Günter Bruno Fuchs und Klaus-Dieter Schlüer: Zu Günter Bruno Fuchs’ Gedicht „Geschichtenerzählen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Günter Bruno Fuchs’ Gedicht „Geschichtenerzählen“ aus dem Band Günter Bruno Fuchs: Brevier eines Degenschluckers. –

 

 

 

 

GÜNTER BRUNO FUCHS

Geschichtenerzählen

Gestern sah ich
einen hohen Offizier
auf einen Baum steigen –
da wußte ich: die Militärs
bemühen sich um gute Aussicht.

Heute früh
sah ich drei grüne Fische
teppichklopfen –
da wußte ich: wer sich über den Anblick
teppichklopfender Fische
nicht verwundert,
hält diesen Anblick entweder für möglich
oder hat ihn gar nicht zu Gesicht bekommen.

Vorhin sah ich drei Telefonzellen
über den Ozean schwimmen –
da wußte ich: eine Nachricht aus Übersee
wird dich erreichen.

Nun, wie gefällt Ihnen das?

Bitte bitte, hören Sie auf! –
Ich glaube,
Sie erzählen mir da lauter Geschichten.

 

Günter Bruno Fuchs: Geschichtenerzählen

Dieses Gedicht wirkt reichlich albern. Ich vermute, es hat einen albernen Menschen zum Verfasser. Oder einen Trinker. Meine Vermutungen können mich und andere täuschen, deshalb interessiert uns nicht der Zustand des Verfassers, sondern der des Gedichts. Also wiederhole ich gern den ersten Satz: Dieses Gedicht wirkt reichlich albern. Und setze hinzu: auf mich.
Schuld daran ist ein gewisses Gekicher, das gleich zu Beginn laut wird. Die Vorstellung nämlich, ein Offizier (höheren oder niederen Rangs) erklimme einen Baum, zeugt von Unkenntnis. Natürlich, das Bild ist erheiternd: Ich zum Beispiel sehe den einfachen Bundesbürger in Uniform, wie er den Baumstamm umklammert, wie er hinaufblickt zum Wipfel, dem er die Ruh stehlen wird, aber soll denn hier gleichzeitig anklingen, der gebildete Offizier unserer Tage habe es nötig, einen Baum zu besteigen? Habe es nötig, sich solcher Bemühung zu unterziehen? Einer Bemühung um gute Aussicht gar, bei der immerhin die Nähte seines Ehrenkleids krachen könnten? Ich finde, die ersten fünf Zeilen des Gedichts geben so etwas wie die Meinung des Verfassers wieder, ja, mir scheint sogar, er mag es nicht: das Militär schlechthin, gleich welcher Nation und Herkunft.
Noch ein Wort dazu: Hätte ich nicht selber beim Anlesen des Gedichts herzhaft lachen müssen – teils wegen der Bildkomik, teils über das (wie ich anfangs dachte) naive Talent des Verfassers, seine Umwelt zu konterfeien –, wäre ich also zugegebenermaßen nicht entzückt von der launigen Szene des baumbesteigenden Offiziers, so müßte ich die ganze erste ,Geschichte‘, die hier beim Geschichtenerzählen erzählt wird, für pure Veräppelung des Soldatenstandes halten.
Was aber wird weiter erzählt? Ich möchte zunächst sagen: Die beiden nachfolgenden ,Geschichten‘ sind Musterbeispiele schlüssiger Trinkerlogik. Wie verrückt die Sache auch sei, wer will schon etwas einwenden gegen die Folgerung, daß drei teppichklopfende, grüne Fische (Heringe? Anspielung auf die beliebte Katermahlzeit?) gemeinsam einen Anblick abgeben, über den man sich nicht zu verwundern braucht, sofern man ihn, diesen Anblick, entweder für möglich hält oder ihn gar nicht zu Gesicht bekommen hat. Doch hier (anders als bei der ersten ,Geschichte‘) gerate ich bereits in ernsthafte Zweifel, ob die drolligen Fische allein aus einer Lust am schönen Humbug ins Bild gesetzt wurden.
Sind diese grünen Teppichklopfer nicht eher vermummte, verwunschene Hausfrauen, die jeden Freitagmorgen in den Höfen der Großstädte mit der Säuberung ihrer Läufer, Brücken, Bett- und Klosettumrandungen beginnen? Allzu leicht könnte man aus dem einleitenden Passus „Heute früh / sah ich“ (mit dem Einschiebsel ,Heute früh / am Freitagmorgen / sah ich‘) auf eine geradezu perfide Umkehrung alltäglicher Geschehnisse schließen, will sagen: Bisher hat sich niemand verwundert über den Anblick teppichklopfender Hausfrauen – nun aber, irgendwann Freitag früh, werden die Rollen vertauscht: die Fische, die sonst am Freitagmorgen in der Pfanne brutzeln, steigen in den Hof hinunter und übernehmen das Teppichklopfen, während oben, in der Küche, die Hausfrauen gesotten werden.
Gewiß, diese Auslegung mag überspitzt sein. Tatsache bleibt: Sie wurde angeregt durch den vorliegenden Text. Demnach gibt dieses Gedicht, das (wie ich eingangs sagte) reichlich albern auf mich wirkt, eine erschreckend gegenteilige Dimension frei: aus vermeintlicher Trinkerlogik, die den Leser hell auflachen läßt, indem er drei allerliebste Fische in ungewohnter Umgebung erblickt, entpuppt sich der gallige Unmut des Verfassers, der (im Sinne meiner fiktiven, aber plausiblen Darstellung) wütend eingenommen ist gegen das gewohnheitsmäßige, freitagliche Dreschen und Bürsten. Ich fürchte, diese zweite ,Geschichte‘ will eindeutig als Ergänzung zur ersten verstanden sein. Das destruktive Ergebnis beider Teile lautet also: Gewohnheitsmäßige Handlungen bieten beste Aussichten für Militärs. (Ich muß hier etwas einfügen. Der sattsame Leser wird nur selten imstande sein, ein Gedicht in ähnlicher Weise zu interpretieren. Ein Gedicht wie dieses verweilt für ihn in vordergründiger Albernheit. Es wird ihm nichts anhaben. Es sei denn, der Leser geht den schwierigen Weg des Kritikers. Mit anderen Worten und damit in eigener Sache: Nur der erfahrene, geübte Kritiker kennt die gezinkten Karten und versteht sie aufzudecken. Er ist es, der den Hintergrund erreicht, wo die Absichten bestimmter Verfasser auf der Lauer liegen. Man wird mich gleich verstehen. Wenden wir uns der dritten und letzten ,Geschichte‘ zu!)
Das bestürzende Bild schwimmender Telefonzellen trieb mir beim ersten Lesen wahre Lachtränen ins Auge. Später, beim zusammenhangvollen Durchdringen des Ganzen, standen mir die Haare zu Berge. Man denke: dieser Zustand, ausgelöst durch das abgefeimte Vexierspiel weniger Zeilen, ausgelöst durch ein Gedicht! – Es hatte mich in die Falle gelockt, hatte mich schmunzeln und kichern lassen, hatte mir ,Geschichten‘ erzählt, wie sie betrunkener nicht sein konnten, und jetzt fragte es mich: „Nun, wie gefällt Ihnen das?“ Jetzt endlich wollte es mich ins Bockshorn jagen, wollte mich überlisten, als hätte ich nicht verstanden, wie sein „Geschichtenerzählen“ gemeint war, jetzt also legte es mir die Worte seiner eigenen Schlußzeilen in den Mund, damit ich es sage, damit ich es bin, der ihm zuruft:

Bitte bitte, hören Sie auf! –
Ich glaube,
Sie erzählen mir da lauter Geschichten.

Seine Absicht schlug fehl. Ginge es hier nicht um die sachliche Auseinandersetzung mit einem Text, ich könnte ehrlich sagen: Gott sei Dank! So sehr hat es mich geäfft. Bis zum Schluß. Bis zu den drei Telefonzellen, die über den Ozean schwimmen. Als hätten noch Zweifel bestanden, daß es sich hier nicht um drei Telefonzellen, sondern um jene drei grünen Fische handelt, die nach vollzogener Teppichklopf-Arbeit unseren Kontinent verlassen und das Lob ihrer Leistung nach Übersee tragen, von wo aus die Nachricht zu uns kommen wird; Auch dort ist’s an der Zeit, mit der alten Gewohnheit zu brechen!
Und dieser tückische Höhepunkt in einem Gedicht, das ganz und gar mißverstanden werden kann! Denn es wirkt reichlich albern. Und so, als hätte es einen albernen Menschen zum Verfasser. Oder einen Trinker. (Leichtsinnige im Urteil, lest meinen Aufsatz!)

Günter Bruno Fuchs, aus: Hilde Domin (Hrsg.): Das zeitgenössische deutsche Gedicht zwischen Autor und Leser, Fischer Taschenbuch Verlag, 1976

Günter Bruno Fuchs: Geschichtenerzählen

Das letzte Wort des Gedichts weist auf seine Überschrift: Fand der Infinitiv „Geschichten erzählen“ in „lauter Geschichten“ sein Definitivum? Die Symmetrien des Gedichts scheinen darauf angelegt, die Frage offenzuhalten.
Wenn in den drei ersten, augenfällig gleichgebauten Abschnitten ein Gedankenstrich jeweils die mit „[…] sah ich“ eingeleitete Hälfte von der mit „da wußte ich“ angeschlossenen abhebt, so fungiert er an dieser Grenze zwischen Sehen und Wissen allenfalls als Schlagbaum, garantiert aber, wenn es erlaubt ist, im Bilde zu bleiben, keineswegs konstante Zollvereinbarungen. Die konstanten Formen dieser Abschnitte demonstrieren vielmehr die Diskontinuität der Relationen von Sehen und Wissen, von Bild und Bedeutung: Der verbürgende Sprachgestus, für den jene Formeln Modell stehen, wird ad absurdum geführt zugunsten einer Geschichte vom Geschichtenerzählen, die die Entscheidung, ob „lauter Geschichten“ lauter Geschichten sind, dem Leser zuspielt.

Gestern sah ich
einen hohen Offizier
auf einen Baum steigen –

So könnte beinahe beginnen, was man eine wahre Geschichte nennt. Beinahe – denn auch wer diesen Anblick für möglich hält, dürfte ihn kaum je zu Gesicht bekommen: Bäumeklettern ist – „gestern“ kaum anders als heute – Rekrutensache. Dieser Einwand trifft die Wahrscheinlichkeit des Anblicks, keineswegs die Wahrheit einer ,Geschichte‘. die nur zur einen Hälfte gesehen, zur anderen aber gewußt wird: Der Satz „die Militärs / bemühen sich um gute Aussicht“ hätte allenfalls den Charme einer zeitlosen Wahrheit, zöge er nicht aus der leichten Verrückung jenes geläufigen Anblicks die Nahrung einer aggressiven Pointe.
Der zweite Abschnitt verweigert analoge Relationen:

Heute früh
sah ich drei grüne Fische
teppichklopfen –

Dem Sprung vom Unwahrscheinlichen ins Unmögliche, wie er im Sprung von der ersten in die zweite Zeile effektsicher vollführt wird, durch einen entsprechenden Sprung auf die Ebene übertragener Bedeutungen, welcher auch immer, zu begegnen, bleibt vergeblich. Das demonstrative Wort „Anblick“ in der nächsten Zeile blockiert solch Manöver. Was der Geschichtenerzähler „sah“, heischt Objektivität. Freilich bedarf er zu ihrer Beglaubigung einer indirekten Denunziation des Lesers:

wer sich über den Anblick
teppichklopfender Fische
nicht verwundert,
hält diesen Anblick entweder nur möglich
oder hat ihn gar nicht zu Gesicht bekommen.

Die Paradoxie dieses Satzes scheint zu postulieren: Gerade weil dieser Anblick als Anblick nicht für möglich gehalten werden kann, muß man ihn zu Gesicht bekommen. Objektivität des Anblicks und Subjektivität des Gesichts wären, wo das gelänge, eine ästhetische Synthesis eingegangen. Indem der Geschichtenerzähler sein Nonsensbild aber als Anblick ,wußte‘, borgte er vom Ansehen des Objektiven einen Anspruch, dem das Bild selbst nicht genügt. Jenes Verwundern, dem Wirklichkeit und Möglichkeit, Subjekt und Objekt ganz neu sich begrenzen müßten, manifestiert sich unausgesprochen als Postulat. Das Bild figuriert indirekt als Exempel seiner eigenen Ohnmacht: Seine Austauschbarkeit an dieser Stelle verweist auf die Beliebigkeit seiner Erfindung; auch skilaufende Hasen zum Beispiel könnten jenem wissenden und darin ebenso hilflosen wie anspruchsvollen Satz zum Anlaß dienen.
So wird der Leser angesichts der Telefonzellen, die – im dritten Abschnitt – über den Ozean schwimmen, sich kaum mehr fragen, ob er diesen Anblick für möglich halte oder ihn gar zu Gesicht bekommen habe, und die Entscheidung, ob mit dem Satz „eine Nachricht aus Übersee / wird dich erreichen“ eine Erwartung, eine Verheißung oder eine Gewißheit ausgesprochen sei, dem überlassen, der es ,wußte‘, als er ihm einen Adressaten gab. Die Dreizahl der Telefonzellen mag sich – wie vielleicht auch die Dreizahl der Fische? – auf die drei Geschichten beziehen, deren „Nachricht“ nur eine sein mag, kurz: Der im ersten Abschnitt vorgeführten Verknüpfung von Bild und Bedeutung entspricht folgerichtig nach Abschnitt zwei – hier die Demonstration ihrer Beliebigkeit.
„Nun, wie gefällt Ihnen das?“ In diesem saloppen Wechsel der Sprechhaltung beweist der Erzähler Souveränität und Konsequenz zugleich: Im neutralisierenden „das“ pauschal gefaßt, wird alles Vorgeführte dem Urteil eines unvermutet angeredeten Lesers preisgegeben; unvermutet, doch nicht unvermittelt: Die Sequenz der Geschichten gibt nur der Konsequenz ihrer Vorzeichen „Gestern“, „Heute früh“, „Vorhin“ statt, wenn sie im „Nun“ der Anrede auf die Gegenwart des Lesers stößt, die im Futurum der voraufgegangenen Zeile schon übersprungen schien zugunsten eines Nonsensmonologs. Freilich, auch der fiktive Leser überspringt den wirklichen, indes, so scheint’s, zu seinen Gunsten: „Bitte bitte, hören Sie auf! –“ Das hilft seiner Spontaneität auf die Beine und entlastet von unartikuliertem Mißbehagen. Nicht von ungefähr weist der Gedankenstrich, dem oben dreimal „da wußte ich“ folgte, hier auf das augenzwinkernde Sätzchen vor: „Ich glaube / Sie erzählen mir da lauter Geschichten.“ Die Gewißheit, daß anderes nicht erzählt sei, könnte sich unterboten finden durch die lächelnde Fiktion „Ich glaube“ –, die Erwartung wahrer Geschichten aber, die so leicht für banausisch gilt, sich gleichsam posthum ein Herz fassen. Wie auch immer: Der kleine Satz verwehrt der Scheidung von Geschichten in ,wahre‘ und in „lauter Geschichten“, und nicht nur dieser, die bodenständige Entschiedenheit und erscheint so als Platzhalter jenes Verwunderns, das Geschichten vernehmen könnte, die nichts sind als dieses.

Klaus-Dieter Schlüer, aus: Hilde Domin (Hrsg.): Das zeitgenössische deutsche Gedicht zwischen Autor und Leser, Fischer Taschenbuch Verlag, 1976

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00