Günter Kunert: Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Magie“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Magie“ aus Rainer Maria Rilke: Die Gedichte in einem Band. –

 

 

 

 

RAINER MARIA RILKE

Magie

Aus unbeschreiblicher Verwandlung stammen
solche Gebilde –: Fühl! und glaub!
Wir leidens oft: zu Asche werden Flammen;
doch, in der Kunst: zur Flamme wird der Staub.

Hier ist Magie. In das Bereich des Zaubers
scheint das gemeine Wort hinaufgestuft…
und ist doch wirklich wie der Ruf des Taubers,
der nach der unsichtbaren Taube ruft.

 

Kunststückchen

Heute erscheinen uns Gedichte von Rilke oft überspannt, outriert, manchmal die Grenze zu unfreiwilliger Komik, zum Kitsch gerade noch angestrengt wahrend. Aber so liest jede Zeitgenossenschaft anders. Magie und Zauber – Worte, welche wir ohne Gänsefüßchen kaum auszusprechen vermögen, stehen hier noch in fragloser Legitimität, und legitim sind sie ja auch, obschon eher in einem kulturhistorischen als in einem künstlerischen Sinne. Übertreibend ausgedrückt: Jeder Dilettant des Metiers ist über den Ursprung der Lyrik „bestens“ informiert. Ihre Quelle entspringt archaischem Denken, Animismus und Geisterbeschwörung, Götteranrufung und Verfluchung: also einer sprachlichen Praxis, mittels derer der Adept auf seine Wirklichkeit Einfluß zu nehmen gedachte. Die Ethnologie weiß davon manches ungereimte Lied zu singen. So wirkt der Titel „Magie“ für den im Gedicht evozierten Akt tautologisch, nicht zuletzt weil das Darstellungsmittel mit dem Dargestellten zusammenfällt: Als handele es sich um ein Zauberkunststück zur Demonstration von Zauberei.
Trotz alledem: Selbst in unserer Epoche wissenschaftlich geprägter Rationalität leben Gedichte immer noch vom Saft aus ihren frühen Wurzeln. Ihr Genuines besteht einfach darin, durch assoziative Bildkombinatorik Vorstellungen und Empfindungen zu erwecken, die durch kein andersgeartetes Reizmittel hervorrufbar wären. Insofern sind Gedichte tatsächlich „wirklich wie der Ruf des Taubers, der die Taube ruft“. Ja, ich vermute, die Latenz von Gefühlen wird überhaupt erst vom Gedicht angeregt. Das „hinaufgestufte Wort“ selber schafft sich den Empfänger, welcher ohne diesen „Anruf“ gar nicht zur entsprechenden Reaktion imstande wäre. Etwas paradox gesagt, produziert der Brief sich seinen Adressaten. Das Gedicht zeugt den Leser. Rilkes Achtzeiler, eine kurzgefaßte Poetologie, die, wie alle ihre Gattungsgenossinnen, die „unbeschreibliche Verwandlung“ zu beschreiben unternimmt, ist zugleich ein Lehrbeispiel für Hugo Friedrichs Struktur der modernen Lyrik, wo der Name Rilke nicht ein einziges Mal vorkommt. Christliche Bildwelt (Anrufung des Heiligen Geistes im Ruf nach der unsichtbaren Taube) und „leere Idealitat“ entsprechen einander:

Das Gedicht bewegt sich in einem geläufigen Schema platonischer und christlich-mystischer Herkunft. Nach diesem Schema steigt der Geist in eine Transzendenz auf, die ihn so verändert, daß er rückblickend die Hülle des Irdischen durchdringt und dessen wahres Wesen erkennt. Es ist das Schema der – christlich so benannten – ascensio oder elevatio.

Und resümierend fährt Friedrich fort:

Von Gott ist nicht mehr die Rede. Wir erfahren auch nicht, welcher Art die nunmehr verstandene Sprache der Blumen und Dinge wäre. Das Ziel des Aufstiegs ist nicht nur fern, sondern leer, eine inhaltslose Idealität. Sie ist ein bloßer Spannungspol, hyperbolisch angestrebt, aber nicht betreten.

Was hier auf Baudelaire gemünzt wird, trifft ebenso auf Rilke zu: weder wird der Ruf des Taubers in irgendeiner Weise definiert noch die Antwort der unsichtbaren Taube erwartet. Die Säkularisierung ist perfekt, Christentum der Fundus für Metapher und Wortwahl. Geblieben ist der Lyrik ihr eingeborener Gestus, vom Unsagbaren in Gleichungen und Gleichnissen reden zu müssen, obwohl das Unsagbare inzwischen auch unglaubhaft geworden ist. Aber sie, die Lyrik, kann, um ihres Weiterbestehens willen, nicht aufhören, so zu tun, als wäre anstelle des Garnichts ein Etwas. Aus schieren Existenzgründen muß sie etwas vortäuschen, was aus anderen Daseinsbereichen längst verschwunden ist: die besagte Transzendenz nämlich.
„Hier ist Magie“, schreibt Rilke, aber wir, im Stande der verlorenen Unschuld und eines deprimierenden Aufgeklärtseins, wissen, daß Magie nur eine Sache geschickter Taschenspielerei ist.

Günter Kunertaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierzehnter Band, Insel Verlag, 1991

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