Günter Kunert: Zu Max Herrmann-Neißes Gedicht „Ein Licht geht nach dem andern aus“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Max Herrmann-Neißes Gedicht „Ein Licht geht nach dem andern aus“ aus dem Band Max Herrmann-Neiße: Lied der Einsamkeit. –

 

 

 

 

MAX HERRMANN- NEISSE

Ein Licht geht nach dem andern aus

Ein Licht geht nach dem andern aus,
und immer dunkler wird das Haus.
Ich bin allein beim Lampenschein,
ein Leuchtturmgeist in all der Nacht,
der in dem Schlaf der andern wacht
und Angst hat, auf dem Meer zu sein.

Von fern und nah umflattern blaß
der andern Liebe mich und Haß,
gelockt von meinem späten Licht;
ihr Stöhnen tönt mit Lust und Leid
in meine große Einsamkeit,
ihr Gram weht kühl um mein Gesicht.

Schon liegen sie, wie Tote tun,
als probten sie, im Grab zu ruhn,
und nur ihr Atem flackert sacht.
Ich fürchte dieses Schlafes Bann,
der mich für immer halten kann,
und bleibe wach in all der Nacht.

Für immer schloß vielleicht das Tor,
von dem der Schlüssel sich verlor,
bin ich vom Feind umstellt.
Verfallen ist mein Vaterhaus,
ein Licht geht nach dem andern aus,
und immer dunkler wird die Welt.

 

Poetische Prognose

Ein blinder und eilfertiger Optimismus macht es sich gegenwärtig zur Gewohnheit, jede literarische Äußerung von Besorgnissen und Befürchtungen als lächerliche Unheilspredigt abzutun. Dieser Optimismus ist aber nicht nur blind in Hinblick auf die Zukunft, er ist es auch, was die Vergangenheit betrifft.
„Ein Licht geht nach dem andern aus“ entstand vor genau vierzig Jahren, also noch am Anfang eines Krieges, dessen Ausweitung und Auswirkung zu dieser Zeit kaum ganz überschaubar waren. Das Gemetzel sollte erst noch beginnen. Freilich: In Europa waren die Lichter schon 1939 ausgegangen. Die schlimmsten Befürchtungen einsichtiger Intellektueller waren bestätigt worden. Viele von ihnen hatten schon 1933 Deutschland verlassen müssen: nicht so der aus Schlesien stammende und aus Anhänglichkeit an seine Vaterstadt seinem Namen den ihren hinzufügende Max Herrmann. Er gehörte zu den wenigen, die freiwillig emigrierten.
Dieses sein im letzten Lebensjahr geschriebene Gedicht erweitert eine Schreiberfahrung zur Allegorie. Die Ausgangssituation, deren Realität angedeutet wird, nämlich wie da der Dichter beim Lampenschein arbeitet, während der Abend sinkt und seine Mitbewohner schlafengehen, verwandelt sich bereits von der vierten Zeile an ins Metaphorische. Schon die Auffassung der eigenen Position als eines Leuchtturmwärters, mit dem vielschichtigen, vieldeutigen Wort „Leuchtturmgeist“ bezeichnet, zeigt bildhaft ein poetologisches Selbstverständnis, das wir Nachgeborene längst verloren haben. Entsprechend lösen sich die Mitmenschen in ihre Eigenschaften auf, welche wiederum zu optisch-akustischen Naturerscheinungen werden, von Wendungen wie „angelockt“, „umflattern“, „weht“ assoziativ dem Bereich „Meer“ zugeordnet.
Doch diese Analogie wird nicht durchgehalten: Der Schlaf als Generalprobe des Todes löst sie ab. Dieser nächtlich tödliche Bann droht unaufhebbar zu werden: „Für immer“, heißt es da, und dieses „Für immer“ – neben dem Satz „Ein Licht geht nach dem andern aus“ die einzige Wiederholung – erhält seine Endgültigkeit durch die Doppelung. Das Tor ist für immer verschlossen, und jenes „vielleicht“ nur eine rhetorische Floskel, sonst würde nicht gesagt, daß ein Schlüssel ja verloren sei. Die Gefangenschaft ist unabänderlich geworden. Der Dichter, um es ebenfalls metaphorisch auszudrücken, steht, vom Feind, nicht von Feinden umringt, mit dem Rücken an der Wand: seine Lage ist aussichtslos. Er hat nicht einmal mehr den Trost, Sprecher oder Kustos seiner Zeitgenossen zu sein, die, in ihrer Reduktion auf reine Phänomene, geschehen ließen, was nun am Ende nicht mehr allein dem Haus zugeschrieben wird, sondern der ganzen Welt: daß sie immer dunkler wird.
Daß dieses sichere Empfinden, diese hellsichtige Angst keine subjektive Marotte eines verstörten Geistes war, bezeugt alles weiter Folgende: der blutigste und wahnhafteste Völkermord, die Vernichtung von Städten samt Bevölkerung rund um den Erdball, und damit verbunden das Absinken der Moralität und der Schwund des Gewissens, die beide ihren alten klassischen Stellenwert nie wieder erreichten.
Insofern hat sich die Endzeile dieses kassandrischen Textes bestätigt: Die Welt ist dunkler geworden, und das hat fernerhin ermöglicht, daß wir heute an den Rand eines Abgrundes gelangt sind, der damals erst sichtbar zu werden begann und über den uns jene Leute hinwegtäuschen wollen, die schon immer behaupteten, es werde alles nicht so heiß gegessen wie gekocht, und die sich von den Hekatomben brennender Opfer keines Besseren belehren ließen.

Günter Kunertaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebter Band, Insel Verlag, 1983

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