Guillaume Apollinaire: Bestiarium

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Guillaume Apollinaire: Bestiarium

Apollinaire/Klee-Palyi-Bestiarium

ORPHEUS

Bewundert die besond’re Gabe
Der Zeile vornehmes Gehabe:
Die Stimme ist es, die lauschen macht das Licht
Und mit der Hermes Tresmegitos
In seinem Pimander spricht.

 

 

 

Guillaume Apollinaire

– Ein Kommuniqué der Forschungsgruppe für mögliche parallele Werke und Welten von Schriftstellern. –

Freunde
Apollinaire ist nicht tot
Ihr lieft einem leeren Leichenwagen hinterher
Apollinaire ist ein Magier

(Blaise Cendrars).

Heutzutage denken alle nur noch darüber nach, was sie hätten sein können. In diesem Kontext hatten wir von der GROUPPE (Groupe de Recherche sur l’Œuvre et l’Univers Parallèles Possibles des Ecrivains, Forschungsgruppe für mögliche parallele Werke und Welten von Schriftstellern) alle erdenklichen Schwierigkeiten, um das notwendige Budget zur Beobachtung der Leben des Guillaume Apollinaire, wenn er nicht 1918 an der Spanischen  Grippe  gestorben wäre, zusammenzubekommen.
Wir haben nur die einfachste der Parallelwelten festgehalten (genannt AAaa’), die, in der der Erste Weltkrieg sehr wohl stattgefunden hat, in der Apollinaire sehr wohl am Kopf verletzt worden ist, als er am 17. März 1916 dabei war, in einem Graben beim Bois des Buttes südöstlich des Chemin des Dames den Mercure de France zu lesen; diejenige Welt, in der er sich sehr wohl Anfang November 1918 die Spanische Grippe geholt hat, nachdem er am 31. Oktober sehr wohl eine mit „Die Grippewelle klingt ab“ betitelte Kolumne veröffentlicht hatte. Beobachten wir nun eine Welt, in der Guillaume Apollinaire überlebt hat: Wir nehmen die Abzweigung des 9. November 1918, 20 Uhr, am Bett von Apollinaire, der sich ein wenig besser fühlt und sich langsam von einem Erstickungsanfall erholt.
Am 11. November kommen unter den Fenstern des Genesenden am Boulevard Saint-Germain die den Waffenstillstand feiernden Menschen vorbei. Von Blaise Cendrars benachrichtigt, sind Pablo und Olga Picasso, Max Jacob und André Salmon ans Bett des Freundes geeilt. (…) Die Freunde sind bestürzt, aber Guillaume Apollinaire lächelt. Er wird leben, der Krieg ist vorbei.
Apollinaire ist von Geburt her ein großer Europäer: Tatsächlich wurde Guglielmo Alberto Wladimiro Alessandro Apollinare de Kostrowitzky in  Rom  geboren, als polnischer Untertan des Russischen Kaiserreiches, die Mutter Litauerin, der Vater unbekannt. Aus Liebe zu  Frankreich, wo er aufgewachsen ist, will Apollinaire sich schon im August 1914 freiwillig melden. Er fällt durch, weil er die französische Staatsangehörigkeit nicht hat. Was soll’s, lässt er sich einbürgern; im April 1915 darf er an die Front. Seine größte Abscheu richtet sich gegen die „Boches“, die Deutschen. 1919 zeichnet man den Überlebenden der Grippe und der Schützengräben mit mehreren Medaillen aus, er wird zu einem nationalen Superdichter. „Ich bin ein Dichter, und die Dichter sind die Seele des Vaterlandes“, schreibt er in Farbe der Zeit (1920). Nachdem er sich von der Grippe und mehr oder weniger auch vom Krieg erholt hat, schreibt er in Hommage an seinen Freund Alfred Jarry Obus-Roi (1922). Das Stück ist ein Riesenerfolg und wird oft mit König Ubu zusammen aufgeführt. Als Nächstes folgt Die Wand und die  Kröte  (1924), ein überdimensionales blau-weiß-rotes Kalligramm, das in der Nationalbibliothek ausgestellt wird, und dann Ho Hospodar (1926), das zur Schullektüre wird, beim breiten Publikum aber wenig Beachtung findet. Wenig später vollendet er sein Werk Massenweihe (1929), das die Arbeit eines gewissen  James  Joyce, der 1919 vorzeitig verstorben ist, mit einem Schlag auslöscht. Danach schreibt Apollinaire nur noch ein paar Vorworte und dreht einen Film, dessen Misserfolg ihn todunglücklich macht. (…)
Wir konnten im Rahmen der GROUPPE zehn Sequenzen von möglichen Leben des Guillaume Apollinaire beobachten.

1. Am 3. Januar 1919 wird der kleine Albert Apollinaire geboren, Sohn von Guillaume Apollinaire und Jacqueline Ruby. Albert Apollinaire wird, seinem Leben Aaa zufolge, Kunsthändler und Liebhaber von Louise Bourgeois. Seine Mutter Amélia Kolb, genannt Jacqueline Ruby, ist eine „sehr nette und mit gesundem Verstand ausgestattete“ hübsche Rothaarige, die Apollinaire in seinem Leben Aa am 2. Mai 1918 heiratet. Er schreibt:

Marie ist nur eine Erinnerung, Lou ein Bedauern, Madeleine ein Schuldgefühl.

Aber der Dichter wird des Familienlebens rasch überdrüssig.

2. 1922: Apollinaire hat im Krieg so viele Freunde verloren, dass er sich regelmäßig zu spiritistischen Sitzungen bei seinem Freund, dem Maler André Rouveyre begibt. In dessen Salon steht die Mumie einer ägyptischen Tänzerin aus der Ära von Ptolemaios IV. Rouveyre hat sie 1915 bei der Bestandsauflösung eines Antiquars gekauft. Auch Henri Matisse und Paul Léautaud nehmen an den Séancen teil. Marie Laurencin, Apollinaires einstige große Liebe, ist ebenfalls da. Die beiden waren sich in die Haare geraten, weil sie einen Boche geheiratet hat. Jetzt sind sie wieder versöhnt. Unter dem starren Blick der Mumie wandert der Tisch, und die Geister sprechen. Im Halbdunkel des kleinen Salons geht jeder seinen Toten nach. Apollinaire ruft Modigliani, verstorben 1920. Modiglianis Geist sagt, dass er die Freunde vermisse und sich im Jenseits zu Tode langweile, wo man nicht malen kann, nur meditieren. Und kein Tropfen Alkohol! Zum Spaß ruft Apollinaire auch Victor Hugo oder Napoleon. An dem Tag, als er Ptolemaios IV. beschwört, macht die Mumie in ihrer dunklen Ecke neben der Tür den Mund auf und lacht hämisch. Alle ergreifen die Flucht. André Rouveyre schenkt die Mumie dem Museum von Fontainebleau, wo sie immer noch steht, Sie können sie dort ansehen.

3. 1923: Patriotisch wie er ist, gefällt Apollinaire die Idee eines „europäischen Künstlerbundes“. Er hat mit den italienischen Futuristen darüber diskutiert. Aber Marinetti und Apollinaire zeichnen sich beide nicht durch einen einfachen Charakter aus, und so kommt es in keinem möglichen Leben zum franko-italienischen Futuristenbund. Dennoch verdanken wir Apollinaire den Anstoß der Bewegung, und auch Guy Debord mit seinen späteren Bemühungen um eine Situationistische Internationale verdankt ihm viel.  Italien  ist ein Traum für Guillaume, und das mit Obus-Roi verdiente Geld erlaubt es ihm, endlich eine Reise an einen Ort zu unternehmen, der ihm bis dato unzugänglich war: Florenz. Gewiss, in seiner Futuristischen Antitradition hatte er „SCHEISS auf  Dante“ geschrieben. „Scheiß“ war eine Interjektion, die ihm sehr gut gefiel. Er wollte eine Kunst, die schnell vorwärtskam, und bei der Göttlichen Komödie geriet er ins Schwitzen. „SCHEISS auf die ‚Gutgeschmäckler‘“ – auf Französisch Florence – und Clermont-Ferrand? „Es gibt in Clermont-Ferrand viel mehr Mädchen, die Florence heißen, als in Florenz Mädchen, die Clermont-Ferrand heißen.“

4. 1926: Apollinaire wird von Mitgliedern der Zeitschrift Broom nach New York eingeladen. Er wird einen immensen Beitrag zur Verbreitung des Surrealismus in den USA leisten, stets in Begleitung des jungen André Breton, der die Reise gemeinsam mit ihm macht. Wie ein Kind erforscht Apollinaire das Schiff, schreit, er sei Jonas im Walfisch, macht Blödsinn, deklamiert ein altes Gedicht aus seinem Band Alkohol in alle Winde:

Du sahst eine Wolkenbank hinziehn
Mit dem verwaisten Ozeandampfer künftigen Fiebern entgegen
Und an all den Jammer an all die Reue

Erinnerst du dich daran?

Auf dem riesigen Meer umklammert ihn die Nostalgie. Aber in New York wird er der englischen Dichterin Mina Loy (1882–1966) begegnen, einer Freundin von Gertrude Stein. Und das ist der Anfang seiner größten Liebesgeschichte. Minas erster Ehemann, der Boxer und Dichter Arthur Cravan, war der Neffe von Oscar Wilde. Während einer Reise nach Buenos Aires verschwand er auf mysteriöse Weise auf dem Meer. Mina war später Kunstagentin von Giacometti, Braque, de Chirico und Max Ernst. Sie hatte vier Kinder aus ihren ersten Ehen. Apollinaire war in Mina verliebt wie in eine Romanfigur, und in ihre Gedichte, und in ihre große Schönheit. Nach dem Tod von Guillaume zog sie sich in die Stille und nach Colorado zurück.

5. 1927: Apollinaire liebt das Kino.

Nichts ist dem Volk näher als das Kino. Wer einen Film projiziert, spielt heute die Rolle des Gauklers von einst. Der epische Dichter wird im Kino eine Möglichkeit des Ausdrucks finden.

André Rouveyre geht mit ihm in Metropolis von Fritz Lang. Apollinaire ist von dem Film so begeistert, dass er auf der Stelle das Drehbuch für den ersten französischen Roboterfilm schreibt, den legendären Die Narbe auf der nackten Haut. Für den Dreh denkt Apollinaire an Louis Feuillade, den Regisseur von Fantomas, aber in diesem möglichen Leben ist Feuillade vor Kurzem gestorben. Man stellt ihm einen jungen spanischen Regisseur vor, Luis Buñuel, dessen neuer Film Ein Andalusischer Hund dem Geiste Apollinaires viel verdankt. Buñuel legt Wert darauf, dass Apollinaire den Roboter spielt. Sein Kostüm, entworfen von Hélène Perdriat, wird Jacques Prévert und Paul Grimault später zum Riesen in ihrem Film Der König und der Vogel inspirieren. Das erstaunliche Bild von Apollinaire als Roboter mit kolossalem Bauch und Bizeps, das Gesicht aus einem ovalen Eisenhelm hervorschauend, prägt die Bilderwelt der Zeit noch mehr als sein berühmtes Porträt mit der Kopfbinde. Dennoch ist der Film bei seinem Kinostart ein kommerzieller Flop. Nach mehreren Verspätungen in der Produktion kommt er 1930 heraus; er ist stumm, gerade als der Tonfilm enormen Aufschwung erfährt.

Es ist kein Kino mehr, wenn gesprochen wird! Wenn gesprochen wird, ist es SCHEISS!

Trotz seiner großen Klappe beginnt Apollinaire sich alt zu fühlen in einer zu jungen Welt.

6. 1934: Apollinaire begegnet dem jungen Romain Gary, der neu in Paris ist. Auf Naschereien aus wie eine alte Katze, verschlingt der Dichter zwei Rum-Savarins und drei Schokoladen-Eclairs, während der junge Gary Whisky trinkt und ihm sein Leben erzählt. Die zwei Männer sind überrascht, was sie alles gemeinsam haben: der Vater unbekannt, die Mutter für die Moral der Zeit zu frei, Polen im Blut und die große Liebe zu Frankreich, die Frauen und die Literatur als Perspektive. Romain Gary wird während des zukünftigen Zweiten Krieges Frankreich ebenfalls heldenhaft dienen. Apollinaire beneidet ihn um seine Jugend.

7. 1937: Apollinaire ist von der Weltausstellung wie vor den Kopf gestoßen. Ging es der Reklame nach darum, „alles zu versammeln, was die Menschen vereint, und nichts, was sie trennt“, sieht man im Ergebnis genau das Gegenteil: Der sowjetische und der deutsche Pavillon scheinen den Eiffelturm fest in ihren Zangen zu haben. Sie wetteifern in Höhe und Aggressivität. „Sollen sie sich doch prügeln“, denkt Apollinaire.

Eine martialische Zeit, in der wir uns befinden.

Im Pavillon der Spanischen Republik malt sein Freund Picasso ein riesiges Fresko als Hommage an die Opfer von Guernica, einer kleinen baskischen Stadt, die von der Luftwaffe der Nazis vernichtet wurde. Die Kommunisten finden das Gemälde „antisozial, ungeeignet für den gesunden Geist des Proletariats“. Dennoch ist alles gesagt in dem Bild: die Gewalt, die Ungerechtigkeit, die Vernichtung des Volkes. Apollinaire erinnert sich an seine eigene Bestürzung vor den Demoiselles d’Avignon; aber meine Damen!, das war 1907. Er war mit Matisse, Derain und Braque da. Das Gemälde, ein Akt von „Bilderterrorismus“, hatte sie fassungslos gemacht. Und dennoch kündigte es den Krieg an. Apollinaire muss sich ein wenig die Füße vertreten. Er wird bald sechzig, hat Atemprobleme wegen der Gase in den Gräben, seine Migräne wird allmählich unerträglich. Also geht er langsam, die Nase im Wind. „Ich singe die Freude ziellos zu schweifen und die Lust dran zu sterben“, das schrieb er in seiner Jugend. Viel später erfinden die Situationisten in Paris das Umherschweifen, dieses ziellose Spazierengehen durch zufällige Straßen. Sie werden die Kinder Apollinaires sein. Die Achtundsechziger verdanken ihm viel, seinem Alkohol, seinen Zonen, seinen Slogans.

Um nach Hause ans linke Ufer zu kommen, überquert der Dichter den Pont Mirabeau. „Dieser Scheiß Pont Mirabeau!“ erinnert er sich.

Hier fließt die Seine dahin
Unsere Liebe auch! Aus traurigem Sinn wird fröhlicher Sinn…

Es ist lange her, dass ich das geschrieben habe. 1912, glaube ich. Vor dem Krieg. Und bald gibt es einen zweiten. Ich bin zu alt, um dabei den Zuaven zu spielen. Sogar wenn es wieder darum gehen soll, die Boches zu zermalmen. Ich habe die Künste – les arts –, so sehr geliebt, dass ich zur Artillerie ging. So schrieb ich aus den Gräben an André Dupont. Ach, es war nicht alles schlecht im Krieg! Ein echter Krieg, mit echten Pferden und echten Männern!

8. Juni 1938: Ein österreichischer Psychoanalytiker, Sigmund Freud, ist auf der Durchreise in Paris und wird von der Prinzessin Marie Bonaparte empfangen. Er ist auf dem Weg nach England, um den Nazis zu entkommen. Der Mann ist alt, krank und, wie es scheint, genial. André Breton hatte als Erster mit Apollinaire über Freud gesprochen, was jenem nur ein Lächeln entlockte, aber das war 1917. Zu früh. 1938 empfindet der alte Apollinaire Sympathie für den gelehrten Mann, der sich so für Träume interessiert und seine Tochter 1919 an die Spanische Grippe verloren hat. Jeder mag assoziieren, was er kann. Der alte Dichter denkt an diese junge Frau, die an der Front an der Grippe gestorben ist, während er, der ehemalige Soldat, ihr entkam. Aber trotzdem sind sie Boches, diese Freuds. Die Psychoanalyse ist Boches-Zeug. Man wird sich das Hirn kein zweites Mal von einem Boches-Gelehrten trepanieren lassen, auch nicht metaphorisch. Man wird es Apollinaire nicht mehr aus dem Kopf schlagen, dass man den Deutschen nicht über den Weg trauen kann. Trotzdem beschäftigt ihn die Sache. Vielleicht hätte er die Frauen besser geliebt, wenn er sich auf einen Divan gelegt hätte. Marie, Lou, Madeleine, Jacqueline… Wie schnell hat er immer zu lieben aufgehört!

Die Frau lässt uns hungern und Gott weiß, warum sie so oft so infam ist.

Das schrieb er vor langer Zeit an Lou. An Mina würde er das nicht schreiben, Mina ist vielleicht seine einzige wahre Liebe. Es ist zu spät, in jeder Hinsicht. Die Welt bricht zusammen.

9. Oktober 1938: Die Schweden verleihen Guillaume den Nobelpreis. Man teilt es ihm in einem Telefonat mit. Als Favorit galt Roger Martin du Gard, aber dann hat die nordische Akademie doch ihm den Vorzug gegeben, und Apollinaire freut sich. Umso mehr, weil ein Haufen Kohle dabei rumkommt. Jetzt kann er sich endlich einen schönen Anzug kaufen, für seine Rede in Stockholm. Guillaume steht an seinem Fenster zum Boulevard Saint-Germain und hustet. Ein wenig Morgengymnastik, wie gewohnt, wird ihm vielleicht beim Schreiben der Rede helfen. Nicht den Kopf nach vorne neigen, Guillaume, sonst ist die Migräne programmiert. Ich habe mich auf dem Pont Mirabeau erkältet, denkt er. Blöde Idee, zu dieser schrecklichen Weltausstellung zu gehen. Welt, meine Fresse. Oh, ich fürchte den Tod nicht, die Scheißlangeweile ist schlimmer.

10. Am 30. Oktober 1938 um 18 Uhr stirbt Guillaume Apollinaire, ohne nach Stockholm gefahren zu sein, um seinen Preis in Empfang zu nehmen. Über Europa dröhnen die Kanonen. Auf dem Friedhof Père Lachaise löst sich ein Klumpen gefrorener Erde seines ausgehobenen Grabes und rollt.

Er hatte genau die Form von Apollinaires Kopf, und der Rasen wuchs darauf wie zu Lebzeiten seine Haare rings um die Narbe seiner Trepanation herum.

Blaise Cendrars, immer noch rüstig und scharfsichtig, bezeugt:

Wir haben es gesehen. Apollinaire ist nicht tot. Bald wird er in Erscheinung treten.

Marie Darrieussecq, die Welt, 16.9.2017
Aus dem Französischen von Corinna Popp

 

ODE AN GUILLAUME APOLLINAIRE

Armer Guillaume mein Freund
sie bedecken dich mit Ruhm mit Blumen mit Asche
großer Mann in Anführungszeichen Bronzestandbild
mit der Patina der Berühmtheit
sie überhäufen dich mit all dem was du so wenig geliebt hast
sie krönen deinen Schädel mit Lorbeerkränzen
sie schütteln dein Skelett um Funken zu schlagen

Lieber Guillaume mein Freund
ich vergesse weder dein Lächeln
noch dein sanftes Grinsen
noch den Terror des Vergessens und der Undankbarkeit

nun wirst du endlich überschüttet mit allem
Phantom gekröntes Phantom
was wird man dir noch schenken
von all dem was du so wenig geliebt hast
den Ruhm die Ehre die großen Orden
und obendrein noch die Liebe
die Liebe der einfältigen schwachsinnigen Weiber
und der Dirnen
die nicht über die Nasenspitze hinaus
zu sehen verstanden

Erinnere dich an die aufgehende Sonne
an den Tagesanbruch am äußersten Ende Auteuils
und an den Durst ohne einen einzigen Sou zum Vertrinken
an den Basar wo du alles
verzweifelt und minutiös durchwühltest
ohne zu wissen was du eigentlich suchtest
um dein Leben noch etwas mehr vollzustopfen
mit alten Tellern mit alten Schwarten
und mit der Sonne im Kristallpokal

Ich habe Guy kennengelernt im Galopp
der Zeit als er Militär war
und das war traurig sehr traurig
wie ein Tag ohne Brot ohne Mond
selbst Artaban übertraf er an Stolz
weil er im Krieg Leutnant
der Infanterie war
und er bildete sich etwas ein auf die Tressen
und als ich ihn ansah dachte ich
an all die die noch sterben würden
ohne sich um die Zukunft
zu kümmern noch um den Ruhm
der Zeit die vorüberzieht wie die Seine
unterm Pont Mirabeau

Oft bin ich deinem Phantom gefolgt
in den finsteren Straßen Auteuils
dem Stadtviertel deiner großen Traurigkeit
wenn du träumtest von deiner armen Anne
als deine Freunde über dich lachten
und als du wußtest daß die Zeit gekommen war
zu wissen was du wolltest
und als du nur Argwohn hegtest
während du auf die Freiheit hofftest
und als man sein Leben verdienen mußte
während du es verschwendetest
lustig wie ein Tambourmajor
einsam einsam

Guillaume Guillaume heda Guillaume
wie man dich rief an der Ecke der Druckereien
der Rue du Croissant und der Rue Montmartre
wohin du gingst um zu staunen
– wie Kinder über die elektrische Eisenbahn staunen –
über die Linotypes deine Freundinnen
die ihre kleinen Klingeln schütteln
zur letzten ,zur allerletzten‘ Stunde
wenn es Zeit war die Nacht zu erleben
und die Sterne dir Lebenszeichen gaben
Guillaume o Nachtwandler
ich nehme sie wieder auf deine Marschrouten
deine Ängste längs den Ufern der Seine
die Farbe deines Gewissens
wenn du den Tagesanbruch
zu erreichen suchtest und Billancourt
wo du die Morgenröte entdecktest
die den griechischen Tempel aus Stahlbeton aufflammen ließ
und die großen Feuer
für die Menschenopfer
der vierzig Stunden
des Rückzugs der Alten
und des schwankenden Mutes

Schließlich bist du müde geworden der alten Welt
und des Ruhmes des Lorbeers
und all jener Dinge die du ersehnt hattest
und die du niemals besessen hast
und die wir niemals besitzen sollen
weder du noch ich

Philippe Soupault

 

 

 

Zum 100. Todestag des Autors:

Nico Bleutge: Die Strassen von Paris las Guillaume Apollinaire als wären es Bücher
Neue Zürcher Zeitung, 9.11.2018

Fakten und Vermutungen zum Autor + IMDb + Pennsound +
Internet ArchiveKalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA
Nachruf auf Guillaume Apollinaire: Tumba

 

Guillaume Apollinaire: „Un siècle d’écrivains“, Nummer 175, ausgestrahlt am 18. November 1998 in Frankreich unter der Regie von Jean-Claude Bringuier.

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