Günter Kunert: Zu Kurt Bartschs Gedicht „Abriss“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Kurt Bartschs Gedicht „Abriss“ aus Kurt Bartsch: Kaderakte.

 

 

 

 

KURT BARTSCH

Abriss

Ich kenne jeden Stein hier, Häuser, Straßen
Dies Zimmer meine zweite Haut, ich kann nicht
Aus meiner Haut, verstehen Sie, ich will nicht
Mein Fleisch verfault hier schneller als woanders:
Das ist es, was mich hält. Lichtlose Räume
Die Keller leer, die Wohnungen verlassen:
Wenn ich hier sterbe, sterbe ich allein.
Woanders lebe ich allein. Es fragt sich,
Was besser ist. (In meinem Alter
Wächst keine zweite Haut!) Ich sage:
Das Möbelauto ist mein Leichenwagen.
Wenn sie mich holen, spring’ ich aus dem Fenster.

 

Rückblick auf unser Vineta

Keine Stadt ist derart gründlich versunken wie Berlin, weil nicht nur ihre städtebaulichen Charakteristika verschwanden – bis auf jene wenigen, nostalgisch renovierten Ecken, mittels derer der fatale Anschein historischer Kontinuität erweckt werden soll –, sondern auch die Eigenarten ihrer Einwohner: Berliner ist man heute durch amtliche Eintragung ins Geburtenregister, aber was bedeutet das schon oder noch? Wie immer wird erst im nachhinein der Verlust feststellbar: Das spezifisch Berlinische, Produkt der Symbiose einer historisch verspäteten Großstadt mit ihren Bürgern, hat sich heutzutage zu einem Nachgeschmack verflüchtigt, zu einem: Es war einmal, einem bitteren und melancholischen Eingedenken. Geblieben ist, auch für uns Nachgeborenen, das Gefühl, um die Stadt betrogen worden zu sein. Und der Versuch, sie wenigstens noch einmal im Geiste wiederherzustellen, treibt teils zum Kult lokalgeschichtlicher Relikte, teils literarische Blüten.
Kein jüngerer Autor in dem geteilten Ort, den nicht „sein“ Berlin dazu veranlaßt hätte, es auf seine Weise inständig (und manchmal bloß sentimental) dichterisch zu bezeugen. Einer von ihnen und vermutlich der Berlinischte von allen ist Kurt Bartsch, Jahrgang 1937, in verschiedenen Berufen, selbst in dem des Leichenträgers, erfahren, ohne abgeschlossene Lehre (falls man nicht mit etwas Ironie seinen Ausschluß aus dem Schriftstellerverband im Sommer 79 darunter verstehen will), zu Hause in der Hauptstadt der DDR, ist das lebende Exempel für eine Fixierung auf ein Phantom.
Was uns an diese einstige Metropole eines ehemaligen Reiches gebunden hat, ist in Wahrheit längst passé, falls es überhaupt je existiert hat. Ich hege den Verdacht, wir haben ein Berlin geliebt oder lieben es noch, das aus den Romanen Döblins und Georg Hermanns stammt, aus den Texten Tucholskys und Kästners, aus den Bildern Zilles und Balusscheks, aus den grandiosen und doch spätromantischen Beschreibungen von Walter Benjamin, Franz Hessel, Siegfried Kracauer: Unser Blick war von Anfang an, von unseren schriftstellerischen Anfängen an jedenfalls, getrübt oder, besser: selbstsuggestiv beeinflußt. Er glich dem Blick des Sympathisanten auf die ihm nahestehende Sache: Die Empfindungen erhöhten das Objekt, und das Objekt dankte es ihm, indem es seine Empfindungen intensivierte. So war auch im Zentrum deutscher Finsternis noch Glanz, dann ein langes Nachleuchten, von dem wir die Augen nicht wegwenden konnten – wie sonst wäre erklärlich, daß die Nachgeborenen noch eine Ahnung einstiger Faszination bewegt, selbst wenn diese Faszination auf Täuschung und Selbsttäuschung beruht?
So erweist sich Kurt Bartschs Gedicht über den Monolog eines selbstmordbereiten Abrißhausbewohners als eine offenkundige und verzweifelte Beschwörung der Stadt, das seine Identität verbergende Subjekt des Gedichts nicht zu verlassen, und als die Androhung eines radikalen Abschiedes, des endgültigen Abscheidens, falls der Zerstörung nicht Einhalt geboten wird. Unter diesem vorgeblich beiläufigen Schicksal einer Randexistenz, man kennt sie aus Zeitungsberichten, steckt die katastrophale Erfahrung eines Dichters mit dem so leichthin „Heimat“ genannten Lebensbereich, der ihm wie eine Eisscholle unter den Füßen weggeschmolzen ist und an deren Resten er sich festzuhalten sucht. Eine Erfahrung, die, wie zu fürchten ist, kaum auf Dichter beschränkt sein dürfte.

Günter Kunertaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfter Band, Insel Verlag, 1980

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00