Günter Kunert: Zu Georg Trakls Gedicht „Im Osten“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Georg Trakls Gedicht „Im Osten“ aus Georg Trakls: Die Dichtungen. –

 

 

 

 

GEORG TRAKL

Im Osten

Den wilden Orgeln des Wintersturms
Gleicht des Volkes finstrer Zorn,
Die purpurne Woge der Schlacht,
Entlaubter Sterne.

Mit zerbrochnen Brauen, silbernen Armen
Winkt sterbenden Soldaten die Nacht.
Im Schatten der herbstlichen Esche
Seufzen die Geister der Erschlagenen.

Dornige Wildnis umgürtet die Stadt.
Von blutenden Stufen jagt der Mond
Die erschrockenen Frauen.
Wilde Wölfe brachen durchs Tor.

 

Sich der Hölle entziehen

Mit dem Jahr 1914 endet mehr als eine Epoche und beginnt mehr als eine technologisch bestimmte Moderne. Die Metapher „In Europa gingen die Lichter aus…“ benennt etwas hilflos und diffus einen unerhörten historischen Bruch. Vordem schon warf das kommende Unheil seine Schatten voraus. Insbesondere die Künstler des literarischen Expressionismus witterten die Gefahr. Einer von ihnen war Georg Trakl, 1887 in Salzburg geboren, zum Apotheker ausgebildet, zum Dichter berufen.
In seinen Versen, deren „Verdüsterung“ zunahm, wie eine oberflächliche Formel es ausdrückt, dominieren Blut, Leid, Tod und Untergang: Schlüsselwörter für die künftige Apokalypse, von welcher der brave Bürger nichts ahnt und die ihn, den Bürger, bis ins Mark seiner Existenz trifft und aus der Bahn wirft. Trakl spürte in der Vorkriegszeit die wachsenden Spannungen, das nahende Gewitter, die sich steigernde Gefährdung – auch die der eigenen Person, bedingt durch seine Neigung zu Drogen, zu denen der Apotheker Trakl leicht Zugang hatte. Sehr wahrscheinlich resultiert, was sich an Angst und Entsetzen in seinen Gedichten bekundet, nicht allein aus dem Bedrohtsein durch die sich schwarz einfärbende Zukunft, sondern ebenso aus den Visionen und Alpträumen des Süchtigen. (Ohnehin hatten die Autoren der Belle Époque ein intimes Verhältnis zum Rauschgift. Ihre Namensliste ist lang.)
Bei Kriegsausbruch wird Trakl als „Medikamentakzessist“ eingezogen, nach Galizien, also an die Ostfront, verfrachtet, wo er nach der Schlacht bei Grodek ganz allein neunzig Schwerverwundete behandeln soll. Nervenzusammenbruch und Selbstmordversuch sind die Folgen. Zur Beobachtung seines Geisteszustandes schafft man ihn nach Krakau. Einstmals hatte er in einem Gespräch erklärt:

Ich habe kein Recht, mich der Hölle zu entziehen…

Nun aber ist sie als Realität über ihn hereingebrochen. In der Nacht vom 3. zum 4. November stirbt er, siebenundzwanzigjährig, an einer Kokainvergiftung in seiner Zelle – wobei ungewiß bleibt, ob es sich um Suizid handelt oder um eine zufällige Überdosis.
„Im Osten“ erhält dadurch eine unheimliche Authentizität, einen nahezu prophetischen Zug, durch „des Volkes finstren Zorn“ auf den Krieg nach dem Krieg, auf die Revolution, verweisend, da wir, Trakls Leser, die „Fortsetzung“ seines Gedichtes kennen. Und mehr noch: Wir bringen, gegenwartsbedingt, dem Gedicht wohl ein größeres Verständnis entgegen, als es jemals gefunden haben mag. Man liest es als Aktualität. Wir bringen alle späteren Phasen europäischen Völkermordens mit ein, die Bilder sterbender Soldaten, die Geister der Erschlagenen, gehören keineswegs einer fernen Vergangenheit an. In den von „dorniger Wildnis umgürteten“ Städten erkennen wir die Ghettos wieder, die belagerten Ortschaften. Die von blutenden Stufen verjagten erschrockenen Frauen – haben wir sie nicht erst gestern im Fernsehen betrachtet, ebenso wie die „wilden Wölfe“ in jeweils andersfarbigen Uniformen?
Aber nicht um eine zwanghafte Aktualisierung eines bereits „klassischen“ Gedichtes geht es mir, sondern um den Beleg, wie aus unterschiedlichen Situationen heraus Texte, insbesondere Gedichte, gelesen werden. Daß man stets die eigene Erfahrung in die Lektüre miteinbringt, ist keine sensationelle Neuigkeit. Denn nur durch solche Adaption ins Eigenerleben wird Aneignung des Gelesenen erst möglich. Daß aber ein Gedicht wie dieses beispielsweise überhaupt diese Möglichkeit bietet, zeigt die Funktion von Literatur: uns in ihr spiegeln zu können. Wo das gelingt, ist das Werk selber gelungen. Auch wenn es „aufs schönste“ den Mangel an Menschlichkeit vorführt.

Günter Kunert, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Achtzehnter Band, Insel Verlag, 1995

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