Günter Kunert: Zu Ernst Blass’ Gedicht „Kreuzberg“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ernst Blass’ Gedicht „Kreuzberg“ aus Ernst Blass: Die Straßen komme ich entlanggeweht. –

 

 

 

 

ERNST BLASS

Kreuzberg

Blaßmond hat Hall und Dinge grau geschminkt.
Das Wundern lernte selbst der karge Greis,
Der unten, auf der Bank, im engsten Kreis
Vor sich den mageren Spazierstock schwingt.

Da liegt die große Stadt: schwer, grau und weiß.
Ein Rauchen, Greifen, Atmen, daß es stinkt.
Eh sie dem heil’gen Tag das Dunkle wild entringt,
Erwachen Nerventräume, blaß und heiß.

Fort mit dem süßen Blick! Fort mit dem Kusse!
Hörst du die roten Nacht- und Not-Alarme?
Die heißen, blassen Träume sind verstreut.

Mir stehen riesige, liebes-, hasseswarme
Gebäude zu durchwandern weit bereit.
Da unten rollen meine Autobusse!

 

Verkapptes Geständnis

Wollte man ein Stadtgedicht wie dieses Sonett von Ernst Blass als topographische Information werten und benutzen, man stünde wohl ziemlich befremdet in jenem Berliner Bezirk, den der Titel nennt. Und das nicht erst seit den schweren Zerstörungen durch Luftangriffe, Sanierung, Mauerbau. Für den Dichter, der, erst neunundvierzigjährig, vor Beginn des Zweiten Weltkrieges starb, bot die Örtlichkeit nur den äußeren Anlaß für eine ungewöhnliche Selbstbekundung.
Hinweise auf eine faktische Realität erscheinen nur indirekt, und zwar in Form einer unpräzisen Höhenangabe. Zweimal heißt es im Text „unten“, was auf eine herausragende Plazierung, etwa auf dem Kreuzberg (66 Meter über Meereshöhe) selber, schließen läßt. Das scheint der „karge Greis“ auf der Bank, die natürlich zum Park gehört, zu bestätigen. Der Dichter befindet sich über der Stadt und damit in einer Position, welche unbewußt und nahezu zwangsläufig ein Empfinden von Omnipotenz hervorruft.
Solche Veränderung des Blickwinkels läßt, im Gegensatz zur eigenen, „herausragenden“ Person, was fern unter einem liegt, eigenartigerweise greifbarer erscheinen. Die sonst unübersichtliche, chaotische Anhäufung vereinheitlicht sich durch den Perspektivenwechsel und, Paradoxon von physischer und psychischer Wahrnehmung, rückt einem dadurch näher. Just diesen Umstand erlebte Ernst Blass, der seine eigene Verwunderung auf den pythagoreisch den Stock im Kreise schwingenden Greis überträgt. Die Stadt wird zum Körper verlebendigt, befähigt zum „Rauchen, Greifen, Atmen“. Und sie, die so undeutlich Personifizierte, die dem „heil’gen Tag das Dunkle wild entringt“, übt eine ganz besondere Wirkung auf den Dichter aus: nämlich eine erotische, die das Gedicht selbst zu einem Mittel der Kopulation macht.
Kaum Zufall, daß der Autor sich dreimal namentlich in das Gedicht einbringt; könnte man noch den „Blaßmond“ für eine metaphorische Erfindung halten, die „Nerventräume“ jedoch, die sich nur als leibhaftige Veranschaulichung eines Erregungszustandes verstehen lassen, bekommen durch die wiederholten Adjektive „heiß“ und „blaß“ den entsprechenden Geständnischarakter. Denn im Kanon einer noch puritanisch gehemmten Literatur sind „heiße Träume“ ein absolut eindeutiges Zeichen.
Sie entgegen der Wirklichkeitserfahrung und ihrer üblichen literarischen Beschreibung als „blaß“ zu bezeichnen, wirkt wie eine Selbstentblößung. Indem der Dichter seine sexuellen Phantasien mit seinem Namen ausstattet, weist er auf ihre und seine Besonderheit hin. Und weil die Wortwahl in einem Gedicht niemals nebensächlich ist, gibt eine folgende weiteren Aufschluß:

Die heißen, blassen Träume sind verstreut.

Ein Verb, das nur auf Gegenständliches zutrifft, und zwar auf etwas in sich schon Unterteiltes: „Träume“ zu verstreuen bezeichnet einen äußerlichen und konkreten Vorgang, der im Rahmen des Gedichts nur ziemlich eindeutig assoziiert werden kann, noch dazu, da vorher vom „süßen Blick“, vom „Kusse“ die Rede war, ohne daß Blick wie Kuß eine klare Zuordnung erfahren hatten.
Aus dem Einsgewordensein mit der Stadt reißt den Träumer die Feuerwehr oder der Unfallwagen, doch bleibt zum Trost die Wiederholbarkeit:

Mir stehen riesige, liebes-, hasseswarme
Gebäude zu durchwandern weit bereit.

Die Großstadt als Verkörperung des Weiblichen, Identität von Frau und Ortschaft, ein Topos des neunzehnten Jahrhunderts, da der Metropole die Eigenschaften der femme fatale zugeschrieben wurden: anziehend, verlockend, verdorben und verderbenbringend.
Ernst Blass muß noch etwas von diesem Stadtverständnis gehabt haben, um aus solcher luftigen Beziehung das Feuer der Poesie schlagen zu können. Während in der früheren, etwa der Baudelaireschen Großstadt-Dichtung immerhin noch eine tragische Komponente merkbar ist, endet dieses Gedicht prosaisch:

Da unten rollen meine Autobusse.

Der Dichter wird sich heimbegeben, um von seinem fiktiven Abenteuer mit der Berolina auszuruhen.

Günter Kunertaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Elfter Band, Insel Verlag, 1988

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00