Günter Kunert: Zu Kurt Drawerts Gedicht „Zum deutschen Liedgut“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Kurt Drawerts Gedicht „Zum deutschen Liedgut“ aus Kurt Drawert: Wo es war. –

 

 

 

 

KURT DRAWERT

Zum deutschen Liedgut

Ich bin ganz von selber gegangen,
und fühlte mich doch wie vertrieben.
Ich bin sehr entschieden gegangen,
und wäre doch gern auch geblieben.

Ich wußte, ich müsse jetzt gehen,
kein Weg war ein Heimweg mir mehr.
Und doch blieb ich einmal noch stehen,
und Schnee lag schon hoch um mich her.

Was hatte ich hier noch zu suchen,
was hielt mich am lichtlosen Ort.
Die Liebe ging fort unter Buchen,
ich wollte ihr gültiges Wort.

Ich habe es nicht mehr gefunden
und habe auch nichts in der Hand.
Im Nebel ist alles verschwunden.
Wir hatten kein brauchbares Land.

 

Kein brauchbares Land

Der Titel des Gedichts klingt ironisch und melancholisch zugleich. Weil das apostrophierte „Liedgut“ ein ganz spezielles ist. Nämlich jenes, das vom Schicksal Exilierter und „Heimatvertriebener“ Kunde gibt. Von Heine bis Brecht, von Huchel bis Biermann ist in den letzten hundertfünfzig Jahren nirgendwo in Europa eine im Umfang vergleichbare Dichtung entstanden. Das „Heilig Herz der Völker“ schlug weniger für seine Poeten denn für seine Autokraten und Diktatoren. Die deutsche Literaturgeschichte vermeldet den Exodus von Autoren als immer wiederkehrende Reprise.
Ein Nachzügler der verjagten Schriftsteller ist Kurt Drawert. 1956 in Henningsdorf (Brandenburg) geboren, verbringt er seine Kindheit im eingemauerten Ost-Berlin, übersiedelt 1967 nach Dresden, geht diversen Tätigkeiten nach, bis zu den literarischen Anfängen, die ihm zwischen 1982 und 1985 das Studium am „Institut für Literatur“ in Leipzig ermöglichen. Dürre, unpersönliche Daten, aus denen Drawerts Entwicklung nicht hervorgeht – eine des sich Freischreibens von Ideologie, von Kompromiß und Rücksichtnahme.
Trotz der Wiedervereinigung und der Hoffnung, daß sich nun alles, alles wandeln müsse, bleibt das Empfinden der Fremdheit unüberwindlich. Das Trauma DDR sitzt zu tief. Drawert glaubte wohl, durch einen Ortswechsel sich kurieren zu können. 1993 zieht er von Leipzig in die Nähe von Bremen. Freilich: Man kann seiner Biographie nicht entkommen. Der Fluchtversuch, der Zwang zum Fortgehen, um die eigene Kreativität zu bewahren, taucht im Gedicht wieder auf und damit der altbekannte seelische Zwiespalt: gern geblieben und doch als Außenseiter ausgeschlossen worden zu sein aus einer Gemeinschaft, der die Freiheit weniger bedeutet als die ehemalige gemütliche „Nische“.
Die in der ersten Zeile betonte Freiwilligkeit des Wechsels von Ost nach West täuscht; die Ungunst der Umstände hat den Entschluß hervorgerufen, sich einem von Nostalgie erfüllten Umfeld zu entziehen.
Unter dem kritischen Blick hat sich der gewohnte Lebensraum in einen fast feindlichen verändert. Die Gefahr innerlichen Absterbens durch allgemeine Ignoranz und Indolenz drückt das leicht durchschaubare Schnee-Symbol aus. Folge davon, daß auch die Liebe vergeht, das Wort, die Wörter, die Sprache. Verlust um Verlust listet das Gedicht auf, das sich, im Gegensatz zu den meisten Drawert-Gedichten, formal den Klagen und Anklagen der lyrischen Vorgänger verpflichtet weiß. Der Sechzehnzeiler mit seinem einfachen Reimschema erweist sich als bewußtes Unternehmen; Drawert sieht sich in der langen Reihe von Leidensgenossen.
Allein die Schlußzeilen weichen von den zahllosen Versen der Exilierten und Emigrierten ab. Während bei diesen Sehnsucht und Verlangen nach der verlorenen Heimat wesentlich sind, das Erinnern an einstmals bessere Zeiten scheinbarer Zugehörigkeit, entfällt bei Drawert jegliche Sentimentalität, ja, sogar die Erinnerung selber:

Im Nebel ist alles verschwunden…

Da gibt es keine Wehmut, keine Träne; die eigene Vergangenheit wie ihre realen Stätten sind ausgelöscht. Keine Wut, keine Larmoyanz kennzeichnen das Resümee. Die nüchterne Wertung aus einem immerhin fast vierzigjährigen Leben in der DDR heißt:

Wir hatten kein brauchbares Land.

Ein schlichteres und schlimmeres Urteil kann kaum gefällt werden.

Günter Kunertaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zwanzigster Band, Insel Verlag, 1997

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00