaniern, von Katja Arendt mit Abendessen von vielen fremdartigen Gängen und vielerlei exotischem Gerät serviert, glichen Inseln im Meer der Fahnen, des Marschtrittsozialismus. Arendt hatte sein Fernweh, seine Liebe zu Farbe, Rhythmus, Form in die große Wohnung am Treptower Park eingebracht, hatte sie vollgestopft mit Büchern, Bildern, alten Gläsern, schönen Möbeln. Und mit Literatur – ihr lebte er. Vor Politik warnte er. Ein seltsames Erlebnis für mich, den politisierten jungen Menschen: der Spanienkämpfer, Emigrant und Nationalpreisträger empfahl den Rückzug vom Alltag. Er mahnte zum Traum. Sein Werk hat dessen Kraft. Arendt begann mit expressionistischen Gedichten, die von 1926 an in Herwarth Waldens Zeitschrift Sturm veröffentlicht wurden. Im selben Jahr trat er der KPD bei. Das Programm der Zeitschrift Sturm war aber alles andere als politisch; Walden selber proklamierte eine Erneuerung der Künste „von innen“, das „innere Gesicht“ und „Die Offenbarung“. Für ihn war Dichtung a-logisch:

Die Kunst und die Tatsache sind zwei Welten, die nichts miteinander zu tun haben… Es gibt keine Kunst für Stände und Klassen. Kunst kennt keinen Fortschritt, keine Entwicklung, Kunst ist Kunst. Fortschritt und Entwicklung werden durch Vergleich festgestellt, Kunst ist aber kein Vergleichen, Kunst ist Gleichnis. Kunst ist nicht Darstellung. Kunst ist Gestaltung.
Kunst ist nicht Aufnahme des Gegebenen, Kunst ist Aufnahme des Gebenden. Kunst ist Gabe und nicht Wiedergabe.

Arendt fand sich von Beginn an in einem typisch deutschen Dilemma: progressive Politik schloß progressive Kunst aus. In seinen frühen Arbeiten überwiegt die Gebärde des Anrufs; der Wortleib von Gedichten wie „Wir“ oder „Fremd“ aus den Jahren 1925 und 1926 besteht überwiegend aus Verben (und zwar oft in der Infinitivform) und dem Personalpronomen:

Schwingen Wehen Biegen Fliehen
Dich und Dich
und Dich.

Ein eher menschheitlicher Gestus als ein bündig-proletarischer. Der Bund Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller konnte diese lyrischen Versuche des neuen KP-Mitglieds nicht akzeptieren. Arendt war Mitglied dieser Schriftstellervereinigung und hatte, gemeinsam mit Kurt Huhn, die gegen die Linkskurve angelegte, links-radikale hektrographierte Zeitschrift Neukölln hungert herausgegeben. Eine vehemente Attacke Bechers brachte Arendt zum Schweigen. 1933 emigrierte er – zuerst in die italienische Schweiz, dann nach Spanien. Von 1936 bis 1939 nahm Arendt in der 27. katalanischen Division Carlos Marx am spanischen Bürgerkrieg teil. In diesen Jahren entstanden die Gedichte, die er 1959 in dem Band TRUG DOCH DIE NACHT DEN ALBATROS sammelte.
An diesen Gedichten ist bereits eine Besonderheit zu beobachten, die mehr und mehr typisch werden soll für Arendts Werk: Der graue, gelegentlich mediokre politische Kampf in Deutschland hat zu Oden im Stile Rilkes geführt (vor allem in den FLUG-ODEN, 1959, werden wir dieser Form wiederbegegnen). Die kriegerische, vielleicht manchmal pathetische Situation des Freiheitskampfes, der nicht in Kneipen und Hinterhöfen stattfand, sondern nahezu in einer Ur-Landschaft, läßt den deutschen Emigranten zum ersten Mal seine eigene Sprache finden: Archaische menschliche Situationen – Fischer, Bauer, Weberin – und ebenso fast-archaische, jedenfalls einsichtige Klassenstrukturen – Feudalaristokratie, Klerus, Militär – geben Erich Arendt zum ersten Mal die Sprache für das eigene politische Gedicht, Arendt versteht sich, wie sein Albatros-Gedicht zeigt, durchaus als ein nicht von ungefähr Getriebener und Verschlagener, aber er findet gleichzeitig seine eigene Möglichkeit der Realität und der Hoffnung, ja mehr noch, er schafft sich plötzlich eine eigene Tradition: Goya, Cervantes, Lorca. Aus Geschichte und Landschaft entsteht eine Dichtung deutlicher politischer Zielsetzung, eine Dichtung allerdings, in der sich Elemente von Drohung und Bedrohung mischen mit dem Bericht vom mysteriösen Geschehen, mit Klage also, die später seine Balladen auszeichnen wird: die Hände des Bauern, die die Guardia Civil auf einem Hauklotz abhieb, und die, zur Faust geballt an alle Scheiben blutig klopfen, oder die Haut des toten Negers, die dunkler wird und, wie der Abendhimmel überm Kral einst, violett scheint.
Typisch für die innere Situation Arendts ist dann das Wiederbegegnungs-Gedicht „Saragossa 1941“, weil es nicht nur die Bitterkeit der Niederlage in Spanien umgreift, sondern auch den Widerspruch zwischen erloschener und noch glimmender Hoffnung eines, dem dieser Kampf Hilfe war zu politischem Selbstverständnis; deswegen wird auch gegen hohlblickende Wände, fliehende Straßen, stummkauernde Bäuerinnen und den Wachschritt der Gendarmen die Hoffnung des Flusses gesetzt:

So steigt aus Todesdrohn und Furcht ins fahle
Gewölb der Nacht ein riesenhafter Rumpf:
die steinerne Gewalt der Kathedrale.
Und greise Uhren schlagen überm Dachfirst dumpf.
Der Ebro aber rauscht…

Nach dem Fall von Madrid flieht Arendt nach Paris, nach dem Fall von Paris kommt er in ein Lager bei Bordeaux, aus dem er fliehen kann. Bis 1941 lebt er illegal in Marseille. Dann kommt das ersehnte Visum – nach Kolumbien. Nach illegaler Fahrt durch Spanien (weil ab Marseille keine Schiffe mehr gehen) und einem halbjährigen Zwangsaufenthalt in Trinidad trifft er auf einem Kontinent ein, der nach jahrhundertelanger Vergewaltigung und Christianisierung noch immer im Zustand des Mythischen, Dumpfen und zugleich Grellen verharrt, in Lateinamerika. Diese landschaftlich wie politisch, in Moral wie in Kunst wie in den einfachen Lebensalltäglichkeiten fremde Wirklichkeit, die erst Stück für Stück angeeignet werden mußte, führt zu einer ganz neuen Periode in Arendts Lyrik. Aus einer Art literarischen Eroberung der Landschaft, gleichzeitiger Anverwandlung von Rhythmus und Musikalität der Folklore von Negern und Indios entsteht ein Surrealismus, der mit reinen Sprachbildern arbeitet und in dem auch die Form der Gedichte – nicht nur das Vokabular – der überwältigenden südamerikanischen Landschaft angepaßt ist. Das Wiegen der Palmen, der Schlag der sich vom Strand zurückziehender Wellen, die leisen Sohlen tanzender Neger, das alles ergibt eine neue, metaphernreiche Diktion. Immer aber versucht Arendt, der Landschaft Geschichte zu geben, das heißt, den Menschen einzubeziehen, ihn zum möglichen Sieger auszurufen über Kaktus und Felskarst und aschenes Land:

Aus Asche das leblose Land.
Sand.
Ein meergraues Aschenland.
Sprießt kein Halm in der Welt,
aber,
oben am Hang, ein Neger. Der hält
den hölzernen Pflug in der Hand.
Wägt
jede Scholle, die fällt!

Der kurze Anschluß durch ein aber (anderswo durch ein noch oder und oder bald) ist Kennzeichen der lyrischen Dialektik Arendts, dem in den kolumbianischen Jahren gelegentlich eine perfekte Mischung aus politischem Tanzlied und Ballade gelingt, in der Zeugung und Revolution zu sich paarenden Begriffen zusammengespannt werden.
1950 kehrt Arendt nach Deutschland zurück, nach Ostberlin. Mit 48 Jahren kann er seinen ersten Gedichtband publizieren. Doch diese ersten Bände, TRUG DIE NACHT DEN ALBATROS (1951) und BERGWINDBALLADE (1952) sind eine Art lyrische Bestandsaufnahme, fassen zusammen, was in den Jahren draußen entstand. Die Rückkehr muß gleichzeitig ein Schock gewesen sein: jahrelang veröffentlicht Arendt statt eigener Bücher Übersetzungen (Neruda, Guillén, Alberti, Cernuda, Aleixandre, Hernández). Die erste große Publikation GESANG DER SIEBEN INSELN (1957) verrät Nerudas Einfluß. Typisch ist auch, daß er wieder die Oden-Form aufnimmt; 1959 wird der schmale Band FLUG-ODEN verlegt, in dem noch einmal Hoffnung aufflammt; in der neunten von zehn Oden heißt es:

… – Aurora
kündete den gesetzlichen Tag,
eine Möglichkeit
dem Menschen.

Die Mittelachse des Bändchens FLUG-ODEN wird gebildet von vier Elegien. Arendts Wortmaterial verschattet, verdüstert sich, verkrustet gleichsam: Kummer und Stein, Blindheit und Leid, kalt und hohl, steingrau, erloschen, Schwermut, Tod und Vergeblichkeit. Arendts Identifikation mit Trauer wird vollständig.

Leer ist, von Dunkel gefegt,
die schwarze Tenne der Sterne.
Der Mund des Lichts
verschloß sich der Welt.

Es entstehen Gedichte, die wohl eine dritte, vielleicht letzte Phase in Arendts Werk ankündigen.
Die Möglichkeit der Ballade – des Erzählens von Zusammenhängen also – steht Arendt längst nicht mehr zur Verfügung.
Das Gedicht „Vor Tag“, aus den 1967 erschienenen Ägäis-Gedichten macht deutlich, wie erbarmungslos vereinzelt, ruf- und echolos Arendt den Menschen sieht, in unveränderliche, elementare Grundsituationen gebettet. Handlung ist nicht mehr Eingriff und Veränderung, sondern bereits unveränderlich, das Verb ist konsequenterweise zum Attribut deklassiert. In den ersten der vier Strophen sind alle vier Verben Partizipial-Konstruktionen, im emotionalen Wert Negativstellen, zwei davon sogar ent-Verben: ent-ronnen, ent-schwiegen. Felshaupt und Sternwind setzen den Grundakkord – Ferne, menschenlos, starr. Das sich Bewegende, die Flut, ist düster.
Dem entspricht der Beginn der zweiten Strophe, der durch die eigenwillige Kommasetzung fremd gemacht wird: ruft der Vogel fernab und einzeln, oder ruft das Dämmern? Der weitere Gang des Gedichts – der Beginn der dritten Strophe mit dem partnerlosen Du zeigt das – meint offenbar den Vogel, ein Lebewesen, einsam und echolos, das ins Nichts ruft, ins Dämmern, das durch den unvermittelten Bund augenlos, eher noch gestirnhafter, kälter, ferner wird. Die gravierenden, betonten, Bedeutung tragenden Worte der dritten Strophe sind: einzeln / dämmern / lautlos / meerschwarz / erloschen / steinern / alt / um in einem einzigen Binnenreim zu enden, der alle diese Begriffe zur Repitition verwirft: Nacht für Nacht. Das kommunikationslose Du der dritten Strophe, offenbar an sich selber gerichtet, betont nur die Vereinzelung, die Nicht-Erwartung nach dem Schlaf – denn was da kommen mag, ist von grauer Lippe gestreift, totenwabengleich.
Die vierte Strophe holt gleichsam die erste zurück: Bergrand und Morgeninsel entsprechen sich; Felshaupt und Sternwind haben in Muschel und Wehen ihre organische, elementare Entsprechung gefunden; und die düstere Flut – also dem unten – der der Mond entrann und entschwieg, wird noch einmal evoziert im atemlosen Unten, dem die Augen, die größeren Schatten, nah sind. Gerade dieses menschliche Attribut, Auge, wird in eine todesnahe Umgebung gebracht, jedenfalls bedrohlich eher als freundlich. Konsequenterweise wird auch hier wieder der Vogel noch einmal ausdrücklich einzeln benannt, mit der Augenmetaphorik in Verbindung gebracht. Grundtenor des Gedichts ist also das Unheimliche, Gnadenlose, Einsame, ist das Elementare, Unveränderliche, nicht Fortschreitende. Ist das Verharren in der Bedrohung. Das Gedicht aber heißt „Vor Tag“ – Morgendämmerung zu deutsch. Aurora, die Morgenröte, ist bei Erich Arendt schließlich kein hoffnungsvoller geschichtlicher Augenblick mehr – ein Gedichtzyklus, den er 1968 veröffentlichte, heißt „Von blinder zu blinder Luft geschliffen“.
Das Frappante nun: die Beschäftigung und fruchtbare Auseinandersetzung einer ganzen Generation junger Lyriker mit dem Werk Erich Arendts. Das kommt einer Neuentdeckung gleich man kann ohne Übertreibung sagen, daß Arendts Einfluß heute in der Lyrik der DDR stärker ist als der von Brecht. Der viele Jahre hindurch nicht einmal geschmähte, sondern ins Abseits des Ignoriertwerdens gedrängte extreme Wortbastler und ganz konsequent nur Formales geltend lassende Lyriker wird in Essays und Interpretationen, Interviews oder Rezensionen nahezu gepriesen. Als Friedrich Dieckmann 1973 in einer Attacke in Sinn und Form Arendt „Wort-Alchimie“, „Bildungsdichtung“ und „klaubenden Tiefsinn“ zur „Lyrik für die Besitzer alter dreißigbändiger Brockhäuser“ verdammte, stellte sich fast ausnahmslos die gesamte jüngere Autoren-Generation vor den Angegriffenen. Tatsächlich sind die lyrischen Arbeiten von Heinz Czechowski oder Sarah Kirsch oder Wulf Kirsten ohne Arendt Einfluß nicht mehr denkbar. Nicht, wie Dieckmann meinte, liegt hier ein Opus vor, „dazu bestimmt, die Germanisten des dritten Jahrtausend in Bewegung zu setzen“; vielmehr ein Lebenswerk, das spät und unerwartet intensiv Frucht trägt. Wo liegt das Faszinosum?
Arendts Kosmos ist geschichtslos; ja: geschichtspessimistisch. Der statische Duktus seiner Gedichte ist nicht preziöse Galanterie, sondern tief ernst gemeinte Resignation. Ist Credo – der Mensch ist einsam, auf sich gestellt in einem düsteren Koordinatensystem aus Eros und Tod, Trauer und Verfall. In einer über 20 Seiten langen, so luziden wie sorgfältigen Analyse von Arendts Gedicht „Steine von Chios“ hat Rüdiger Bernhard expressis verbis auf eben diesen Geschichtspessimismus hingewiesen. Und – hier liegt das Außergewöhnliche – auf mehr: das Entwicklungsabwehrende des Arendtschen Wortmaterials. Fels, Berg, Klippensturz, Säule, Steinlid, lichtversteint, felsgegürtet – ja, Stein bereits im Titel. Das bedeutet zweierlei: eine extreme Subjektbeziehung, und eine neue poetische Aktivierung des Mythos als beharrende Kraft gegenüber einem irgend vorhandenen geschichtlichen Fortschritt. Arendt selber hat auf fast brüskierende Weise in einem langen Interview sowohl den Vorwurf des Hermetischen als außerliterarische Kategorie abgewiesen „schnelles Verstehen, leichte Zugänglichkeit sind keine Kriterien gegen oder für ein Kunstwerk“ −, als auch seine Position unmittelbar markiert: „Die Innenbezogenheit ist ja letzten Endes das In-Erscheinung-Treten des lyrischen Ich in den Objekten, also im Gedicht.“ Dieses Ich aber forscht ausschließlich seine Leiderfahrungen, seine Schründe und Untiefen aus – nicht etwa die der Geschichte. Dichtung verlangt Mitleben sagt Arendt, und politische Ereignisse im Gedicht zu bannen, erfordert direkte Erfahrung, allein auf Zeitungsnotizen hin kann ich kein Gedicht schreiben.
Deshalb siedelt Arendt seine Subjektivität im mythischen Raum an, gibt ihr etwas zugleich Entblößtes wie Unentrinnbares. Das Titelgedicht seines Bandes FEUERHALM von 1973 beginnt mit den Zeilen:

Lavagesichtig die Leiber,
dünn, im Un-
fußbaren.

Und das Gedicht „Nachtfahrt“, durch seine Widmung als das Persönlichste, Bekenntnishafteste des Bandes bezeichnet, endet in der Schwärze:

Wie Wasser
und Sand ist
aaaaaaaaaadie Zukunft.

Die endgültige Starre des Individuums zeigt das schönste, ausgewogenste und bestürzendste Gedicht der Sammlung, dessen Landschaftsname knapp verbirgt, daß hier natürlich nicht Natur gemeint ist: „Famagusta“. Die Betonung tragenden Versformen heißen zerfallend, geköpft, versargen, verkommen; die gewichtigen Attribute heißen sonnenstarr, abgestreift, erstickt, tanznackt, hautfeil; die beiden scheinbar harmlosen Tätigkeitsbezeichnungen sind in desperatem Umfeld: „… schreibt mit lustlosen / Fingern des Winds / das Tote umher die graue Spinne ihr Fangnetz ziehend…;“ das Hauptwort in der Mitte des Gedichts, sein Schwebebalken gleichsam, heißt Verzweiflung; und sein Ausklang ist Ausblick ins Nichts: „… fahnenflüchtige Zeit“. Ein eigenartiges, partikelhaftes Rufzeichen ist übrigens Charakteristikum dieser Gedichte: genau 12 von den 36 tragen eine persönliche Widmung.
Die Kühnheit, Kunst als selbständig und der Geschichte gleichberechtigt gegenüberzustellen, ist ein explosives Novum in der Literatur der DDR; und das wird nicht etwa beiseite geschoben, sondern kreativ wie interpretatorisch aufgegriffen. Rüdiger Bernhardts Analyse stellt sachlich fest: Arendts Menschen bewohnen „eine Zeit ohne Götter und ohne Zwang, eine Zeit also, auf die keine historisch-materialistische Interpretation hinreichend Auskunft zu geben vermöchte.“ Der Mythos wird für Arendt zum Inbegriff menschlich-gesellschaftlicher Vollendung unter Ausschluß einer konkreten historischen Entwicklung. Deshalb steht der Mythos des Minos in Arendts Geschichtsbewußtsein ebenso außerhalb einer sich dialektisch vollziehenden Entwicklung, wie Arendts Vorstellungen von einem zukünftigen Mythos, der auf neuer Stufe jenen minoischen Mythos wiederholen soll. „Der Mythos trägt kaum Anzeichen einer Entwicklung in sich, sondern bedeutet statuarische Unveränderbarkeit, weil vollendete Schönheit“.

VOR TAG

Felshaupt und
Sternwind.
aaaaaaaaaGebrochen
das Weiße
am Bergrand von los. Kalt-
tönende Muschel, oben,
Schleier
aus Kalk.
aaaaaaaaMond,
entronnen, entschwiegen
dem Düster:
Flut

aaaFernab
der einzelne Vogel,
ruft
das weite Dämmern, augenbesät.
Lautlos sank es
hinab, meerschwarzes
Segel, himmel-
ab, wo unter
erloschenen Wassern
die steinerne Mühle
rädert,
aaaaadas alte Vergessen, so
Nacht für Nacht.

Zähle du, trag
− schweigender, kühl −
die Ernte vom Schlaf,
flüsternd schmale.
Bring sie ein
in den Tag. Von grauer
Lippe gestreift, zittert
das Ungeborene. Wie
Totenwabe, ins Ferne
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaspannend
die Fläche.

Unten, im Atemlosen
stehn
die Augen, die
größeren Schatten, nah.

Ruf
aaades einzelnen Vogels
vom Meer: Muschel
und Wehen! Die Morgeninsel,
felsgegürtet, im
Stygischen
aaaaaaaaaimmer.

 

Famagusta

In den Löwenkrallung
des Mauerrings
aaaaaaaaaaaaaStaubsäule und
aaaaaaaaaaaaasonnenstarr: so.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaazwischen Sand
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaFingern zerfallend,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadie Stadt.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaGassenleere.
Geköpft ist vor Sonnengang
den längst Entkernten
das Gebet.
aaaaIns kleine Werweißwohin
aaaaschleift sich
aaaader abgestreifte
aaaaHaß.
Ein Steinwurf
im Schatten nur (die
altersbraune Kinderhand) und
in Staub sinnt
aaaaschreit mit lustlosen
aaaaFingern des Winds
aaaadas Tote umher.
Dem Zerbeulten dem
Moder hervor
tritt, die Haut
zum Zerreißen,
aaaaProtest: die
aaaaSchwangerschwere.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaSie sah versargen…
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaUnd
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaunter den Mauern, fremd-
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaawaffenhörig, dem
letzten (keiner mehr weiß vom) erstickten
Schrei Desdemonas
aaaaaaaaadas Schleiern, tanz
aaaaaaaaanackt, die
aaaaaaaaahautfeile Verzweiflung.
Beim Löwenwechsel (jener in
Sumpflagunen
verkommen, der andre
krallengekappt) und weiter
aaaaaaaaaflaggt es:
aaaaaaaaadie graue Spinne
aaaaaaaaaihr Fangnetz ziehend,
aaaaaaaaadoch
über den Dächern
kein Schlaf mehr
der gedemütigte
Mond: die fahnenflüchtige Zeit.

Fritz J. Raddatz

 

 

 

Der zerstückte Traum. Für Erich Arendt zum 75. Geburtstag

Festschrift mit 87 belletristischen, literaturwissenschaftlichen und graphischen Beiträgen.

Darunter: Fritz J. Raddatz: E. A.: Mahner zum Traum; Bernd Jentzsch: Das Gedicht hinter dem Gedicht; Stefan H. Kaszynski: Strukturen und Erfahrungen im lyrischen Werk E. A.s; Helmut Lethen: Überlegungen zu Gedichten E. A.s; Ton Naaijkens: Vom Wunsch, der in den Zeichen spricht; Gerhard Wolf: Skizze für ein Porträt E. A.s; Yolanda Julia Broyles: E. A. und die lateinamerikanische Literatur; Carlfriedrich Claus: Subjektive Notizen zum Spätwerk E. A.s; Adolf Endler: Aus dem Tagebuch 1973 (Zu dem Gedichtband Feuerhalm); Hans-Jürgen Fröhlich: Inkognito in Italien; Stefan Haraszti: Erinnerungen an spanische Tage; Fritz Rudolf Fries: Gratulation; Tilo Medek: Brot unendlichen Verstehens; Martin Mooij: E. A. bei Poetry International; Manfred Schlösser: Gespräch mit Erich Arendt; Norbert Randow: Eine Beobachtung (über E. A. als Vortragender); Joachim von der Thüsen: Lederfaust und Hand. Der Kampf um die Einsetzung der Sinne in E. A.s Spaniengedichten. – Belletristische Beiträge von Rafael Alberti, Thomas Brasch, Volker Braun, Heinz Czechowski, Erich Fried, Sarah Kirsch, Karin Kiwus, Günter Kunert, Christoph Meckel, Ernst Meister, Heinz Piontek, David Rokeah u.a.

Die aus Anlaß des 75. Geburtstages Erich Arendts

herausgegebene Festschrift gliedert sich in vier Gruppen. Aus verschiedenen Blickrichtungen versuchen u.a. Bernd Jentzsch, Fritz J. Raddatz, Ton Naaijkens und Gerhard Wolf – Arendts Standort der Gegenwartsdichtung und der Entwicklung der ehemaligen DDR-Literatur auszumachen. Persönliche Erinnerungen an den Freund und Kollegen zeichnen Adolf Endler, Hans J. Fröhlich, Tilo Medek und viele andere auf, wobei der Eigenanteil des Autors Arendt in einem Gespräch mit dem Heausgeber Manfred Schlösser weitreichende Einblicke in das Schaffen eines typischen deutschen Emigrantenschicksals gewährt. Prosa und Gedichte stellten internationale Autoren zu Verfügung, so Rafael Alberti, Thomas Brasch, Volker Braun, Atanas Daltschew, Erich Fried, W.H. Fritz, Rolf Haufs, Sarah Kirsch, Karin Kiwus, Michael Krüger, Günter Kunert, Reinhard Lettau, Ernst Meister, u.a.

Agora Verlag, Ankündigung

 

Ein Buch ging um die Welt

Noble Gesten, gar der Grazie, verstecken sich in unserem hektischen Literaturbetrieb. So ist auch ein ganz ungewöhnliches Buch – kaum beachtet worden – eine Assemblee so disparater wie erlauchter Geister, die dem Grand Old Man der DDR-Lyrik, Erich Arendt, Tribut zollen in Wort und Bild: von Bernd Jentzsch zu Günter Grass, von Sarah Kirsch zu HAP Grieshaber, von Max Hoelzer zu Gisèle Celan, von Tilo Medek zu Heinz Trökes. Ein fürwahr europäisches Gedenk- und Huldigungsbuch – Erinnerungen, Interpretationen, Gedenken, Gruß und Gespräch von Kollegen rund um den Erdball, die den Vaganten Erich Arendt verehren, von ihm gelernt haben, ihre Arbeit mit der seinen in Bezug setzen.
Eine der liebenswerten Ideen der Herausgeber: sie haben 100 Exemplare der kleinen 1000er Auflage um die ganze Welt transportiert, ein volles Jahr lang, um alle Beiträger ihr Blatt signieren zu lassen. Kaum vorstellbar, wie das überhaupt praktisch-technisch zu bewerkstelligen war, ein Rundum-Versand von hundert Büchern an Erich Fried in London, an Rafael Alberti in Lateinamerika, an Elke Erb in Ostberlin, an Reinhard Lettau in Kalifornien, an Ernst Meister in Westdeutschland, an Jan Gielkens in Amsterdam: Rund um den Globus fuhr ein Buch, das allein auf diese Weise den Atem eines Dichters einfängt und bewahrt, der die Luft dieser Welt, die Farbe ihrer Meere, die Form ihres Gesteins, die Finsternis ihrer Himmel einspann in sein poetisches Werk wie kaum einer seiner Generation.

F.J.R., Die Zeit, 25.1.1980

 

 

Fakten und Vermutungen zu Manfred Schlösser

 

Fakten und Vermutungen zu Gregor Laschen + KLG + ArchivKalliope
Kalliope
shi 詩 yan 言 kou 口
Nachrufe auf Gregor Laschen: Tagesspiegel ✝︎ Badische Zeitung

 

Zum 50. Geburtstag von Erich Arendt:

Uwe Berger: Zwei Dichter unserer Zeit. Zum 50. Geburtstag von Peter Huchel und Erich Arendt
Aufbau, Heft 4, 1953

Zum 60. Geburtstag von Erich Arendt:

Helmut Ullrich: Lobpreis irdischer Schönheit. Zum 60. Geburtstag des Schriftstellers Erich Arendt
Neue Zeit, 13.4.1963

Georg Maurer: Erich Arendt zu seinem 60. Geburtstag
Sonntag, 15.4.1963
Nachgedruckt in: G. M., Essay I. Halle: Mitteldeutscher Verlag 1968

Zum 65. Geburtstag von Erich Arendt:

Günther Deicke: Dichter und Weltfahrer. Erich Arendt zum 65. Geburtstag
Berliner Zeitung, 16.4.1968

Elke Erb: Erich Arendt zum 65. Geburtstag
Sonntag Nr. 16, 1968

Zum 70. Geburtstag von Erich Arendt:

Günther Deicke: Poetische Sprache unserer Solidarität. Erich Arendt zum 70. Geburtstag
Neues Deutschland, 15.4.1973

Günter Gerstmann: Der geistigen Welt der Väter verpflichtet
Neue Zeit, 15.4.1973

Hinstorff gratuliert seinem Autor Erich Arendt zum 70. Geburtstag
trajekt 7, VEB Hinstorff Verlag, 1973

Zum 75. Geburtstag von Erich Arendt:

J(ürgen) Sch(midt): Ein lähmendes Gefühl ist das. Dem Dichter und Übersetzer Erich Arendt, fünfundsiebzig Jahre alt, zu Ehren
Stuttgarter Zeitung, 16.9.1978

Gregor Laschen/Manfred Schlösser (Hg.): Der zerstückte Traum. Für Erich Arendt zum 75. Geburtstag
Agora, 1978

H. U.: Kunde von Siegen und Niederlagen durch die Poesie
Neue Zeit, 15.4.1978

Zum 80. Geburtstag von Erich Arendt:

Hubert Witt: Der flutharte Traum. Erich Arendt zum 80. Geburtstag
Sinn und Form, Heft 2, 1983

Hans Marquardt/Hubert Witt: Himmel und Erde. Erich Arendt zum 80. Geburtstag
Sonntag, 17.4.1983

Zum 85. Geburtstag von Erich Arendt:

Uta Kolbow: In Raum und Zeit
Berliner Zeitung, 15.4.1988

Zum 100. Geburtstag von Erich Arendt:

Uwe Grüning: Erinnerungen an Erich Arendt
Ostragehege, Heft 30, II/2003

Fakten und Vermutungen zu Erich Arendt + Archiv 12 + KLG +
UeLEXKalliope
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum +
Brigitte Friedrich Autorenfotos
Nachrufe auf Erich Arendt: Grabrede ✝ Neue Zeit ✝ ndl ✝
Neues Deutschland ✝ LITFASS ✝ Sinn und Form

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00