Günter Herburger: Kinderreich Passmoré

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Günter Herburger: Kinderreich Passmoré

Herburger-Kinderreich Passmoré

DAS SIEB DES ERATOSTHENES

Genannt der Afrikaner;
war dort aufgewachsen
und versteckte sich hinter einem Bart,
da er nie Grieche
hatte werden können,
vielmehr Sklave blieb
gleich einem Bogenschützen.

Zuerst schrieb er Liebesreime,
dann erfand er die Verdopplung des Würfels
und zerkratzte Wachstäfelchen
auf denen sein Quadrat entstand
mit der Horizontalen eins bis zehn.

Was hatte dieser Riese
mit Ziegen zu tun, ihrem Geruch
und einer Form von Nahrung
wie geschlachtetes Schwein am Bett
nach Fron und Heuschrecken?

Er teilte Zahlen dafür,
ob sie glücklich wären,
und entdeckte den Garten der Prim,
die Staketenblüten.
Erst heute
wandern wieder Jünger vorüber
und loben ihn.

Als die Bibliothekstürme
auf den Molen Alexandrias
noch nicht brannten,
prophezeite er
die scharfe Ekliptik des Erdballs,
berechnete den Umfang der Welt
und malte deren Landmassen, Meere,
Götter und Ökumene
an Erzen, Schiffahrtslinien und Netzkarten.

Wie er starb,
unbekannt.
Vielleicht trennte er seinen Puls
in einem warmen Bad auf.
Jedenfalls seufzen wir,
meine Tochter und ich,
mitunter schmerzhaft,
wenn sie in der Wanne sitzt
und ich ihre Haare löse.

Sterbende,
hat er gesagt,
seien ein Bett aus Nugat,
gläubig auf den Dielen.

 

 

 

Kinderreich Passmoré

ist Günter Herburgers siebter Gedichtband. Mehr noch als früher hat sich Herburger in diesen Gedichten aus den letzten vier Jahren einem Thema zugewandt: der Zeit. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden mit naturwissenschaftlichem, sozialem, biographischem und autobiographischem Blick gesehen. Selbstverständlich ist damit vom Tod – offen oder verdeckt – die Rede. In knappen, verschlüsselten und ausgreifenden spekulativen Versen bemüht sich Herburger, dieses in die Intensivstationen der Krankenhäuser abgeschobene Ereignis mit neuen Vorstellungen zu füllen. Er weigert sich, sein Begehren nach Sinn mit dem Ende der leiblichen Existenz abreißen zu lassen. Ist der Mensch biologisch ein Irrläufer, sein Bewußtsein ein Zufall? Diese Fragen stellen sich Herburger besonders schneidend in Deutschland. Von der Verantwortung für die Vernichtung der Juden will er niemanden freisprechen. Die Zukunft – das sind die Kinder. Ihre geringe Erfahrung ist ihr Vorteil. Sie stehen der Natur näher, sind gefühlvoll, eigensinnig und gerecht. Von diesen Stärken können die Erwachsenen lernen. Wie auch in den Bänden zuvor nutzt Günter Herburger das Gedicht, um Schlüsselszenen aus dem Schlußband seiner Thuja-Trilogie zu erproben: Angela und David, zwei behinderte Kinder, werden dort die Hauptrolle spielen.

Hermann Luchterhand Verlag, Klappentext, 1986

 

Günter Herburger: Kinderreich Passmoré

Mit Kinderreich Passmoré legt Günter Herburger seinen siebten Gedichtband vor. Der Band enthält siebenundsechzig meist längere Gedichte aus den letzten vier Jahren und ist, wie sich erst nach mehrfacher Lektüre der größtenteils verschlüsselten Verse herausstellt, dem Thema der Zeit gewidmet. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft melden sich gewissermaßen zwischen den Zeilen. So werden aus ständig wechselnder (geschichtlicher, naturwissenschaftlicher und autobiographischer) Perspektive historische Fakten, Mutmaßungen und persönliche Erlebnisse zu einem lyrischen Ganzen zusammengefügt. Letzteres zeigt sich beispielsweise besonders deutlich in einem verhältnismäßig einfachen Gedicht wie „Das Sieb des Eratosthenes“, in dem von den geologischen und astronomischen Untersuchungen des griechischen Gelehrten Eratosthenes (284–204 v.Chr.) berichtet und auf seine Tätigkeit als Bibliothekar, sowie auf seine Lyrik angespielt wird:

Als die Bibliothekstürme
auf den Molen Alexandrias
noch nicht brannten,
prophezeite er
die schiefe Ekliptik des Erdballs,
berechnete den Umfang der Welt
und malte deren Landmassen, Meere,
Götter und Ökumene
an Erzen, Schiffahrtslinien und Netzkarten.

Wie er starb,
unbekannt.

Vielleicht trennte er seinen Puls
in einem warmen Bad auf.
Jedenfalls seufzen wir,
meine Tochter und ich,
mitunter schmerzhaft,
wenn sie in der Wanne sitzt
und ich ihre Haare löse.

Sterbende,
hat er gesagt,
seien ein Bett aus Nugat,
gläubig auf den Dielen.

In anderen Gedichten sind Kindheitsreminiszenzen oder Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und die Judenverfolgung enthalten, wobei es wiederum auffällt, daß die Fäden der Vergangenheit und der Gegenwart gewissermaßen synkretistisch miteinander verbunden sind. Sie bilden ein unentwirrbares Geflecht aus historischen Fakten, persönlichen Betrachtungen, Erlebnissen und sinnlichen Eindrücken, und zwar mittels einer Metaphorik, die insgesamt gleichsam eine gewisse, doch nicht näher bestimmte Atmosphäre einer Landschaft evoziert. Im Hinblick auf den Titel des Bandes kann man diese ,innere‘ Landschaft als das „Kinderreich“ bezeichnen. Gemeint ist die Erfahrungswelt der Kinder, deren Aufrichtigkeit und gefühlvoller Umgang mit der Natur und der Umgebung den Erwachsenen verlorengegangen ist. Dabei soll sofort angemerkt werden, daß Herburger das „Kinderreich“ keineswegs romantisiert. Mit knappen, manchmal lakonischen Versen skizziert er die Erfahrungen, Fragen, Ängste und Erwartungen des Kindes, wie z.B. aus dem Gedicht „Harmonie und Wut“, das zu den besten Gedichten dieses zwar nicht außerordentlichen, doch immerhin lesenswerten Gedichtbandes gehört, hervorgeht:

Sie fragte,
noch vorhanden,
wo Gott sei,
wenn sie sich bekreuzige,
ihre Seele, ihre Liebe, ihre Wut
hörten ihn,
ihr Erwachsenen
ohne Knopf,
die ihr euch über alles neigt
wie schon da.
Vater, Mutter, Kind hatten,
erklärte sie,
bekommen die Todesspritze

Paul Sars, Deutsche Bücher, Heft 4, 1986

 

 

 

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Dietmar Dath: Schritt für Schrift
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.4.2012

Detlef Kuhlmann: Schriftsteller und Langstreckenläufer…
germanroadraces.de, 8.4.2012

Konstantin Ulmer: Der ewige Vagabund
der Freitag, 6.4.2012

Michael Buselmeier: Mein Brieffreund und ich
Der Tagesspiegel, 5.4.2012

Nachrufe auf Günter Herburger: PNN ✝︎ nd ✝︎ Zeit ✝︎ NZZ ✝︎ SD ✝︎ FAZ ✝︎
junge Welt ✝︎ schwäbische ✝︎ Sinn & Form ✝︎

 

 

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Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Hinundherburger“.

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