Guillaume Apollinaire: Poesiealbum 294

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Guillaume Apollinaire: Poesiealbum 294

Apollinaire/Dufy-Poesiealbum 294

ZONE

Zuletzt bist du müde dieser veralteten Welt

O Eiffelturm Hirte die Herde der Brücken blökt heute
aaaaaMorgen

Du hast es satt zu leben im griechischen und römischen
aaaaaAltertum

Sogar die Automobile sehn hier veraltet aus
Die Religion nur ist neu geblieben die Religion
Ist einfach geblieben wie die Flughafen-Hangars

Nur du in Europa bist nicht altertümlich o Christentum
Der modernste Europäer bist du Papst Pius x.
Und dich den die Fenster belauern dich hält die Scham nur zurück
Heut morgen in eine Kirche zu gehn und zu beichten
Du liest die Prospekte Kataloge Plakate die lauthals singen
Das ist die Poesie heut morgen und für die Prosa sind die Zeitungen da
Es gibt Hefte zu 25 Centimes mit Kriminalgeschichten
Bildern von großen Männern und tausend verschiednen Artikeln

Ich sah eine hübsche Straße heut morgen ihren Namen vergaß ich
Neu und sauber vor Sonne war sie ein Hornsignal
Die Direktoren die Arbeiter und die schönen Stenotypistinnen
Kommen von Montagmorgen bis Samstagabend dort viermal täglich vorbei
Morgens heult dort dreimal täglich die Sirene
Eine tollwütige Glocke bellt gegen Mittag
Die Inschriften der Firmenschilder und Mauern
Die Straßenschilder die Anschläge kreischen nach Papageienart
Die Anmut dieser Fabrikstraße ist mir lieb
Sie liegt in Paris zwischen der Rue Aumont-Thiéville und der Avenue des Ternes

Hier die junge Straße und du noch ein kleines Kind
Deine Mutter kleidet dich nur in Blau und in Weiß
Du bist sehr fromm und mit dem ältesten deiner Kameraden René Dalize
Liebst du nichts so sehr wir das Gepränge der Kirche
Es ist neun Uhr das Gas brennt nur noch ganz blau heimlich schleicht ihr aus dem Schlafsaal
Ihr betet die ganze Nacht in der Kapelle der Schule
Während ewig und göttlich amethystene Tiefe
Für immer die flammende Glorie Christi umkreist
Das ist die schöne Lilie die wir alle hegen
Ist die Fackel mit rotem Haar die der Wind nicht löscht
Ist der bleiche glühende Sohn der schmerzenreichen Mutter
Ist der dichtbelaubte Baum der Gebete
Ist der Doppelträger von Ehre und Ewigkeit
Ist der sechsstrahlige Stern
Ist Gott der am Freitag stirbt und am Sonntag aufersteht
Ist Christus der besser gen Himmel fährt als die Flieger
Er hält den Höhenweltrekord

Pupille Christus des Auges
Zwanzigste Pupille der Jahrhunderte es weiß Bescheid
Und Vogel geworden steigt dies Jahrhundert in die Lüfte wie Jesus
Die Teufel in der Hölle heben den Kopf es zu sehn
Sie sagen es ahmt Simon Magus nach in Judäa
Sie sagen wenn’s fliegen kann muß es Luftikus heißen
Die Engel gaukeln um den hübschen Gaukler
Ikarus Henoch Elias Apollonius von Thyana
Umschweben den ersten Aeroplan
Manchmal machen sie Platz und lassen jene vorbei die die heilige Eucharistie trägt
Jene Priester die ewig auffahren wenn sie die Hostie erheben
Das Flugzeug landet schließlich ohne die Flügel zu schließen
Dann füllt sich der Himmel mit Millionen Schwalben
Pfeilschnell kommen die Raben die Falken die Eulen
Aus Afrika treffen die Ibisse ein die Flamingos die Marabus
Der Vogel Rock von Erzählern und Dichtern gefeiert
Schwebt heran in den Krallen den Schädel Adams den ersten Kopf
Der Adler löst sich vom Horizont mit einem lauten Schrei
Und aus Amerika kommt der kleine Kolibri
Aus China kommen die langen schmiegsamen Pihis
Die nur einen Flügel haben und paarweis fliegen
Dann die Taube unbefleckter Geist
Den der Leiervogel begleitet und der vieläugige Pfau
Der Phönix Scheiterhaufen der sich selbst erzeugt
Hüllt alles einen Augenblick lang in seine glühende Asche
Die Sirenen verlassen die gefährlichen Engen
Und kommen an mit schönem Gesang alle drei
Und alle Adler Phönix und Pihis aus China
Verbrüdern sich mit der Maschine die fliegt

Nun durchstreifst du Paris ganz allein in der Menge
Herden muhender Autobusse rollen an dir vorbei
Die Angst um Liebe schnürt dir die Kehle zu
Als ob du nie mehr geliebt werden solltest
Wenn du in früheren Zeiten lebtest gingst du ins Kloster
Ihr schämt euch wenn ihr euch dabei ertappt ein Gebet zu sprechen
Du findest dich lächerlich und dein Gelächter prasselt wie Höllenfeuer

Die Funken deines Gelächters vergolden den Grund deines Lebens
Es ist ein Bild das in einem düstern Museum hängt
Und manchmal gehst du hin es von nahem zu sehn

Heute durchstreifst du Paris die Fraun sind in Blut getaucht
Es war und ich mag nicht dran denken es war als die Schönheit sank

In Flammen der Inbrunst gehüllt sah die Gottesmutter mich an in Chartres
Das Blut eures Heiligen Herzens überschwemmte mich in Montmartre
Es macht mich krank die hochseligen Worte zu hören
Die Liebe an der ich leide ist eine Krankheit der man sich schämt
Und das Bild von dem du besessen läßt dich weiterleben in Schlaflosigkeit und Bangen
Immer ist es dir nahe dies Bild das vergeht

Nun bist du am Ufer des Mittelmeers
Unter Zitronenbäumen die das ganze Jahr über blühen
Mit deinen Freunden fährst du im Boot umher
Der eine ist aus Nizza einer aus Mentone und zwei aus La Turbie
Wir betrachten mit Grauen die Polypen der Meerestiefen
Und zwischen den Algen schwimmen die Fische Bilder des Heilands

Du bist in einem Gasthausgarten in der Umgebung von Prag
Du fühlst dich voll Glück eine Rose steht auf dem Tisch
Und statt an deinem Märchen in Prosa zu schreiben
Siehst du dir den Goldkäfer an der im Herzen der Rose schläft

Voll Schrecken erkennst du die Linien deines Gesichts in den Achaten von Sankt Veit
Todtraurig warst den Tag als du dich dort gesehn
Du siehst aus wie Lazarus dem der Tag die Sinne verwirrt
Die Zeiger der Turmuhr im Judenviertel gehn rückwärts
Und langsam gehst auch du in dein Leben zurück
Indes du hinaufsteigst zum Hradschin und abends in den Tavernen
Tschechische Lieder singen hörst

Da bist du in Marseille inmitten von Wassermelonen

Da bist du in Koblenz im Gasthaus zum Riesen

Da sitzt du in Rom unter einer japanischen Mispel

Da bist du in Amsterdam mit einem Mädchen das dir schön erscheint und doch häßlich ist

Sie ist verlobt mit einem Studenten aus Leyden
Zimmer vermietet man dort auf lateinisch Cubicula locanda
Ich weiß es noch dort war ich drei Tage und ebensolange in Gouda

Du stehst in Paris vor dem Untersuchungsrichter
Wie einen Verbrecher setzt man dich in Haft

Du hast schmerzliche und fröhliche Reisen gemacht
Ahnungslos noch was Lüge und Alter sind
Du hast an der Liebe gelitten mit zwanzig und dreißig Jahren
Ich habe gelebt wie ein Narr und hab meine Zeit verloren
Deine Hände anzusehn wagst du nicht mehr und immerfort möchte ich schluchzen
Über dich über sie die ich liebe über alles was dich erschreckte

Die Augen voll Tränen siehst du diese ärmlichen Auswandrer an
Sie glauben an Gott sie beten die Frauen stillen Kinder
Sie füllen mit ihrem Geruch die Halle der Gare Saint-Lazare
Sie vertraun ihrem Stern wie die Heilgen Drei Könige
Sie hoffen in Argentinien Geld zu verdienen
Und zur Heimat zurückzukehren wenn sie ihr Glück gemacht
Eine Familie schleppt ein rotes Deckbett mit wie ihr euer Herz
Dies Deckbett ist so unwirklich wie unsre Träume
Ein paar dieser Auswandrer bleiben hier und quartieren sich ein
Rue des Rosiers oder Rue des Écouffes in Spelunken
Ich habe sie oft gesehn abends schnappen sie Luft auf der Straße
Und wechseln selten den Platz wie Schachfiguren
Meist sind es Juden ihre Frauen tragen Perücken
Blutarm bleiben sie sitzen im Hintergrunde der Läden

Du stehst am Schanktisch einer wüsten Bar
Du trinkst einen Kaffee für zwei Sous inmitten von Unglücklichen

Nachts bist du in einem großen Restaurant

Diese Frauen sind nicht bösartig aber sie haben Sorgen
Jede die Häßlichste selbst ließ ihren Liebhaber leiden

Sie ist die Tochter eines Stadtgendarmen auf Jersey

Ihre Hände die ich nicht gesehn sind hart und aufgesprungen

Ich fühle unendliches Mitleid für die Narben an ihrem Bauch

Nun beuge ich meinen Mund zu einer ärmlichen Hure mit gräßlicher Lache

Du bist allein bald wird es Morgen
Die Milchmänner auf den Straßen klirren mit den Kannen

Die Nacht geht dahin wie eine schöne Mestizin
Die falsche Ferdine ist es oder die achtsame Lea

Und du trinkst diesen Alkohol der brennt wie dein Leben
Dein Leben das du trinkst wie einen Aquavit

Du machst dich auf den Weg nach Auteuil du willst zu Fuß nach Hause
Willst schlafen zwischen deinen Fetischen von der Südsee und aus Guinea
Christusse sind es von andrer Gestalt und eines anderen Glaubens
Es sind niedere Christusse dunkeler Hoffnungen

Ade Ade

Sonne Hals durchhackt

Nachdichtung: Johannes Hübner

 

 

 

Stimmen zum Autor

Guillaume Apollinaire nimmt mit einem einzigen Flügelschlag die Höhe, die jedem anderen versagt ist, und zeichnet die neue Sternenstraße zwischen dem Glück, dem Geist und der Freiheit, dem Dreigestirn am Himmel der Poesie unseres tragischen Zeitalters.
René Char

Apollinaire besitzt eine großartige Frische des Schauens, eine überraschende optische Kraft, die Dinge in ihrer Eigenexistenz wahrzunehmen. Das mag es auch gewesen sein, was ihn so leidenschaftlich den großen Malern seiner Zeit verband.
Fritz Usinger

Guillaume Apollinaire gelang dies Unerhörte: aus Substanzen der Wirklichkeit Essenzen der Ewigkeit zu keltern.
Iwan Goll

MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2011

Poesiealbum 294

Aus den Gedichten des in Rom geborenen Sohns einer polnischen Adligen, der nach seiner im Weltkrieg erlittenen Kopfverletzung 1918 in Paris an der Spanischen Grippe starb, leuchtet eine Lebenlust, die alle Tragik überstrahlt. Der Kontrast zwischen Schützengraben und Liebeslager machte den Freund Picassos zu einem Dichter der Moderne, dessen Verse ein hochgemutes Daseinsgefühl erfüllt, das uns ungebrochen in seinen Bann zieht.

MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2011

 

Das lyrische Werk

1. Ein Leben im Spiegel der Dichtung
Apollinaire ist nicht nur der Dichter von Alcools und Calligrammes, auf die sich in erster Linie sein Ruhm gründet. Quantitativ bilden die beiden Sammlungen nur einen Bruchteil seines lyrischen Gesamtwerks, dessen wahrer Umfang erst allmählich sichtbar wird. Spätestens seit Stavelot ist das Gedicht das bevorzugte Ausdrucksmittel, dem Apollinaire fast täglich seine Gefühle und Erfahrungen, Hoffnung und Zweifel, ja auch Verzweiflung anvertraut. Häufig sind diese Gedichte spontaner Ausdruck unmittelbaren Erlebens, wie z.B. die zahlreichen Briefgedichte an seine Freunde oder die in den Briefen an seine ,Kriegsbräute‘ enthaltenen Liebesgedichte. Sie bilden jenen Teil seiner Lyrik, der aus Diskretionsgründen oft erst lange nach seinem Tod veröffentlicht worden ist; in den meisten Fällen liegen sie nur in der Brieffassung vor. Dagegen gibt es von der Mehrzahl der Gedichte von Alcools und Calligrammes verschiedene Fassungen, die einen guten Einblick in Apollinaires Arbeitsweise erlauben. Sie waren zuvor in Zeitschriften erschienen und dann zum Zweck der erneuten Publikation zum Teil überarbeitet worden. Das mindert zwar die Spontaneität, nicht aber die Authentizität der Aussage. Da die Lyrik Apollinaire lebenslang begleitet, könnte eine chronologische Lektüre der Gedichte mühelos die Erstellung seiner äußeren und inneren Biographie ermöglichen; ihr dokumentarischer Wert wird dadurch noch gesteigert, daß sie, im Gegensatz zu einem Großteil des übrigen Werks, nicht primär materiellen, ,alimentären‘ Zwängen unterliegt. Ist es nun nur ein anekdotischer Apollinaire, der sich in dieser Lyrik ausspricht, oder artikuliert sich im Ich des Textes ein überindividuelles zeittypisches Menschenbild? Und in welchem Verhältnis steht es zur Gesellschaft und zur Welt? Zu dieser anthropologischen Dimension der Apollinaireschen Lyrik kommt eine ,handwerkliche‘ hinzu: die sprachliche, stilistische und metrische Gestalt, die der Autor seinen Gedichten gibt, der Aspekt der formalen Neuerungen also, der schon bei einer oberflächlichen Betrachtung ins Auge springt:

2. In den Ardennen und am Rhein
Der Sommer in Stavelot, so hatten wir festgestellt, ist die Geburtsstunde des Dichters Apollinaire. Doch schon während seiner Schulzeit in Nizza und Cannes hatte er begonnen, Gedichte zu schreiben. Diese frühe Lyrik ist nie gesammelt oder chronologisch geordnet herausgegeben worden; sie findet sich heute, verschiedenen Rubriken zugeordnet, in der Pléiade-Ausgabe.
Häufig enthalten die frühesten Texte eines Dichters bereits im Keim jene Gedanken und formalen Eigenheiten, die erst das spätere Werk zur Entfaltung bringt. So auch bei Apollinaire, Erstaunlich ist zunächst die thematische Vielfalt. Wie kaum anders zu erwarten, nimmt die – unglückliche – Liebe einen breiten Raum ein. Weiter findet sich ein Gemisch aus Götter- und Götzendämmerung (,Pans Tod‘), Anarchismus (,An den Himmel‘; ,Gott‘), sozialer Anklage (,Dem Proletarier‘; ,In der Ecke‘), aber auch Lebensfreude (,Rosenmontag‘; ,Geliebte, Deine Brüste‘) und Begeisterung für Landschaft und Folklore der Ardennen. Es sind gewiß keine großen Gedichte; erstaunlich ist aber schon hier ein deutlich artikuliertes dichterisches Selbstbewußtsein und der Wille zum Leben. Denn trotz vieler Anklänge an den Symbolismus herrscht keine Endzeitstimmung:

Niemals wird das Abendrot das Morgenrot besiegen
Bestaunen wir die Abende aber leben wir den Morgen
[…]
Ich will meine Hände
In die glückliche Welle tauchen

Erstaunlich auch die formale Vielfalt: Längere Gedichte in herkömmlichen Strophen stehen Strophen in Freiem Vers gegenüber; mitunter sind Vers und Strophenform gänzlich aufgegeben, wie auch die Interpunktion bereits meist fortfällt. Selbst ein kalligraphischer Entwurf findet sich schon unter den Jugendgedichten, doch ebenso, im Ansatz, eines der kühnsten Bilder aus ,Zone‘, das der „Sonne Hals durchhackt“, das als „Sonne tot-geboren“ pathetisch ein Wintergedicht abschließt.1 Mit gerade 19 Jahren verfügt Apollinaire bereits über wichtige Elemente seiner dichterischen Ausdruckswelt.
Sein Aufenthalt im Rheinland und die abschließende Reise durch Deutschland bedeuten eine gewaltige Steigerung aller bisher erworbenen Fähigkeiten. Mit der ihm eigenen Offenheit und Neugier absorbiert Apollinaire die neue Welt, die sich ihm eröffnet: der Rhein mit seiner Landschaft und seinen Jahreszeiten, seinen Mythen, Sagen und Legenden; seine Anwohner, ihre Traditionen und ihre Folklore; die Liebe zu Annie Playden. Diesen neuen Inhalten entspricht eine neue Form: das Volkslied mit seiner scheinbar naiven, volkstümlichen Anmut. Apollinaire kann es in den Gasthäusern hören, doch macht er sich auch mit der literarischen Tradition vertraut. Handschriftlich erhaltene Fassungen zeigen, wieviel Arbeit ihn seine ,Lieder‘ gekostet haben, die immer auch ein Spiegel seiner selbst sind. So folgt er in seiner Fassung der ,Loreley‘ eng der Vorlage Brentanos und Heines, intensiviert aber die zerstörerische Macht der Liebe: Wie Loreley ist der Liebende dem Tode geweiht; und der unglücklich Annie Liebende, das ist er selbst. Das Liebesthema verbindet sich mit dem der Zeit, die unwiederbringlich dahinfließt – wie das Wasser des Rheins. Unter dem Zeichen der Vergänglichkeit gehen Rhein, Zeit und Liebe jetzt eine enge Synthese ein. Andere Themen kommen hinzu, insbesondere das der Außenseiter: Gaukler, Juden, Zigeuner, Prostituierte wecken von nun an das Interesse Apollinaires; der schillernden Figur des Schinderhannes widmet er ein längeres Gedicht, von dem überliefert ist, daß er es mit besonderer Anteilnahme öffentlich vortrug. Zweifellos ist die Melancholie, die über der Landschaft der „Rheinlieder“ liegt, ein Spiegel der inneren Befindlichkeit des Dichters, seiner Verzweiflung; doch kompensiert er sie durch die pralle Lebensfülle und Authentizität, mit denen er seine Außenseitergestalten ausstattet. Am Ende des Jahres ist der lyrische Ertrag derart reichhaltig, daß Apollinaire sogar erwägt, die Gedichte in einem gesonderten Band mit dem Titel Rheinwind zu veröffentlichen. Erst 1909 nimmt er von diesem Projekt Abstand. Doch wird er einen Großteil der Gedichte in Alcools aufnehmen.

3. Alcools – Der Durchbruch der modernen Lyrik
Alcools erscheint im April 1913 in einer Auflagenhöhe von knapp 600 Exemplaren; das Titelblatt trägt den Zusatz „Gedichte“ (1898–1913) und weiter den Hinweis „Mit einem Porträt des Verfassers von Pablo Picasso“. Es ist die bis dahin umfangreichste Publikation Apollinaires, die er ab 1910 mit großer Sorgfalt zusammengestellt hat. Daß er, was keineswegs üblich war, dieser Veröffentlichung ein Porträt beifügt, darf wohl als Ausdruck eines gewissen Selbstbewußtseins gewertet werden und der Hinweis auf Picasso als Anspruch auf Modernität. Fast alle Gedichte des Bandes waren im übrigen bereits seit 1901 in verschiedenen Zeitschriften erschienen, so daß Apollinaire sie jetzt nur noch zu ordnen brauchte. Doch wie ordnet er sie an? Und welche Bedeutung muß man dem Titel selbst beilegen?
Apollinaire hatte zunächst einen anderen Titel, Lebenswasser, im Sinn; erst 1912 entscheidet er sich für den heutigen. Beide Wörter entstammen zwar dem gleichen Bildbereich, doch hat Alcools gegenüber Eau de vie (Lebenswasser) den Vorteil der Unmittelbarkeit, der größeren Schönheit und Klangfülle. Darüber hinaus ist er moderner und soll programmatisch verstanden werden: Das im derart betitelten Band dargestellte Leben ist ein dionysisch gesteigerter Rausch, der, wie die Dichtung, alle inhaltlichen und formalen Konventionen sprengt. In der Tat verwendet Apollinaire in Alcools keinen metaphorischen Bereich mit solcher Intensität wie den der Trauben, des Weines und der Trunkenheit.
Die Frage der Anordnung der Gedichte innerhalb der Sammlung kann nicht eindeutig beantwortet werden: Klar ist, daß Apollinaire sie nicht in der chronologischen Abfolge ihres Entstehens ordnet. Das hätte seinem Leser einen unmittelbaren Einblick in seine künstlerische Entwicklung ermöglicht; doch hat Apollinaire eine solche Entwicklung immer negiert und darüber hinaus für Alcools als ganzes den Anspruch der Modernität erhoben; und das ist nur schwer mit der Vorstellung einer Entwicklung vereinbar. Die Anordnung erfolgt auch nicht nach einem formalen Prinzip wie z.B. dem des Wechsels zwischen langen und kurzen Gedichten oder zwischen solchen in regelmäßiger Metrik und solchen im Freien Vers. Schließlich läßt sich auch keine eindeutige Anordnung nach Themengruppen aufzeigen. Trotzdem sind einige Fixpunkte auszumachen. So hat das Eröffnungsgedicht der Sammlung, ,Zone‘, mit seiner Forderung nach Modernität ebenso wie mit seiner Klage über die Vereinsamung des Ich in der Großstadt zweifellos programmatischen Charakter. Ganz anders das Schlußgedicht ,Weinmond‘, das der Verzweiflung über die Einsamkeit einen kosmopolitischen Hymnus auf die Welt und das Universum entgegensetzt, die der Mensch dank der modernen Technik hat in Besitz nehmen können. Doch trotz solch deutlicher Markierungen besteht keine Progression von anfänglicher Verzweiflung zu einem optimistischen Schlußakkord. Als weitere Festpunkte lassen sich drei Zyklen ausmachen: die sechs Gedichte umfassende Gruppe der „Rheinlieder“; fünf unter dem Titel „In der Santé“ zusammengefaßte Gedichte, die 1911 anläßlich von Apollinaires Aufenthalt in diesem Gefängnis entstanden sind; das aus neun Teilen bestehende Gedicht „Verlobung“, das Picasso gewidmet ist. Schließlich fällt auf, daß nach ,Zone‘ und vor ,Weinmond‘ je eine Gruppe von (Liebes-)Gedichten angeordnet ist, in denen Melancholie und Verzweiflung dominieren. Jede weiterführende Systematisierung würde jedoch der subtilen Architektur der Sammlung mit ihren von Gedicht zu Gedicht sich fortsetzenden Schwingungen Gewalt antun.
Eine andere Eigentümlichkeit von Alcools verdient Erwähnung. Schon ein oberflächlicher Blick zeigt, daß keines der Gedichte irgend eine Form von Interpunktion aufweist. Darin vor allem unterscheidet sich die Fassung in Alcools von dem Vorabdruck der gleichen Gedichte, die mehrheitlich eine herkömmliche Interpunktion haben. Der Gedanke, die Satzzeichen im ganzen Band fortzulassen, kommt Apollinaire offenbar erst in dem Augenblick, da er die Druckfahnen korrigiert. Ähnliche Bestrebungen hatte es, wenngleich nicht in dieser Radikalität, schon früher, z.B. bei Mallarmé, gegeben. Apollinaire selbst hatte bereits einige Gedichte ohne Interpunktion veröffentlicht. Möglicherweise läßt er sich jetzt von dem Technischen Manifest des italienischen Futuristen Filippo Tommaso Marinetti leiten, der schon 1912 die Zerschlagung der Syntax und die Abschaffung der Zeichensetzung gefordert hatte. Die in Alcools praktizierte Konsequenz überrascht jedoch die zeitgenössischen Kritiker. In einem Brief vom Juli 1913 erläutert Apollinaire rückblickend sein Verfahren. Er habe die Interpunktion fortgelassen, „weil sie (ihm) überflüssig erscheint und es in der Tat auch ist; der Rhythmus und die Zäsur des Verses, das ist die wahre Interpunktion, und einer anderen bedarf es nicht. Im allgemeinen gehe ich beim Dichten auf und ab und singe nach zwei oder drei Melodien, die mir ganz natürlich eingefallen sind. Die herkömmliche Interpunktion würde zu solchen Liedern nicht passen“.2
Die Auswirkungen von Apollinaires Vorgehen kommen einer Revolution gleich: Die normalerweise durch die Zeichensetzung gegebene Orientierungshilfe für Sinnzusammenhänge, die eindeutige Perspektive, wird aufgehoben. Wörter, ja ganze Verse werden ambivalent; Gegenstände und Ereignisse treten zueinander in vielfältige, überraschende, oft auch doppeldeutige und unklare Beziehungen. Dadurch wird das Sinnpotential des Textes erweitert, aber auch seine Lektüre erschwert. Eine solche Erschließung eines neuen Sinngehalts hat Apollinaire vermutlich intendiert und sich die semantische Ambivalenz bewußt nutzbar gemacht. Es gibt noch heute – oder heute wieder – eine Schallplatte, auf der er den berühmten „Pont Mirabeau“ liest. Und wie um die Vieldeutigkeit seiner Verse zu dokumentieren, ist der Vortrag des Gedichts von absoluter Monotonie, so daß sich vielfältige Möglichkeiten semantischer Bezüge eröffnen.3 Diese Auflösung eindeutiger Sinnzusammenhänge durch den Autor verlangt vom Leser und Interpreten eine sehr viel aufmerksamere Lektüre. Anders und grundsätzlicher gesagt: Die epochale Neuerung von Alcools besteht in der Umkehr des Verhältnisses zwischen Autor, Leser und Werk. Nicht mehr der Autor gibt durch die Interpunktion einen mehr oder minder präzisen Sinn vor; vielmehr legt erst der Leser in einem autonomen Akt der Lektüre dem Text einen Sinn bei. Das Fortlassen der Interpunktion in einem literarischen Text ist schließlich mit der Aufhebung einer eindeutigen Perspektive in der kubistischen Malerei vergleichbar; auch dort herrschen oftmals in ein und demselben Bild mehrere Perspektiven, die den gleichen Gegenstand in verschiedenen Zusammenhängen erscheinen lassen. Die gleiche Wirkung erreicht Apollinaire durch das Fortlassen der Interpunktion. Daß die kubistische Malerei hier Pate gestanden hat, steht außer Zweifel: Im gleichen Jahr wie Alcools erscheint unter dem Titel Die Maler des Kubismus eine Sammlung kunsttheoretischer Texte Apollinaires, die seine intensive Beschäftigung mit dieser neuen Malerschule dokumentieren.
Aufgrund seiner fast fünfzehnjährigen Entstehungsgeschichte vermischen sich in Alcools verschiedenartige Einflüsse und Erlebnisse. Da sind zunächst einige vermutlich sehr frühe Texte aus der Zeit von Stavelot oder gar früher: „Merlin und die alte Frau“, „Der Eremit“ und „Der Dieb“, dunkle, geheimnisvolle und beunruhigende Gedichte, in denen Apollinaire sich, wie in der Erzählung Der verwesende Zauberer, entweder an der mittelalterlichen Merlinsage oder aber an Bildern und Mythen der Dekadenzbewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts inspiriert. Sind die männlichen Protagonisten Projektionen seiner selbst? Die Kritik steht diesen Gedichten großenteils ratlos gegenüber. Sie markieren vor allem einen Ausgangspunkt und zeigen den Weg, den Apollinaire durchlaufen mußte, um zu dem Dichter zu werden, der 1913 Alcools veröffentlichen wird. Die zeitlich nächstfolgende Gruppe sind die „Rheinlieder“, denen sich andere Gedichte aufgrund ihres Liedcharakters, ihrer Melancholie und ihres folkloristischen Rahmens zuordnen lassen: „Die Herbstzeitlosen“, „Dämmerung“ und „Annie“, ebenso „Der Pont Mirabeau“. Sie knüpfen an die Tradition des deutschen Volksliedes an, doch verbindet Apollinaire dessen Musikalität mit dem melodiös klagenden Tonfall Verlaines. Dies gilt besonders für den „Santé“-Zyklus, in dem er sich jener Gedichte erinnert, die Verlaine in gleicher Situation geschrieben hatte. Auch Herbstgedichte wie „Herbst“, „Kranker Herbst“ oder „Zeichen“ sind dieser Gruppe zuzuordnen; sie setzen die Tradition von „Herbst am Rhein“ aus den „Rheinliedern“ fort und verleihen dem seit der Romantik verwendeten Thema behutsam neue, lebensbejahende Nuancen: Der Herbst ist nicht mehr nur die Jahreszeit, die dem Winter vorangeht und in den Tod führt; er ist ebenso die Zeit der überschäumenden Fruchtbarkeit und der Ernte und das heißt zugleich der Faszination durch das Leben:

Und wie ich liebe oh Herbst wie ich deine Geräusche liebe
Die Früchte die fallen ohne daß man sie pflückt

Stimmungsmäßig überschneiden sich diese Gedichte häufig mit den Liebesgedichten. Von welchen Frauen Gedichte wie „Annie“, „Marie“, „Clotilde“ oder „Rosamunde“ inspiriert wurden, ist letztlich gleichgültig angesichts der Intensität der Gefühle der Einsamkeit, Vergeblichkeit und Verzweiflung, die sich in ihnen artikuliert. Die Mehrzahl von Apollinaires Liebesliedern sind Klagelieder. Das vollkommenste unter ihnen und sein bekanntestes ist „Der Pont Mirabeau“. Hier gelingt ihm eine enge Synthese von Bildern aus dem Bereich des fließenden Stromes als Spiegelbild der fließenden Zeit und der Vergänglichkeit der Liebe. Und dem Fluß des Stromes und der Zeit setzt er im Refrain das Verlangen nach Dauer und Beständigkeit entgegen, für die der konkrete Pont Mirabeau als Zeichen steht.

Unterm Pont Mirabeau fließt die Seine dahin
Unsre Liebe auch
Ist Erinnern Gewinn
Aus traurigem Sinn wird fröhlicher Sinn

Komm Dunkel Stunde eile
Die Tage gehn ich verweile

Aug in Aug laß uns bleiben und Hand in Hand
Ach unter der Brücke
Der Hände schwand
Die Welle von ewigen Blicken verbrannt

Komm Dunkel Stunde eile
Die Tage gehn ich verweile

Die Liebe vergeht wie der Strom der wogt
Die Liebe vergeht –

Wie das Leben stockt
Wie heftig die Hoffnung uns hinreißt und lockt

Komm Dunkel Stunde eile
Die Tage gehn ich verweile

Die Tage gehn hin und die Wochen gehn hin
Vorbei ist die Liebe
Nun Zeit verrinn
Unterm Pont Mirabeau fließt die Seine dahin

Komm Dunkel Stunde eile
Die Tage gehn ich verweile
(Ü: J. Hübner)

Kaum weniger bekannt ist – zumindest in Frankreich – das epische Ausmaße erreichende „Lied des Ungeliebten“. Wir werden im nächsten Kapitel darauf zurückkommen. Hier interessiert vor allem die Verbindung des Themas der unglücklichen Liebe mit dem des Außenseitertums; denn der Ungeliebte projiziert sich auf den Hintergrund eines nächtlichen, feindlichen London, um seiner Einsamkeit und Verlassenheit sodann kosmische Dimensionen zu geben. Ähnlich in den „Santé“-Gedichten, wo Apollinaire sich in der Gestalt des biblischen Lazarus sieht:

Erst hab ich nackt mich ausziehn müssen
Dann kam ich in die Zelle hier
Ach düster heulte das Gewissen
Guillaume was wurde nun aus dir

Ein Lazarus der niedersteigen
Ins Grab muß statt daraus zu fliehn
Dahin sind meine Liederreigen
Jahre und Mädchen o dahin
(Ü: L. Klünner).

Apollinaires Interesse für gesellschaftliche Außenseiter läßt sich schon in den „Rheinliedern“ nachweisen; „Schinderhannes“ ist ein erster Beleg dafür. Hier wird eine zweite Funktion dieser Thematik erkennbar: Mit seinen anschaulich ausgemalten Genreszenen ist „Schinderhannes“ Spiegelbild der Bewunderung Apollinaires für eine authentische, bewußt am Rande der Gesellschaft angesiedelte Lebensform. Das schönste Gedicht dieser Art ist „Marizibill“; es ist einer Kölner Prostituierten gleichen Namens gewidmet. Sie hat ein bewegtes Leben hinter sich; ein nach Knoblauch riechender rothaariger Zuhälter, ein Jude, hatte sie, aus Formosa kommend, aus einem Bordell in Shanghai mitgebracht. Nun ,schafft‘ sie in Köln für ihn ,an‘ und steht dabei doch ganz in Einklang mit sich selbst. Die zahlreichen Außenseitergestalten von Alcools sind Bestandteil einer persönlichen Mythologie Apollinaires und Projektionsfiguren seiner selbst. Sie in ihrer Vereinsamung, aber auch in ihrer authentischen Existenz zu zeigen, bedeutet für ihn einen Akt der Bewältigung seiner eigenen Außenseiterexistenz, des ,Makels‘ seiner Geburt, seiner fehlenden sozialen und nationalen Integration. Das reiche Spektrum seiner Außenseitergestalten ermöglicht ihm den vielfach schattierten Ausdruck der Verzweiflung, vor allem aber seines vitalen Lebenswillens. Zugleich reiht sich Apollinaire mit ihnen aber auch in eine lange literarische und künstlerische Tradition ein, die von François Villon (1431–1463) und seinen Balladen auf Huren und Spitzbuben des spätmittelalterlichen Paris bis zu den Clowns und Akrobaten aus Picassos rosa Periode reicht. In der Behandlung der Außenseitergestalten kommt damit nicht zuletzt eine bestimmte Auffassung vom Künstler und seinem Verhältnis zur Gesellschaft seiner Zeit zum Ausdruck.
In den bisher skizzierten Gedichten zeigt sich Apollinaire, trotz mancher formaler und inhaltlicher Innovationen im Detail, doch eng der lyrischen Tradition Frankreichs verbunden. Will man dagegen die Modernität von Alcools erfassen, eignet sich dazu kein Gedicht besser als „Zone“, das als Eröffnungsgedicht der Sammlung Berühmtheit erlangt hat. 1912 geschrieben, ist es das jüngste Gedicht von Alcools; zugleich gehört es mit seinen 155 Versen zu den längeren Gedichten der Sammlung. Im Dossier d’„Alcools“ hat Decaudin eine erste Fassung abgedruckt, die Einblick in den langsamen Entstehungsprozeß des Gedichtes erlaubt. Ursprünglich hatte Apollinaire es mit ,Schrei‘ betiteln wollen. In der Tat läßt sich „Zone“ als ,Verzweiflungsschrei‘ eines in der anonymen Großstadt verlorenen Menschen interpretieren. Doch hat Apollinaire schließlich das weniger pathetische, mehrdeutige ,Zone‘ vorgezogen. Der definitive Titel erklärt sich zunächst dadurch, daß sich Apollinaire im Augenblick der Abfassung des Gedichts im französischen Jura aufhielt und sein Blick von dort zur Schweiz hinüber auf das Zollgrenzgebiet, die ,Freihandelszone‘, schweifte. Metaphorisch verstanden ist „Zone“ ein Gedicht an der Grenze zweier Welten, einer alten, noch nicht endgültig überwundenen, und einer neuen, die erst in Umrissen faßbar ist. Die Eröffnungsverse mit ihren starken Oppositionen lassen eine solche Erklärung plausibel erscheinen:

Zuletzt bist du müde dieser veralteten Welt
O Eiffelturm Hirte die Herde der Brücken blökt heute morgen
Du hast es satt zu leben im griechischen und römischen Altertum
Sogar die Automobile sehn hier veraltet aus
Die Religion nur ist neu geblieben die Religion
Ist einfach geblieben wie die Flughafen-Hangars
(Ü: J. Hübner passim)

Weiter bezeichnet ,Zone‘ jene Elendsquartiere, die sich die durch die Haussmannisierung aus Paris vertriebenen Arbeiter illegal auf dem Terrain der ehemaligen Stadtbefestigungen errichtet hatten. Eine längere Passage mit Versen wie „Du stehst am Schanktisch einer wüsten Bar / Du trinkst einen Kaffee für zwei Sous inmitten von Unglücklichen“ (V. 135ff.) evoziert dieses Milieu der Verarmten und Entrechteten, die meist vergessene Kehrseite der Belle Epoque. Vom Bild der ringförmigen Stadtbefestigungen abgeleitet, bezeichnet ,Zone‘ schließlich etwas kreisförmig Abgeschlossenes, dessen Ende zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrt. Diese Bedeutungsebene ist für ,Zone‘ am zutreffendsten; denn sowohl die Handlungs- als auch die Raum- und Zeitstruktur sind kreisförmig angelegt, kehren also am Ende des Gedichts an dessen Anfang zurück.
So disparat sich „Zone“ bei einer ersten Lektüre darbietet, liegt dem Gedicht bei näherer Betrachtung doch eine Struktur zugrunde, in die sich die ungleichartigen Elemente letztlich sinnvoll integrieren lassen. Ausgangspunkt ist die Gestalt des Flaneurs, des ziellosen Wanderers durch das von der Industrialisierung geprägte moderne Paris. Doch tritt Paris als Ort des Geschehens bald in den Hintergrund, um Räumen der Erinnerung Platz zu machen: das Mittelmeer, Prag, Marseille, Koblenz, Rom, Amsterdam. Erst gegen Ende läßt sich eine Rückkehr in das ,konkrete‘ Paris beobachten. Ähnlich kreisförmig ist die Zeitstruktur des Gedichts, das an einem Morgen beginnt; um nach 24stündiger Odyssee am Morgen des folgenden Tages in Verzweiflung zu enden. Eingelagert in diesen zeitlichen Rahmen ist die Vergegenwärtigung schmerzvoller Ereignisse wie des Aufenthaltes in einem Gefängnis, die Evokation vergangener Reisen, die Erinnerung an den frühen Verlust des christlichen Glaubens. Das Bewußtsein des durch Paris streifenden Flaneurs ist der Ort, an dem sich alle evozierten Räume und Zeiten mit analogen oder ähnlichen Eindrücken seiner eigenen Vergangenheit überlagern. Daraus resultiert in „Zone“ eine kosmopolitische Interferenz und Vermengung verschiedener Religionen und ganzer Kulturkreise im Sinne einer Simultaneität und Ubiquität des Bewußtseins und seiner Inhalte.
Die Fülle der auf diese Weise evozierten Themen läßt sich hier nur andeutungsweise skizzieren. Das Gedicht ist antithetisch strukturiert. Dementsprechend verhalten sich die beiden etwa gleich langen Teile auch meist antithetisch zueinander. Der Aufwärtsbewegung des ersten Teils (V. 1–70), der in die Darstellung einer Himmelfahrt mündet, in der sich Christus, zahlreiche Heilige, Vögel aus allen Himmelsrichtungen und das Flugzeug vereinen, entspricht eine Abwärtsbewegung des zweiten Teils, die in dem provozierenden Bild „Sonne Hals durchhackt“ (V. 155) ein brutales Ende findet. Der Faszination, die im ersten Teil die moderne Großstadt ,ausstrahlt‘ entspricht die Verzweiflung des Flaneurs gegen Ende des Gedichts und dem sicheren Besitz eines modernisierten Christentums, symbolisiert in „Christus der besser gen Himmel fährt als die Flieger / Er hält den Höhenweltrekord“ (V. 40f.), die Flucht des Flaneurs zu den „Fetischen von der Südsee und aus Guinea / Christusse sind es von andrer Gestalt und eines anderen Glaubens / Es sind niedere Christusse dunkeler Hoffnungen“ (V. 151ff.). Der Kreisstruktur von „Zone“ in raum-zeitlicher Hinsicht entspricht auf inhaltlicher Ebene eine lineare Anordnung der Ereignisse, die nach der Aufwärtsbewegung des ersten Teils jäh abstürzend in Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung endet. Diesen Eindruck können auch die sich aufbäumenden programmatischen Verse vor dem Schlußbild kaum neutralisieren:

Und du trinkst diesen Alkohol der brennt wie dein Leben
Dein Leben das du trinkst wie einen Aquavit

(V. 148f.).

„Zone“ ist das düsterste Gedicht von Alcools, und dafür gibt es zunächst biographische Gründe: die Inhaftierung in der Santé, die nachwirkt, und der Bruch mit Marie Laurencin. Apollinaire hat „Zone“ später als „Gedicht vom Ende einer Liebe“ bezeichnet. Diese biographischen Reminiszenzen sind allerdings nur sehr diskret präsent. Darüber hinaus aber – und vor allem – ist „Zone“ innerhalb der französischen Lyrik des 20. Jahrhunderts der erste, auch stilistisch adäquate lyrische Ausdruck eines modernen Lebensgefühls der Vereinsamung und Entfremdung, ja Selbstentfremdung in der Großstadt. Vergleichbares findet sich allenfalls in Blaise Cendrars’ etwa gleichzeitigem Gedicht „Ostern in New York“. Doch sind die Neuerungen Apollinaires ungleich kühner als diejenigen Cendrars’. Dies zeigt sich vor allem an seiner Behandlung der Simultantechnik. Sie bewirkt in „Zone“ nicht mehr nur die gleichzeitige Präsenz verschiedener Örtlichkeiten und Zeiten im Bewußtsein des lyrischen Ich; dieses selbst ist hier erstmals in ein Ich und ein Du aufgespalten. Der Wechsel zwischen dem in Ichform sprechenden Dichter – „Ich sah eine hübsche Straße heut morgen ihren Namen vergaß ich“ (V. 15) und dem gleichzeitig in Du-Form sich selbst apostrophierenden – „Hier die junge Straße und du noch ein kleines Kind“ (V. 25) – durchzieht das Gedicht. Apollinaire macht damit Rimbauds Erfahrung „Ich ist ein anderer“ für die Lyrik nutzbar. „Zone“ ist daher der erste lyrische Ausdruck der Erkenntnis, daß jedes Ich immer mehr ist als die Summe seiner äußerlich sichtbaren Manifestationen. Durch die Identität des sprechenden Ich und des apostrophierten Du wird der oft radikale Gegensatz zwischen dem nach außen sich manifestierenden Ich und dem schwankenden Ich des Bewußtseins in „Zone“ grundsätzlich aufgehoben. Die Verdoppelung des lyrischen Ich, das einmal in Ichform spricht und sich dann wieder als Du apostrophiert, bewirkt zugleich eine direkte Einbeziehung des Lesers, dessen individuelle Erfahrungen dadurch eine allgemeinere, übergeordnete Gültigkeit erhalten.
Über diese inhaltlich-strukturellen Neuerungen hinaus machen, die ästhetischen und allgemein formalen Innovationen ,Zone‘ zu einem sehr modernen Gedicht. Die bereits erwähnte ,hübsche Straße‘ – „Sie liegt in Paris zwischen der Rue Aumont-Thiéville und der Avenue des Ternes“ (V. 24) – entfaltet den Charme einer Großstadtstraße in einem Arbeiterviertel und macht sie literaturfähig:

Die Inschriften der Firmenschilder und Mauern
Die Straßenschilder die Anschläge kreischen nach Papageienart
Die Anmut dieser Fabrikstraße ist mir lieb

(V. 21ff.).

Auch die Reklame mit ihrer grellen Buntheit dringt jetzt in die Lyrik ein:

Du liest die Prospekte Kataloge Plakate die lauthals singen
Das ist die Poesie heut morgen und für die Prosa sind die Zeitungen da

(V. 11f.).

Solcher Modernität der Sprache und Bilder entspricht eine Metrik, die sich an keine herkömmlichen Schemata mehr gebunden fühlt, sondern sich natürlich dem Rhythmus der Gedanken und Empfindungen anpaßt. Revolutionierend aber hat „Zone“ durch zwei Neuerungen gewirkt: das Fortlassen der Interpunktion und die unmittelbare, durchgängige Anrede des Lesers. Letzterer wird dadurch nicht nur sehr viel direkter in den Lektüreprozeß einbezogen; durch die bewußte Verrätselung der Bezüge wird auch in einer ganz neuen Weise an seine schöpferische Mitarbeit appelliert. Beides sind Verfahren, die sich zahlreiche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts im Gefolge Apollinaires zu eigen gemacht haben.

4. Epochenschwelle 1913
Die zeitgenössische Kritik reagiert zurückhaltend auf die Publikation von Alcools; sie nimmt vor allem am heterogenen Charakter der Sammlung Anstoß und vergleicht sie mit einem Trödelladen: Apollinaire schaffe nichts Neues, sondern betreibe ,Weiterverkauf‘; lediglich den ,buntgescheckten Kosmopolitismus‘ läßt man gelten. Die Heterogenität, die der Sammlung vorgeworfen wird, hat indes zur Folge, daß sich an ihr wie an keiner anderen Lyriksammlung der Epoche der Übergang von einem lebensfeindlichen Symbolismus des Fin-de-siècle zur teils enthusiastischen, teils skeptisch-kritischen Einschätzung der modernen technisierten Welt ablesen läßt. Zugleich kommt in ihr der für Apollinaires gesamtes Werk charakteristische poetologische Aspekt zum Ausdruck, Alt und Neu, Tradition und Fortschritt miteinander zu verbinden. In einem späteren Brief formuliert er dies wie folgt:

Die beste Art, ein ausgewogener Klassiker zu sein, besteht darin, mit seiner Zeit zu gehen und nichts von dem zu opfern, was die Alten uns haben lehren können.4

Das Ideal des ,ausgewogenen Klassikers‘ wird er noch in seinem letzten poetologischen Text, dem Jacqueline Kolb gewidmeten Gedicht „Die hübsche Rothaarige“, mit den antithetischen Begriffspaaren ,Ordnung und Abenteuer‘, ,Tradition und Erfindung‘ umschreiben. Das bewußte Anknüpfen an die literarische Tradition, Frankreichs und ihre Erneuerung entsprechend den Erfordernissen einer modernen, ständig im Wandel begriffenen, von der Technik bestimmten Welt – das ist die ästhetische Position, die der um Naturalisierung und Integration bemühte Ausländer Apollinaire für sich als angemessen erachtet.
Lediglich zu zwei Zeitpunkten seines lyrischen Schaffens hat sich Apollinaire von dem Kompromißideal eines ,ausgewogenen Klassikers‘ freigemacht: zwischen etwa 1906 und 1909 und um 1913. Beide Phasen werden durch Texte gekennzeichnet, die zu seinen schwierigsten zählen und von der Kritik kontrovers diskutiert werden. Im ersten Fall sind es „Lul de Faltenin“; dessen Titel bereits dunkel und unübersetzbar ist, dann „Holzkohlenglut“ und der Picasso gewidmete Zyklus „Verlobung“ aus Alcools; ferner das Prosagedicht „Onirocritique“, das, 1908 entstanden, ein Jahr später leicht überarbeitet das Schlußkapitel des Verwesenden Zauberers bilden wird (s. unten S. 83f.). Im zweiten Fall handelt es sich um einige Gedichte, die Apollinaire 1918 in dem ersten Teil von Calligrammes aufnimmt, insbesondere „Die Fenster“ und „Montag Rue Christine“. Vor allem die Gedichte der Jahre 1906–1909 hat er hoch eingeschätzt. So bezeichnet er „Holzkohlenglut“ als sein „bestes, wenn nicht sogar das am unmittelbarsten zugängliche Gedicht“ und „Verlobung“ sei „das neueste und lyrischste, das tiefste Gedicht“ von Alcools.5 Der Deutung dieser Gedichte sollen hier keine weiteren (Hypo-)Thesen hinzugefügt werden. Nur soviel sei gesagt: Apollinaire bedient sich in ihnen eines Sprach- und Bildmaterials, das zwar der gegenständlichen und psychischen Wirklichkeit entstammt, gleichzeitig jedoch nichts mehr abbilden will und damit gegenüber der Realität vollkommen autonom geworden ist. Daraus entsteht ein sich selbst genügendes poetisches Gebilde, das Apollinaire als „Triumph der Falschheit, des Irrtums, der Phantasie“ bezeichnet hat, „nichts, das uns gleicht und doch ganz nach unserem Bild“.6 Man kann es als ,surrealistisch‘ im Apollinaireschen Sinn des Wortes bezeichnen. Das heißt, daß es sich keinesfalls um Produkte einer ,automatischen Schreibweise‘ handelt, die dem Diktat des Unbewußten gehorcht. Vielmehr ist der Anteil der bewußten Konstruktion daran sehr hoch. Gerade hierin unterscheidet sich Apollinaires Surrealismus von demjenigen Bretons. Doch davon wird später zu sprechen sein.
Mit „Die Fenster“ und „Montag Rue Christine“ eröffnet Apollinaire die wohl avantgardistischste Phase seines Schaffens. Beide Gedichte sind 1912/13 in enger zeitlicher Nachbarschaft entstanden. Aus heutiger Perspektive markiert das Jahr 1913 für die Entwicklung der europäischen Kunst in allen Bereichen eine Epochenschwelle.7 Es scheint, als habe nach einer mehr als 40jährigen Friedensphase der drohende Krieg, den viele hellsichtige Künstler voraussahen, und dessen Opfer sie zu einem großen Teil wurden, ihren schöpferischen Geist noch einmal zu letztem Erblühen gebracht, zu einem ,Tanz auf dem Vulkan‘, bevor er im Irrsinn der Materialschlachten verstummte.
Von Marinetti inspiriert, verfaßt Apollinaire das Manifest Die futuristische Antitradition, ein ,Synthese-Manifest‘, wie es im Untertitel heißt, von provozierender Heftigkeit, das am 29. Juni 1913 gleichzeitig auf italienisch und französisch veröffentlicht wird. 8 Zunächst hebt er die herkömmliche Seitengestaltung auf, bedient sich verschiedener Schrifttypen, führt vertikale Schriftzüge und auch eine Notenzeile ein; inhaltlich operiert er mit stärksten Kontrasten, plädiert unter dem Stichwort! ,Destruktion‘ für eine Abschaffung der Syntax, des Adjektivs, der Interpunktion, der ,typographischen Harmonie‘, der Geschichte und vielem mehr; spricht sich unter dem Stichwort ,Konstruktion‘ für eine ,reine Literatur‘ aus, für ,befreite Wörter‘, für Schöpfung, Erfindung, Prophetie, eine Kunst der Geräusche, Lautmalerei, Schnelligkeit, Ubiquität, Simultaneität und für vieles mehr; ruft ,Scheiße‘ aus über Künstler, Kunstrichtungen, Stile, Städte, die allein der Tradition verhaftet sind, und verteilt ,Rosen‘ an die, die seiner Meinung nach in Kunst und Literatur den modernen Geist vertreten. Es ist viel über die Ernsthaftigkeit dieses Manifests gestritten worden. Doch selbst der Scherz hat seine tiefere Bedeutung, und die liegt im Fall von Apollinaires ,Synthese-Manifest‘ in einer bei ihm zuvor nie dagewesenen Freiheit gegenüber der Tradition, nicht nur der typographischen und syntaktischen, sondern der literarischen und ästhetischen Tradition insgesamt. Zumindest im Scherz praktiziert Apollinaire den Bruch mit dem Ideal einer ,ausgewogenen Klassik‘.
Im Umfeld des Manifestes entstehen die oben genannten Gedichte – „Die Fenster“ mit Sicherheit vorher, „Montag Rue Christine“ vermutlich danach. Alle Texte sind von dem gleichen ,antitraditionellen‘ Geist inspiriert; über allen liegt ein gleicher Hauch des Unernstes bzw. der Mystifikation. Diese beginnt bereits bei der Abfassung. Beide Gedichte werden von der französischen Kritik gern als ,Konversationsgedichte‘ bezeichnet. Der Begriff impliziert die Vorstellung, die Texte seien eher zufällig in Straßencafés entstanden, in denen Apollinaire mit Freunden an einem Tisch gesessen und Wortfetzen und Redeteile von Gästen oder Passanten in beliebiger Reihenfolge notiert habe. Für beide Gedichte sind entsprechende Anekdoten überliefert; beide können, so verstanden, durchaus als Konversationsgedichte gelesen werden. Hier der Beginn von

MONTAG RUE CHRISTINE

Die Portiersfrau und ihre Mutter lassen alles durch
Wenn du ein Mann bist kommst du heut abend mit
Einer braucht bloß in der Toreinfahrt zu stehn
Während der andre hochsteigt
Drei Gasflammen
Die Eigentümerin hat’s auf der Brust
Wenn du fertig bist spielen wir eine Partie Jacquet
Ein Dirigent der Halsschmerzen hat

Wenn du nach Tunis kommst zeig ich Dir wie man Kif raucht
(Ü: G. Henniger)

In dieser Weise setzt sich das Gedicht noch über 39 Verse fort. Ähnlich verhält es sich mit „Die Fenster“, das allerdings durch die Wiederholung des Eingangsverses gegen Ende stärker strukturiert erscheint. Die Frage, ob die Anordnung der Verse einer geheimen Logik gehorche, ob die Einteilung in ,Strophen‘ (nur in „Montag Rue Christine“) für die Konstituierung eines möglichen Sinnes von Bedeutung sei und welches überhaupt die Aussage eines solchen Gedichts sei, hat viele Interpreten zu langen Ausführungen angeregt. Verse wie „Es gilt ein Gedicht zu machen über den Vogel der nur einen Flügel hat“ („Die Fenster“) oder „Das scheint sich zusammenzureimen“, der in „Montag Rue Christine“ unmittelbar auf den obigen Auszug folgt, sind sogar als poetologische Aussagen gedeutet worden. Doch was sich in diesen Gedichten ,zusammenreimt‘, ist in erster Linie ihre Inkohärenz. Sie besitzen keinerlei nachvollziehbare Zeit- oder Raumstruktur, sondern sind in einem zeit- und räumlich nicht genauer lokalisierbaren ,Jetzt‘, also überall und nirgendwo, angesiedelt; auch wird keine Handlung dargestellt oder ein Zustand beschrieben. Gemessen an einer herkömmlichen Ästhetik, können die Gedichte nur mit negativen Kategorien beschrieben werden. Gerade darin aber liegt ihr neuer ästhetischer Reiz. Primär aus unzusammenhängenden Aussagen bestehend, sind sie die bewußt in Szene gesetzte Inkohärenz. Daher kann man sie auch ohne große Widerstände rückwärts lesen; denn syntaktische Unterordnungen und das heißt, über zwei oder mehr Verse sich erstreckende Sinneinheiten gibt es kaum. Sehr bewußt stellt Apollinaire meist banale Aussagen der Alltagssprache – oder solche mit nur scheinbar tieferem Gehalt – nebeneinander und ordnet sie in Gedichtform einander zu, um aus ihrer Inkohärenz und Inkongruenz neue poetische Spannung zu erzeugen. Zufällige und belanglose Äußerungen der Alltagssprache werden auf diese Weise in den Status der Zeitlosigkeit gehoben und mit neuer Würde versehen. Damit findet ein Verfahren der darstellenden Kunst Eingang in die Lyrik: das Ready-made, das Gebrauchsgegenstände des Alltags in neue Zusammenhänge stellt, um ihnen neue ästhetische Reize abzugewinnen; denn die beiden Gedichte sind großenteils nichts anderes als eine Zusammenstellung sprachlicher Ready-mades, die sich in ihrer gewollten Inkohärenz zu einem Kunstwerk neuer Ordnung vereinen. Welches Maß an Freiheit gegenüber einer herkömmlichen Ästhetik Apollinaire in diesen beiden Gedichten erlangt hat, wird deutlich, wenn man sie mit seinem frühesten ,Konversationsgedicht‘, ,Die Frauen‘ aus den „Rheinliedern“, vergleicht: Ein neunstrophiges Gedicht aus Vierzeilern mit regelmäßigem Reim, fortlaufender Konversations- und, Handlungsstruktur, eingebettet in die beunruhigende Stimmung eines Winterabends am Rhein. Mehrere Äußerungen Apollinaires belegen, daß er vor allem „Die Fenster“ sehr geschätzt hat. In einem Brief an Madeleine Pages schreibt er:

Meine Verse nach Alcools mag ich außerordentlich gern […] Ich habe mein möglichstes getan, um die dichterische Sprache zu vereinfachen, und das ist mir in einigen Fällen gelungen, besonders in „Die Fenster“. […] Es ist eines meiner Gedichte, das ich am liebsten mag.

Zugleich weiß er aber schon jetzt, 1915, daß er in diesen Gedichten einen Punkt erreicht und überschritten hat, zu dem es keine Rückkehr mehr gibt:

Sie entspringen einer ganz neuen Ästhetik, deren Impulse ich seither nicht wiedergefunden habe.9

5. Calligrammes – Eine ästhetische Bewältigung des Krieges
Apollinaires zweite große Lyriksammlung erscheint im April 1918. Mit 84 Gedichten ist sie umfangreicher als Alcools und verdient aus doppeltem Grund besondere Aufmerksamkeit. Apollinaire hat auch hier wieder im Untertitel den Entstehungszeitraum angegeben: „Friedens- und Kriegsgedichte“ (1913–1916). Calligrammes bietet also die seltene Chance, den Ausbruch des Krieges und dessen moralische und ästhetische Auswirkungen auf ein literarisches Werk konkret nachzuvollziehen. Der Band ist in sechs Teile gegliedert, die im wesentlichen chronologisch der Entstehungsgeschichte der Sammlung entsprechen. Das erste Kapitel, „Wellen“, enthält die noch vor Kriegsausbruch geschriebenen Gedichte, die der ,ganz neuen Ästhetik‘ von „Die Fenster“ und „Montag Rue Christine“ verpflichtet sind. Der zweite Teil, „Standarten“, umfaßt die Periode vom Ausbruch des Krieges bis zur Entsendung Apollinaires an die Front im April 1915. Den dritten Teil, „Protzkasten“,10 stellt Apollinaire im Juni 1915 an der Front zu einem selbständigen Gedichtband zusammen, der im Gelatinedruck in 25 Exemplaren vervielfältigt wird. Sie stellen heute eine bibliophile Kostbarkeit dar. In seinem sprachlichen und formalen Überschwang ist es, so merkwürdig es klingen mag, der heiterste Teil von Calligrammes, (der Zeugnis ablegt von der Begeisterung und dem Optimismus des jungen Infanteristen Guillaume Apollinaire. Die Teile vier und fünf, „Mündungsfeuer“ und „Mondfarbene Granate“, schildern das ,Wunder des Krieges‘ so der Titel eines Gedichts –, der für Apollinaire ein nie gesehenes Schauspiel darstellt, das er zum Teil mit patriotischen Tönen verherrlicht. Der sechste Teil schließlich, „Das gestirnte Haupt“, kann als Resümee des ganzen Bandes gelten. Einige Gedichte haben ausgeprägt poetologischen Charakter; so das bereits erwähnte „Die hübsche Rothaarige“ oder „Der Sieg“ mit seiner Forderung nach einer „neuen Sprache, zu der die Grammatiker aller Sprachen nichts mehr zu sagen haben“. Sie sind vermutlich erst 1917 nach Apollinaires Verwundung geschrieben, auf die der Titel dieses Teiles anspielt. In der großenteils chronologischen Anordnung seiner Gedichte ist Calligrammes ein wichtiges Zeugnis für die Bewältigung des 1. Weltkrieges durch einen der großen Dichter der Zeit.
Die zweite Besonderheit von Calligrammes kommt bereits im Titel zum Ausdruck und ist formaler Art. In vielen Gedichten des Bandes löst Apollinaire die Gedichtform kalligraphisch auf. Das heißt, daß er die regelmäßige Abfolge von Zeilen durch eine figürliche Anordnung der Wörter ersetzt, die Aussage des Gedichts also auch bildhaft darstellt und dadurch intensiviert. Das bekannteste Beispiel ist „Die Krawatte und die Uhr“ aus „Wellen“, in dem der Text sowohl die Form der Krawatte als auch der Uhr nachahmt und der Text von „Die Uhr“ noch dazu im Uhrzeigersinn zu lesen ist. Ein frühes kalligraphisches Gedicht heißt „Es regnet“; hier sind die Zeilen fast diagonal in Form des fallenden Regens auf der Seite angeordnet. Durch eine derartige bildhafte Darstellung des Textes erreicht Apollinaire die Simultaneität der Aussage auf inhaltlicher wie auch formaler Ebene.
Mit seinen kalligraphischen Gedichten reiht sich Apollinaire in die literarische und typographische Tradition der sog. Figuren- oder Bildgedichte ein, die sich bis in die Antike zurückverfolgen läßt. Ziel dieser visuellen Poesie ist es, den durch den Text ausgedrückten Gedanken graphisch oder malerisch zu veranschaulichen; der Text wird Bild oder Figur und seine Aussage dadurch verstärkt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts lassen sich in der französischen Literatur des Symbolismus und insbesondere bei Mallarmé Tendenzen zur Belebung dieser Tradition nachweisen, und man darf annehmen, daß Apollinaire solche Bestrebungen nicht unbekannt waren. Bereits in seinen Jugendgedichten findet sich ein kalligraphischer Entwurf. Es ist daher kaum verwunderlich, wenn der Gedanke einer Erneuerung der Lyrik durch eine bildhafte Anordnung des Gedichts bei ihm im Umfeld der „Ideenküche 1913“ konkrete Formen annimmt. Sein Manifest Die futuristische Antitradition mit seiner Forderung nach ,befreiten Wörtern‘ und der Abschaffung einer ,typographischen Harmonie‘ ist bereits eine erste Umsetzung solcher Vorstellungen. Doch zielt sein Ehrgeiz weiter auf eine Einbeziehung der Malerei. So stellt er für den Sommer 1914 einen Band mit dem Titel Auch ich bin Maler zur Subskription, der, wie der Untertitel präzisiert, eine Sammlung „bunter lyrischer Ideogramme“ sein soll, wegen des Kriegsausbruchs jedoch nicht erscheinen kann. Die ersten, später in „Wellen“ aufgenommenen Ideogramme finden sich daher im Sommer 1914 in den letzten Nummern der Soirées de Paris. Nach der Publikation von Calligrammes erläutert Apollinaire angesichts der zurückhaltenden Aufnahme des Bandes die Intentionen, die er mit den kalligraphischen Gedichten verfolgt: Es seien ,Versuche‘, um ausgetretene Pfade zu verlassen; in einer Zeit, da die herkömmliche Typographie zu einem glanzvollen Abschluß gelangt sei, stellten sie den Versuch einer drucktechnischen Weiterentwicklung dar, vergleichbar dem Kino und der Schallplatte, die ebenfalls eine neue Epoche der Wiedergabe von Kunst einläuteten.11 Er will also nicht so sehr an eine literarische Tradition anknüpfen als vielmehr eine seiner Zeit angemessene lyrische Ausdrucksform schaffen. Aus rückwärtiger Perspektive können wir heute feststellen, daß er dabei in bezug auf das Leseverhalten seines Publikums ähnlich revolutionierend gewirkt hat wie mit dem Fortlassen der Interpunktion in Alcools. Wie nämlich schon ein zeitgenössischer Kritiker feststellte, ist zum Verständnis der kalligraphischen Gedichte die herkömmliche analytisch-diskursive Lektüre unzureichend; vielmehr zwingen sie den Leser zu einer zweidimensionalen, ideographisch-synthetischen Leseweise, die ein wesentlich höheres Maß an Aufmerksamkeit erfordert, weil sie das Auge und den Geist zugleich anspricht.12
Die Komplexität solcher Kalligramme veranschaulicht sehr schön ein Gedicht wie „Die erdolchte Taube und der Springbrunnen“. Das Gedicht wurde vermutlich im Dezember 1914 in Nîmes geschrieben, doch erst 1918 in Standarten, dem 2. Teil von Calligrammes, veröffentlicht. Es ist zunächst visuell, ein höchst suggestives Gedicht, besonders wenn man es aus einiger Entfernung betrachtet: Der obere Teil zeigt das Bild einer Taube, die, dank ihres Symbolcharakters, die Vorstellungen von Liebe und Frieden evoziert; der mittlere Teil stellt den aufsteigenden und wieder in sich zusammenfallenden Strahl eines Springbrunnens dar; der untere Teil entweder den Brunnenrand oder aber, was wahrscheinlicher ist, die „Teure(n) blühende(n) Lippen“, von denen im oberen Teil des Gedichts gesprochen wird. Unabhängig von seinem Text ,verdichtet‘ sich das Kalligramm in der Abfolge seiner einerseits autonomen, andererseits eine Einheit darstellenden Bilder zu einer zusammenhängenden Aussage, wird also Ideogramm: Im Zusammenhang mit dem Titel suggeriert es auf der figürlichen Ebene die Einheit von Liebe, Frieden, Vergänglichkeit, Trauer und Tod.
Wie das Bild als ganzes gliedert sich auch der Text in drei Teile: Im oberen Teil zunächst die feierliche Beschwörung der einst geliebten Frauen; hier finden sich deutliche Anklänge an Villons bekannte Ballade über die Vergänglichkeit von Liebe und Schönheit. Das Bild der in Ekstase geratenden – und das heißt doch wohl, sich gegen das Ende der Liebe aufbäumenden – Taube verbindet sich schon hier mit Hoffnung (,beten‘) und Trauer (,weinen‘), die das aufsteigende und wieder in sich zusammenfallende Wasser des Springbrunnens bildhaft darstellt. Der mittlere Teil ist eine wehmütige Erinnerung an den Freundeskreis, den der Krieg zerrissen hat. Die dreifache Frage „Wo sind..?“ ist sprachliches Zeichen der inneren Unruhe, die die Möglichkeit des Todes mit einbezieht:

Vielleicht sind sie schon tot.

Im Augenblick bleibt nur ,die melancholische Erinnerung‘ und ,das Weinen des Springbrunnens‘. Im Französischen zeichnen sich die Achtsilber des Mittelteils mit ihren teils regelmäßigen, teils unreinen Reimen, ihren parallelen syntaktischen Strukturen und Alliterationen („meurent mélancoliquement“, „les noms se mélancolisent“, „pleure sur ma peine“) durch hohe Musikalität aus, die die deutsche Übersetzung kaum wiedergeben kann. Im unteren Teil geht die nüchterne Vorstellung der Nordfront, an der die Freunde jetzt kämpfen, in die des Todes über, konkretisiert in der „kriegerischen Blüte des in Strömen blutenden Rosenlorbeers“, wie es im Original heißt. Der in der Mitte des unteren Bildteiles angeordnete Schlußvers assoziiert in der Evokation des ,sinkenden Abends‘ die Vorstellung von Untergang und Tod, die sich abschließend zum Bild eines ,blutigen Meeres‘ ausweitet. Die sprachliche und bildliche Ebene dieses Gedichts gehen also eine enge Verbindung ein und intensivieren durch die Gleichzeitigkeit ihrer Aussage das enge Geflecht von Liebesklage, Trauer über Vergänglichkeit und Todesbedrohung, Friedenssehnsucht und diskreter Anklage des Krieges, das dieses Kalligramm insgesamt darstellt.
Es ist eines der ersten, die Apollinaire im Krieg geschrieben hat. Eine intensivere Klage über den Krieg oder gar eine Anklage seiner Greuel wird man in seinen Calligrammes nicht finden, auch nicht in jenen, in denen er auf eine bildhafte Darstellung verzichtet. Für ihn als Ausländer stellen der Kriegsausbruch und die Einziehung in erster Linie ein nationales Identifikationsangebot dar, das er bereitwillig annimmt. Später besingt er den Krieg als den Anbruch einer neuen Zeit, die dank neuer technischer Möglichkeiten und neu gewonnener Erfahrungen ein gesteigertes Lebensgefühl ermöglicht. So in ,Das kleine Auto‘, das Standarten eröffnet. Es besteht aus ca. 40 Versen und einem in der Mitte eingefügten Kalligramm, das die Seitenansicht eines Autos darstellt, Den äußeren Rahmen des Gedichts bildet eine nächtliche Autofahrt, die Apollinaire bei Kriegsausbruch von Deauville in der Normandie nach Paris unternimmt. Als Symbol des technischen Fortschritts hält hier das Auto in Wort und Bild Einzug in die Lyrik. Den gleichen Symbolwert besitzt aber auch der Kriegsausbruch, den das Gedicht als das Ende einer Epoche und den Beginn einer neuen begrüßt: „Wir nahmen Abschied von einer ganzen Epoche“, heißt es zu Beginn, und ähnlich am Ende bei der Ankunft in Paris: „Wir verstanden mein Kamerad und ich / Daß das kleine Auto uns in eine ganz NEUE Epoche geführt hatte“, eine Epoche, in der der Mensch sich dank des Flugzeugs wie Ikarus in die Lüfte erheben kann, „Höher als der Adler schwebt / Der Mensch kämpft dort gegen den Menschen / Und steigt plötzlich herab wie eine Sternschnuppe“.
Die hier bereits antizipierte Ästhetisierung eines Flugzeugabsturzes im Bild der Sternschnuppe findet in „Mondfarbe Granate“ ihr Pendant in der Verherrlichung der „Wunder des Krieges“. Der Krieg ist jetzt der Garant eines neuen, poetisch und erotisch gesteigerten Lebensgefühls. Dank seiner technischen Errungenschaften ermöglicht er das Gefühl einer das Universum umfassenden Allgegenwart und Omnipotenz, die zu besingen Apollinaire als seine Aufgabe erachtet:

Ich hinterlasse der Zukunft die Geschichte Guillaume Apollinaires
Der im Krieg war und überall zu sein verstand
In den glücklichen Städten hinter der Front
Im ganzen Rest der Welt
In all denen die kriechend im Stacheldraht sterben
In den Frauen in den Kanonen in den Pferden
Am Nordpol am Südpol in den vier Himmelsrichtungen
Und in der einzigartigen Glut dieser Nacht vor dem Kampf

Was Apollinaires Kriegslyrik gänzlich fehlt, ist die Anteilnahme, die Betroffenheit, das Entsetzen vor dem Tod, der ihm selbst nur einen kurzen Aufschub gewähren sollte. ,Die Schrecken des Krieges‘ gibt es daher in seiner Lyrik nicht, oder aber sie werden dialektisch als technischer Fortschritt gedeutet. So in „Krieg“ aus „Protzkasten“:

Hauptkampfgebiet
Hörkontakt
Man schießt in die Richtung „aus der Geräusche kommen“
Die Jungen des Jahrgangs 1915
Und dieser elektrisch geladene Stacheldraht
Weint also nicht über die Schrecken des Krieges
Vorher besaßen wir nur die Oberfläche
Der Erde und der Meere
Nachher werden wir die Abgründe besitzen
Das Erdinnere und den Luftraum
Herren des Steuerruders
Nachher nachher
Nehmen wir uns alle Freuden
Der Sieger die sich entspannen
Frauen Spiele Fabriken Handel
Industrie Landwirtschaft Metall
Feuer Kristall Schnelligkeit
Stimme Blick Takt jeder für sich
Und zusammen im von fern herkommenden Takt
Von noch weiter her
Vom Jenseits dieser Erde

Die ersten fünf Zeilen skizzieren im Telegrammstil einen Ausschnitt aus dem Alltag an der Front. Überraschend und mit dem Anspruch auf logische Anknüpfung schließt die Aufforderung an, „also nicht über die Schrecken des Krieges zu weinen“. Daß „die Greuel des Krieges“ im Grunde keine sind und warum sie „also“ auch nicht beweint werden sollen, erläutern die Verse 7 bis 14. Sie sind antithetisch angeordnet: Vor dem Krieg war die Welt klein; der Mensch beherrschte nur ihre Oberfläche; nach dem Krieg aber werden dem Menschen alle bisher verschlossenen Bereiche offenstehen: „Die Abgründe“ sind ein Hinweis auf die Erschließung der Meere durch die deutschen Unterseeboote; das Flugzeug erfüllt den Menschheitstraum, sich wie Ikarus zum Himmel zu erheben und den „Luftraum“ zu erobern; „das Erdinnere“ schließlich ist ein Hinweis auf die endlosen Schützengräben, die ganze Landstriche durchziehen und in denen die Soldaten oft Wochen und Monate verbringen müssen. So erweist sich der Krieg als faszinierendes Mittel zu einer bisher unbekannten Beherrschung der Natur durch den Menschen. Dies neue Herrschergefühl resümiert sich für Apollinaire in der traditionellen Metapher des Steuermannes, der das Schiff des Staates oder einer neuen Menschheit ungefährdet durch die tosende Brandung lenkt. Der Schlußteil des Gedichts ist eine hymnische Aufzählung der Freuden, die die Sieger am Ende des Krieges kosten werden. Charakteristisch für Apollinaires Fortschrittsgläubigkeit, die sich auch den Krieg noch zunutze macht, ist hier die allmähliche Ausweitung der Perspektive: Vom persönlichen Bereich („Frauen Spiele“) erweitert sie sich über den überindividuellen („Fabriken…“) bis in den der Elemente („Feuer“) und des Mineralischen („Kristall“); das Losungswort „Schnelligkeit“ suggeriert unendliche Entfernungen und große Räume; auch die sinnlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten des Menschen werden sich derart verändern, daß sein Lebensrhythmus schließlich in Einklang stehen wird mit dem des unendlichen Kosmos. Der Krieg ermöglicht es dem Menschen, die ihm bisher gesetzten Grenzen im Sinne einer weltumspannenden Simultaneität und Ubiquität zu übersteigen. Er wird daher, wie der antike Mythos des Ikarus, seinerseits zu einem Mythos, in dem sich neue Möglichkeiten des Menschseins eröffnen, deren Verwirklichung jedoch noch in weiter Ferne liegt. Doch antizipierte nicht auch der Mythos des Ikarus einen einst utopisch anmutenden Traum, der inzwischen Wirklichkeit geworden ist?
Auffällig an „Krieg“ sind besonders die stilistischen Eigenheiten. Es gibt nur wenige finite Verbformen und syntaktisch ausformulierte Sätze; vorherrschend ist ein Telegrammstil, der durch die Aneinanderreihung von Wortgruppen oder einfachen Substantiven charakterisiert wird. Apollinaire setzt in „Krieg“ wesentliche Forderungen seines eigenen Manifestes, der Futuristischen Antitradition, in die lyrische Praxis um. Intensiviert wird durch ein solches Stilverhalten zweifellos der Simultane Charakter der durch die Substantive evozierten Gegenstandsbereiche, vor allem aber die Vorstellung von Schnelligkeit: Die unverbundene Aneinanderreihung von Substantiven ist in seiner Kriegslyrik das stilistische Korrelat jener ,Schnelligkeit‘, die dank des technischen Fortschritts den Kriegsalltag zu einem modernen Mythos werden läßt.

6. Bestiarium und Vitam impendere amori – Ein Leben im Mythos
Zwei kleinere Gedichtzyklen stehen meist im Schatten von Alcolls und Calligrammes und sind doch kaum weniger repräsentativ für Apollinaire: Bestiarium oder Das Gefolge des Orpheus und Vitam impendere amori,13 im März 1911 bzw. November 1917 erschienen. Da Apollinaire bereits 1908 eine Erstfassung des Bestiariums in La Phalange veröffentlicht, fallen die beiden Zyklen etwa mit Beginn und Ende seiner Publikationstätigkeit zusammen. Jedes von ihnen ist daher auch für einen zentralen Aspekt seines Werkes charakteristisch.
Bestiarium besteht aus der Abfolge von dreißig meist vier- oder fünfzeiligen Achtsilbern, die witzig-virtuos in epigrammatischer Kürze und nicht ohne Hintersinn wesentliche Eigenschaften einiger ausgewählter Tiere besingen. Der Band entsteht in enger Zusammenarbeit zwischen Apollinaire und Raoul Dufy, der jedes Gedicht mit einem Holzstich illustriert. Orpheus, dem mythischen Sänger, sind vier Gedichte gewidmet. In einem Kommentar schreibt Apollinaire:

Wenn Orpheus spielte und dazu sang, kamen sogar die wilden Tiere, um seinen Gesang zu hören. Orpheus erfand alle Wissenschaften, alle Künste. Begabt mit Magie, kannte er die Zukunft und sagte im christlichen Sinne das Kommen des HEILANDS voraus. (Ü: K. Krolow passim).

Im ,Gefolge des Orpheus‘ versammeln sich Tiere aller Art, ,niedrige‘ und ,hohe‘: Schildkröte, Dromedar, Hase, Schlange, Katze, Qualle und Fliege, aber auch Löwe und Elephant. Sie alle sind Abbild der göttlichen Schöpfung und darum schön und der Bewunderung wert. Daher singt Orpheus:

Seht nur die ekelhafte Schar
Der tausend Füße, hundertfach bedeckt
Mit Augen: Rädertier, Insekt,
Milbe, Mikrobe – und so wunderbar
Wie sieben Weltwunder gefaßt
Und Rosamundes herrlicher Palast!

Das Geheimnis der Schöpfung, die Schönheit der Welt, die Unerbittlichkeit des Lebens, die Widersprüchlichkeit der Liebe – das sind die großen Themen dieser kleinen Gedichte. Wie die Bestiarien des Mittelalters und der Renaissance vermitteln sie nicht einfach Wissen über eine exotische oder heimische Tierwelt, sondern gewähren Einblick in einen ganzen Kosmos: in die innerste Welt Apollinaires. Hier wenigstens zwei dieser hintergründigen Vierzeiler:

DER DELPHIN
Delphine, ihr spielt auf dem Meer.
Doch die Flut kommt stets bitter daher.
Floh die Freude nicht manchmal: ein Trug?
Das Leben ist bitter genug,

DER FLOH
Flöhe, Freunde, selbst Geliebte noch,
Die uns wert sind: sie sind grausam doch,
Denn für sie fließt unser Blut allein.
Welch ein Unglück:
so geliebt zu sein.

Die Orpheus gewidmeten Gedichte zeigen, wie sich Apollinaire, in einem seiner frühesten Werke, in die Gestalt des Sängers und Sehers, des Erfinders der Wissenschaften und Künste, projiziert. Seine Botschaft – das sind hier die ,Wunder der Welt‘, die ,Bitternis des Lebens‘, die ,Grausamkeit der Liebe‘, poetisch transponiert und sublimiert in dem vielleicht schönsten Buch, das er zu Lebzeiten veröffentlicht hat. 1919 vertont Francis Poulenc einige Gedichte und verwirklicht damit die für Apollinaire so wichtige Synthese von Wort, Bild und Musik.14 Kommerziell ist Bestiarium ein Mißerfolg: Von den 120 Exemplaren der Auflage werden knapp fünfzig verkauft; der Rest wird verramscht.
Die Orpheusgestalt, im Bestiarium erst in Umrissen erkennbar, ist neben anderen mythischen Transpositionen, insbesondere Merlin im Verwesenden Zauberer und Croniamantal im Gemordeten Dichter, zeitlebens die bevorzugte Identifikationsfigur des Dichters Apollinaire. 1917 kommt er in dem Kalligramm ,Orpheus‘ ein letztes Mal darauf zurück, um jetzt den Frieden zu beklagen, „der ebenso ungeheuerlich sein wird wie der Krieg“; denn „die Zeit der Demokratischen Tyrannei“ werde hereinbrechen, „Eine schöne Zeit in der man sich gegenseitig wird lieben müssen / Und von niemand geliebt wird.“15 Die Identifikation mit mythischen Dichtergestalten erlaubt es Apollinaire, sich als Mittelpunkt einer ständigem Wandel unterworfenen Welt zu begreifen. Ihren Stimmen Gehör zu verschaffen, darin sieht er seine Aufgabe als Dichter. Wesentliche Teile seines Werkes lassen sich auf mythische Vorbilder zurückführen und von daher legitimieren. Der Mythos ist für ihn eine ordnungsstiftende Lebens- und Denkform.16
Der zweite Gedichtzyklus, Vitam impendere amori, umfaßt nur sechs kurze Gedichte, nun allerdings wieder in Strophenform. Sein Titel ist möglicherweise eine Parodie von Rousseaus Devise ,Vitam impendere vero‘, die ihrerseits auf den römischen Satiriker Juvenal zurückgeht. ,Das Leben der Liebe weihen‘ – und nicht ,dem Wahren‘ – entspricht den ureigensten Intentionen Apollinaires. Davon wird im nächsten Kapitel die Rede sein. Die strenge Form der Gedichte hat die Vermutung aufkommen lassen, Apollinaire bevorzuge nach seiner Verwundung und Genesung wieder traditionellere Formen. Das trifft indes nur bedingt zu. Unüberhörbar sind aber im letzten Gedicht des Zyklus, dem „Orpheus“ – Kalligramm des gleichen Jahres vergleichbar, Klage und Verzweiflung über die eigene Zeit:

O meine Jugend ward zuschanden
Wie ausgeblichene Guirlanden
Schon fühl ich nahen eine Zeit
Voll Argwohn und Erbärmlichkeit.

Dieser Einleitungsstrophe entspricht die identische Schlußstrophe, die lediglich ,Argwohn‘ durch ,Vernunft‘ ersetzt. Das Schlußkapitel „Apollinaire 1918“ wird zeigen, wie zeittypisch diese Klage ist, die erträglich wird allein durch die Hoffnung auf einen Neubeginn der Liebe, wie ihn der Titel der Sammlung impliziert. Die Erwartung, die Liebe werde, wie der Frühling im Wechsel der Jahreszeiten, ,ebenso zärtlich‘ wiederkehren (s. unten S. 70), ist ihrerseits Ausdruck eines geradezu mythischen Denkens, das die Traurigkeit mildert, die über Vitam impendere amori liegt.

IV. Die erotischen Dichtungen
1. Von Mareye zu Ruby: Formen der Liebe

Apollinaires Dichterruhm beruht gewiß zu einem großen Teil auf seiner Liebeslyrik. Doch ist er nicht nur der Autor schöner, harmonischer Gedichte im Stile des „Pont Mirabeau“ und vergleichbarer aus den „Rheinliedern“ oder ausgewählter Strophen aus dem „Lied des Ungeliebten“. Neben diesem Anthologie- und Schulbuch-Apollinaire, der uns vor allem in Alcools entgegentritt, gibt es auch den anderen, der die pornographischen, ja sadistischen Seiten der Liebe kennt und beschreibt und sein eigenes Liebesverhalten bis zu diesen Grenzen ausgedehnt hat. Diese Seite des Apollinaireschen Werkes ist erst in den letzten Jahren intensiver erforscht worden.
Apollinaires Biographie hat gezeigt, daß jede Etappe seines Lebens von einer unverwechselbaren Liebeserfahrung bestimmt wird und ihn zu Gedichten inspiriert, die als seine schönsten gelten. In Stavelot ist es Maria Dubois, die den jungen Dichter – nur platonisch – liebt und ihn in wenigen Wochen zu Hunderten von Gedichten angeregt haben soll, die sie vor ihrem Tode vernichtet hat… Als Mareye lebt sie in einigen erhaltenen Gedichten fort, die weniger von Liebesglück zeugen, als vielmehr die bange Fragc stellen:

Sag es mir meine Liebe ist es wahr daß Du mich liebst?

Ein Leitmotiv der Apollinaireschen Liebeslyrik, das des ,Ungeliebten‘, dessen leidenschaftliche Liebe unerwidert bleibt, klingt hier erstmals an:

Ich liebte sie in Liebe liebte sie mich wer weiß?17

Die erste große Leidenschaft seines Lebens ist in Neu-Glück die Engländerin Annie Playden, der er die Heirat anträgt. Doch verängstigt durch sein stürmisches Werben und seine Eifersucht, flieht sie vor ihm. Apollinaire leidet unter diesem ,Ungeliebtsein‘; einige „Rheinlieder“ bewahren das Echo dieser schmerzhaften Erfahrung. In „Loreley“ stürzt sich die Liebende aus Verzweiflung über verschmähte Liebe in den Tod; in „Mai“ erklingt die Klage über die Zerbrechlichkeit der Liebe:

Die Blütenblätter die im Mai vom Kirschbaum fallen
Sind die Fingernägel jener die ich so geliebt
Verwelkt sind sie wie ihre Augenlider

Apollinaire hat Annie noch zweimal in London aufgesucht; sie wandert nach Amerika aus und entzieht sich ihm damit endgültig. Die Verzweiflung über diese gescheiterte Liebe ist in das erstmals 1909 veröffentlichte „Lied des Ungeliebten“ eingegangen. Es ist der bis dahin längste lyrische Text Apollinaires, den er für Alcools überarbeiten wird: ein Kleinepos in 59 Strophen zu je fünf Achtsilbern, dessen Protagonist in einer Odyssee der Einsamkeit London und Paris durchstreift und seiner Verzweiflung und Verlorenheit in mythischen Bildern kosmische Dimensionen verleiht. So in der leitmotivisch wiederkehrenden Anrufung der Milchstraße:

Milchstraße o leuchtende Schwester
Der weißen Flüsse Kanaans

Und der weißen Körper der liebenden Frauen
Folgen wir tote Schwimmer mühsam
Deinem Lauf zu anderen Nebeln?

Dieses großartige, schwierige, vielfach dunkle Gedicht, von Léo Ferré suggestiv vertont,18 inzwischen liegen sämtliche Briefe Apollinaires ungekürzt vor. Diese Briefe an Lou19 sind ein einmaliges literarisches Dokument von unmittelbarer Authentizität, ein leidenschaftlicher Liebesroman, der die Vergangenheit beschwörend evoziert und die Zukunft mit glühender Sinnlichkeit imaginiert. Die Allgegenwart des Krieges und des Todes, zunächst in der Kaserne von Nîmes und dann an der Front, steigert die Liebesschwüre und Sehnsuchtsausbrüche oft ins Maßlose (s. unten S. 65ff.).
Am 2. Januar 1915 macht Apollinaire auf der Rückreise von Nizza, wo er das Jahresende mit Lou verbracht hat, die Bekanntschaft einer jungen Frau, Madeleine Pagès, mit der sich ab April des gleichen Jahres ein lebhafter Briefwechsel entwickelt. Oft schreibt er täglich an Lou und Madeleine, deren Bild sich bald mit demjenigen Lous verbindet und es schließlich ganz verdrängt. So nimmt die Korrespondenz mit der in Oran lebenden Madeleine immer leidenschaftlichere Formen an, ja Apollinaire ,beichtet‘ ihr seine früheren Liebschaften und verlobt sich brieflich mit ihr. Nach einem Aufenthalt in Oran Ende 1915 geht ein Bruch durch die Korrespondenz; der leidenschaftliche Ton der Briefe nimmt ab; offensichtlich ist Apollinaire durch das bürgerlich-gesittete Milieu der Familie Madeleines irritiert. Doch setzt er Madeleine für den Fall seines Todes als Alleinerbin ein. Als sie ihn nach seiner Verwundung besuchen will, lehnt er dies ab; seine Briefe werden kürzer und seltener; schließlich bricht der Briefwechsel ganz ab. Apollinaire hat sich von Madeleine gelöst. Einen Teil der in die Briefe eingefügten Gedichte hat er später in Calligrammes aufgenommen; der gesamte Briefwechsel ist unter dem Titel … zart wie dein Bild erschienen und gehört heute zu den beredten Zeugnissen einer ,Liebe in den Zeiten des Krieges‘.20
Die Korrespondenz mit seinen ,Kriegsbräuten‘ zeigt, nach dem Scheitern seiner bisherigen Beziehungen, Apollinaires rastlose Suche nach menschlicher Bindung, den Wunsch nach Überwindung des ,Ungeliebtseins‘. Wichtiger ist indes der poetische Aspekt: In einer Situation akuter existentieller Bedrohung verselbständigt sich die Phantasie, und so findet Apollinaire im erotisch-sexuellen Bereich nun zu jenen ,befreiten Wörtern‘, die er im Manifest Die futuristische Antitradition für die moderne Dichtung gefordert hatte. Davon spricht das am 15. Oktober 1915 an Madeleine geschickte Gedicht „Im Unterstand“ aus Calligrammes:

Ich tröste mich über die Einsamkeit und alle Schrecken
Indem ich Deine Schönheit erfinde
Um sie über die entrückte Welt zu erheben
[…]
Gibt es Dich meine Liebe
Oder bist Du nur ein Wesen das ich erschaffen habe ohne es zu wollen
Um meine Einsamkeit zu bevölkern
[…]
Ich bete Dich an oh meine Göttin selbst wenn Du nur in meiner Phantasie existierst.

Seiner Liebe zu Jacqueline Kolb ist keine lange Dauer beschieden; das bürgerliche Glück, das der Dichter erhofft hatte, findet durch seinen frühen Tod ein jähes Ende. Wie sich gerade mit Ruby, „Der hübschen Rothaarigen“, poetisch das Ideal einer ,ausgewogenen Klassik‘ verbindet, verdeutlicht das ihr gewidmete Gedicht gleichen Titels. Gegenüber dem entfesselten Apollinaire der Gedichte und Briefe an seine Kriegsbräute bedeutet dies, menschlich wie dichterisch, eine deutliche Rücknahme früherer Positionen. In allen Phasen aber, im Gefühl des ,Ungeliebtseins‘ ebenso wie in der ,pornographischen Entfesselung‘ und ,bürgerlichen Beruhigung‘, ist Apollinaires Liebe eine Liebe ,in der Zeit‘, geprägt von den historischen Bedingungen einer Epoche.

(…)

3. Die ,neue Sprache‘ der Leidenschaft

Daß Apollinaire nicht zur Kategorie des platonisch sich verzehrenden oder sehnsüchtig schmachtenden Liebhabers gehört, bedarf keiner Erwähnung mehr. Liebe ist für ihn in hohem Maße eine physische Angelegenheit. Dennoch ist seine Liebessprache facettenreich und umfassend; sie reicht vom Ausdruck der zartesten Empfindung und Erfüllung über Sehnsucht, Trauer, Schmerz und Verzweiflung bis zu brutaler Inbesitznahme und Vergewaltigung. Manches ist hier schon angeklungen; einige weitere Beispiele sollen das noch einmal veranschaulichen.
Das Idealbild der geglückten Liebe besteht für Apollinaire in der ganz mediterran-heidnischen Vorstellung einer körperlichen Liebe ohne seelische Komplikationen, die sich im Augenblick erfüllt. Eine solche geglückte Liebe findet sich im „Lied des Ungeliebten“. Bezeichnenderweise ist es eine Rückerinnerung an glücklichere Zeiten, ein ,Frühlingsständchen‘ im Stile Watteaus und des Rokoko, gesungen an einem sonnigen Aprilmorgen: Drei Strophen, deren erste und dritte Rahmenfunktion haben, den Frühling besingen und zur Liebe einladen, während die mittlere medaillonhaft die sinnlich ausgelassene Liebe heidnischer Götter evoziert.

Nun ist es Frühling komm Pâquette
Wir gehn spaziern im hübschen Wald
Die Hühner gackern um die Wette.
Das Frühlicht lugt aus rosigem Spalt
Die Liebe legt dich an die Kette

Venus und Mars sind heimgekehrt
Sie küssen sich mit trunknem Munde
Die Fluren liegen unversehrt
Rosige Götter ziehn die Runde
Nackt unter Rosen unbeschwert

Komm meine Zärtlichkeiten zwingen
Die schönen Blüten auf den Plan
Natur will uns zu Herzen dringen
Im Walde bläst die Flöte Pan
Die glitzerfeuchten Frösche singen.

(Ü: L. Klünner)

Doch wie in aller Liebesdichtung dominiert auch bei Apollinaire die Klage über die Vergänglichkeit der Liebe. Zu den vollkommensten Gedichten zählen bei ihm neben „Pont Mirabeau“ und einigen „Rheinliedern“ die kurzen strophigen Gedichte aus Vitam impendere amori. Die Anklänge an den Symbolismus sind hier noch deutlich spürbar. Die Musikalität und Leichtigkeit der Bilder neutralisieren ästhetisch die Verzweiflung über die Flüchtigkeit der Liebe; die Klage wird zur reinen Musik, die die Hoffnung auf neue Liebe birgt. Hier das Gedicht, das den Zyklus eröffnet: Zwei Strophen zu je vier Achtsilbern, ausschließlich aus kurzen Hauptsätzen bestehend.

Die Liebe erstarb in deinen Armen dir
Kannst du dich an sie noch erinnern
Sie starb doch neu begegnest du ihr
Sie kann sich an dich noch erinnern

Ein Frühling ist nun Vergangenheit
Wie liebevoll war er und zärtlich
Ade verflossene Jahreszeit
Auf ein Wiedersehn ebenso zärtlich
(Ü: L. Klünner)

Ein ganz anderer Apollinaire begegnet dem Leser in den „Freien Versen“.21 Der Dichter steht hier in einer literarischen Tradition, die etwa so alt ist wie die französische Literatur selbst. In der Reihe Meister der Liebe hatte er 1910 einen Band Libertinistische Dichtung des 19. Jahrhunderts herausgegeben. Alles die Sexualität betreffende, heißt es im Vorwort, sei außerordentlich wichtig und das Ausmaß der Heuchelei beunruhigend; doch gebe es eine von Rabelais zu Verlaine reichende Tradition von Autoren, die „die natürlichen Dinge bei ihrem Namen nennen“. Und er folgert:

Es gibt keine zwei Freiheiten, wie es auch keine zwei Künste gibt.22

Daher sind seine „Freien Verse“ ein sehr kunstvolles Spiel mit Elementen der literarischen Tradition, mit viel Witz und dem Willen zur Überbietung, doch bisweilen auch mit echtem oder gespieltem Tiefsinn. So in 69 6666…69…

Die umgekehrte 6 und 9
Erscheinen als seltsame Ziffer 69
Zwei prophetische Schlangen
Zwei Regenwürmchen
Unzüchtige und kabbalistische Zahl
6 3 und 3
9 3 3 und 3
Dreifaltigkeit
Die endlich wiederkehrt
Dreifaltigkeit allüberall
Mit der Zweifaltigkeit
Denn 6 zweimal 3
Und Dreifaltigkeit 9 dreimal 3
69 Zweifaltigkeit Dreifaltigkeit
Und diese Geheimnisse dürften noch dunkler sein
Doch hab ich Angst sie zu ergründen
Wer weiß ob da nicht Ewigkeit ist
Jenseits des Tods mit der Quetschnas
Der einzig zum Neckspaß Angst macht
Und Kummer mummelt mich ein zuletzt
Wie ein Nebel-Tuch mit Trauerspitze besetzt
Heut abend.
(Ü: L. Klünner)

Mag manches an den bisherigen Gedichten noch traditionell anmuten, so erfolgt der Durchbruch zu einer neuen lyrischen Sprache der Leidenschaft in der Korrespondenz mit Lou und Madeleine. Der Auslöser ist zunächst Lou selbst, „die schamhafteste aller Schamlosen“.23 Auf ihre schnell erwachten moralischen Bedenken antwortet Apollinaire mit dem Gedicht „Weil du mir von Laster gesprochen hast“. Es ist eine Hymne auf eine befreite sexuelle Phantasie, die alle Tabus transzendiert:

Wir können unsere Einbildungskraft spielen
Unsere Sinne auf den Trümmern dieser Welt tanzen lassen

[…]
Anbeten sollst du meine wilden Wünsche
Niederknien kann ich wie zu einem Altar
Vor deiner Kruppe die mein Rasen blutig peitscht
Unsere Liebe bleibt rein wie ein blauer Himmel.
24

Der hemmungslose Ausbruch der Leidenschaft in den folgenden Briefen erklärt sich jedoch auch aus einem latenten Todesbewußtsein, das eng mit den erotischen Phantasien verknüpft ist. In einem längeren Gedicht an Lou vom 30. Januar 1915 entfaltet Apollinaire die Obsession des eigenen Todes und fügt als Postskriptum ein Akrostichon an, das seine Todesahnung bündig und einprägsam formuliert:

Langsam senkt sich die Nacht
O gib acht gib acht
Uns ist ein langes blutiges Schicksal zugedacht.
(Ü: L. Klünner)

Auf diesem doppelten Hintergrund sind vor allem die Briefe an Lou ein Paroxysmus an Leidenschaft und Gewalt. Doch auch in den Briefen an Madeleine finden sich Passagen einer gewaltsamen Inbesitznahme durch das Wort. Nach Apollinaires Versetzung an die Front wird Kriegsmetaphorik den Eindruck solcher Gewalttätigkeit noch steigern. Der „leere und weiße Körper“ eines Schützengrabens evoziert die Vorstellung eines weiblichen Geschlechtsteils, das zum Eindringen auffordert; die phallischen Kanonenrohre richten ihre „obszöne Form“ gegen die feindlichen Flugzeuge auf; die Kugeln sind hart wie Brüste… „Ach mein Gott wie hübsch ist der Krieg“,25 ruft Apollinaire aus, ,hübsch‘ wie seine Kriegsbräute, denen er das also beginnende Gedicht zuschickt. Ein anderes, „Beim Granatenholen“, verbindet explizit Krieg und sexuelle Gewalt mit der Vorstellung dichterischer Potenz. „Mit prallen Hoden den ganzen Schädel voll neuer Ideen“ sieht sich Apollinaire „staubig aus den weißen Schützengräben zurückkehren wie aus Amors Armen“. Es folgt eines seiner schönsten Liebesgedichte, in denen er die ,Neun Pforten des weiblichen Körpers‘ besingt, die er zuvor bereits in einem Brief wollüstig beschrieben hatte. Hier der Schluß des Gedichts und zugleich sein Höhepunkt:

Am achten Tor
Wachen zwei pausbäckige Engel über den zitternden Rosenflor
Der den köstlichen Himmel deiner biegsamen Taille trägt
Und auch ich bewaffnet mit einer Peitsche aus Mondenstrahlen
Die Amoretten strömen herbei in Scharen von Hyazinthen gekrönt
Und daß noch einmal sich das Tor deiner Kruppe wieder öffne

Am neunten Tor
Tritt endlich die Liebe selber hervor
Leben du meines Lebens
Dir bin ich auf ewig verschworen
Und durch vollkommene Liebe ohne Zorn
Werden wir zur reinen oder perversen Leidenschaft kommen
Je nachdem was man will
Um alles zu wissen alles zu sehen alles zu hören
Hab ich selber mich aufgelöst im geheimsten Grund deiner Liebe
O schattiges Tor
O Tor lebendiger Korallen
Zwischen zwei makellosen Säulen
Und daß noch einmal sich öffne das Tor
aaadas deine Hände so gut zu öffnen verstehen.
(Ü: L. Klünner)

Mit seinem Lobpreis der ,Neun Pforten‘ steht Apollinaire in der Tradition französischer ,Blason‘-Gedichte, deren Eigentümlichkeit es ist, einzelne Teile des (in den meisten Fällen) weiblichen Körpers zu besingen. Dabei bleibt der Blason meist dem äußerlich Deskriptiven verhaftet. Zwischen dem Brief, in dem Apollinaire erstmals die ,Neun Pforten‘ evoziert hatte, und der Gedichtfassung liegen genau vier Monate. Alles was in dem Brief als schwülstig oder pornographisch erscheinen könnte, ist aus dem Gedicht getilgt. Es wird zur hymnischen Verherrlichung körperlicher Schönheit, ganz durchdrungen von dem leidenschaftlichen Verlangen nach Vereinigung, die zu einer ganzheitlichen, fast kosmischen Erfahrung stilisiert wird.
Wiederum knapp vier Monate später schickt Apollinaire das gleiche Gedicht mit der Beteuerung an Madeleine, es sei ,für sie allein‘ geschrieben. Es ist ein typisches Beispiel für seine Art der zunächst verbalen Voreroberung und Inbesitznahme. Doch ist die Situation bei der noch unerfahrenen Madeleine delikater:

Du weißt es nicht mein Mädchen es sind neun Tore an deinem Leibe.

Also muß Apollinaire die letzten Strophen abändern, und er ändert noch dazu ihre Reihenfolge;

Achtes Tor meiner Liebe Tor von herrlicher Schönheit
O ich tappe im Dunkeln wie blinde Soldaten zwischen spanischen Reitern unter dem flüssigen Mond im todesbleichen Flandern

[…]
Doch meine Liebe möchte hier ihren Tempel finden
Und hätt ich mit Blut den Vorhof befleckt über den das reizende Ungeheuer der Unschuld wacht
Ließ ich den heißesten Geyser der Welt entspringen und sprudeln
Du meine Liebe o Madeleine
Ich bin schon der Meister des achten Tores
Und du noch geheimnisvolleres neuntes Tor
Das zwischen zwei Perlenbergen sich öffnet
Geheimnisvoller als alle anderen
Zauberträchtigen Tore du von dem keiner zu sprechen wagt
Auch du gehörst mir
Erhabenes Tor
Mir der den höchsten
Schlüssel besitzt
Zu allen neun Toren

O Tore tut euch auf vor meiner Stimme
Ich bin der Schlüsselmeister hier.
(Ü: L. Klünner )26

Die neue Sprache dieser Liebesbriefe und -gedichte überschreitet bewußt die Grenzen der – zu Apollinaires Zeiten – herkömmlichen Schicklichkeit und dringt, in der imaginierten Eroberung, in tabuisierte Zonen ein; dabei wird ihre offene Gewalttätigkeit auch durch die Fülle der Bilder und Metaphern kaum neutralisiert. In zahlreichen Briefen an Lou und in mehreren ,Geheimen Gedichten‘ an Madeleine hat Apollinaire dies Verfahren immer wieder variiert. Dabei geht es ihm letztlich weniger um die körperliche, geistige und seelische Erkundung seiner Briefpartnerin. um geistigen Austausch also, als vielmehr um die Erfahrung der Grenzen der eigenen Vorstellungskraft. Phantasie (,Imagination‘) ist daher ein Schlüsselwort dieser Texte:

Stalaktiten der schattigen Grotten in denen meine Phantasie mit Wonnen sich verliert.

Er erreicht hier bereits einen ganz materiellen Surrealismus der Liebessprache, der alles Metaphysische ausschließt und in immer neuen Bildern und Metaphern den Körper der Geliebten umkreist;27 nicht so sehr den der Geliebten als den weiblichen Körper ganz allgemein. Denn Lou und Madeleine werden bei dieser Erkundung der Möglichkeiten und Grenzen austauschbar und verdinglicht, sind nicht so sehr personales Gegenüber des Verlangens als vielmehr Objekt einer dichterischen Phantasie, die die herkömmlichen Grenzen der Liebessprache mit Macht zu sprengen sucht.

Jürgen Grimm, aus Jürgen Grimm: Guillaume Apollinaire, C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, 1993

 

APOLLINAIRE DIE ENTE

Man ist belustigt durch die Krawatte, die Stunden und die Standuhr,
die erste Stunde, in der du rings umherstarrst,
und die letzte, wenn du auf und ab hüpfst,

und die Standuhr wird in deiner Tasche zur Taschenuhr.
Ich wär gern eine Uhr in deiner Tasche,
zählte die Stunden, die Herzschläge,

die Musen an den Türen deines Körpers,
welche die Stunden anhalten.
Magst du meine Krawatte, mein unregelmäßiges Herz,

aus einer Schublade voller Herzen gezerrt
und von diesem Ständer mit tausend Krawatten
und zehntausend Streifen,

die aus dem traurigen Dunkel auftauchen
wie ein Schwarm verrückter Schmetterlinge, irrer Falter,
verfolgt von danteschen Selbstmorden

und schäumenden philosophes
auf einen Punkt ohne Rückkehr zu?
Was wenn wir diesen Punkt erreichen

in den letzten Stunden der Standuhr
und die Gedanken an das Unendliche abwerfen,
werden wir dann eine „gute Zeit“ haben?

Michael Palmer
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Rainer G. Schmidt

 

 

Fakten und Vermutungen zum Poesiealbum + wiederentdeckt +
Interview
50 Jahre 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6

 

 

Zum 70. Geburtstag des Herausgebers:

Jan Wagner: Lob des Spreewals
Der Tagesspiegel, 11.6.2016

Stefan Sprenger: Dass der Mensch der Stil sein möge
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 218, Juni 2016

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + DAS&D +
Übersetzungen 1 & 2 + KLG 1 & 2
Porträtgalerie:  Galerie Foto Gezett + deutsche FOTOTHEK
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Pietraß“.

 

Richard Pietraß liest am 4.5.2018 für planetlyrik.de die 3 Gedichte „Hundewiese“, „Klausur“ und „Amok“.

 

 

Zum 100. Todestag des Autors:

Nico Bleutge: Die Strassen von Paris las Guillaume Apollinaire als wären es Bücher
Neue Zürcher Zeitung, 9.11.2018

Fakten und Vermutungen zum Autor + IMDb + Pennsound +
Internet ArchiveKalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA
Nachruf auf Guillaume Apollinaire: Tumba

 

Guillaume Apollinaire: „Un siècle d’écrivains“, Nummer 175, ausgestrahlt am 18. November 1998 in Frankreich unter der Regie von Jean-Claude Bringuier.

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