Gunnar Ekelöf: Das Buch Fatumeh

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Gunnar Ekelöf: Das Buch Fatumeh

Ekelöf-Das Buch Fatumeh

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Nein, anders als Vögel
sprechen auch Seelen nicht
zueinander
Und anders als Seelen
sprechen auch Vögel nicht
Wo unser Ohr eine Vielzahl
von Worten benötigt
von mühsam verknüpften Lauten
damit das Gesagte durchdringt
kommen sie mit wenigen aus
verschieden hitzig jedoch
und verschieden betont.

 

 

 

Kommentar

Das Buch Fatumeh (Sagan om Fatumeh) ist eines der innigsten und zugleich geheimnisvollsten Liebesgedichte der schwedischen Literatur. Der Zyklus erschien 1966, ein Jahr nach dem Dīwān über den Fürsten von Emgión (Dīwān över fursten av Emgión), und bildet den zweiten Teil von Gunnar Ekelöfs spätem opus magnum, der sog. Akrit-Trilogie. Aus dem türkischen Kurdistan der Diwan-Dichtung wird der Leser nunmehr in den Orient von Tausendundeiner Nacht mit seiner prächtigeren, wärmeren Farbskala versetzt. Den Umschlag zur Originalausgabe zierte eine persische Miniatur des 18. Jahrhunderts aus Ekelöfs Privatbesitz mit einem Prinzen, der eine Urne umarmt. Eines der Gedichte der Sammlung bezieht sich direkt auf diese Abbildung, indem es in der paradoxen Weise der Mystik nach dem Inhalt der Urne fragt. Empfangen wird ein Zeichen von dem Schatten – einem der Leitmotive des Buches −, „der ein Leben fristet ohne Sonne und Mond / Sie ist, er ist in die Tiefe der Urne versenkt / und wär auch die Urne zerbrochen“.
Doch auch die Rückseite mit der Silhouette von Ekelöfs eigener Hand weist einen tieferen Bezug zum Gehalt der Sammlung auf. Sie steht in Verbindung mit dem Schicksalhaften und magisch Schattenhaften der Fatumeh-Vision wie auch mit der orientalischen Sitte, als Schutz gegen den bösen Blick eine Hand, die sog. Fatma-Hand, über die Tür des Hauses zu malen.
Sein ganzes Leben hindurch hatte Gunnar Ekelöf ein intensives Verhältnis zur Malerei, der primitiven wie der avantgardistischen. Schon während seiner Pariser Zeit im Jahr 1929 fand er Zugang zu Künstlerkreisen, die dem Surrealismus und der Art concret nahestanden. Und seit den 40er Jahren trat er mit einfühlsamen Aufsätzen zur Kunst hervor, sei es über die schizophrene Kunst eines Ernst Josephson oder Carl Fredrik Hill, sei es über die Pioniere der modernen französischen Malerei, von Delacroix und Degas bis zu Picasso und Léger, und wurde so zu einer der einflußreichsten Stimmen der schwedischen Kunstkritik.
Ihre wichtigste Rolle aber spielte die bildende Kunst in Ekelöfs Dichtung selbst, und das gilt im besonderen Maße für sein wachsendes Interesse an der Ikonenmalerei. Nirgendwo sonst in Ekelöfs Werk bildet die Ikone eine ähnlich starke Inspirationsquelle wie im Buch Fatumeh. Ekelöf war von ihrer stilisierten, einfachen Formsprache ebenso fasziniert wie von ihrer mystischen Verinnerlichung. Mehrere Gedichte lesen sich wie vertiefte Ekphrasen. So liefert die russische Ikone Joachims und Annas Begegnung (aus dem Nationalmuseum Stockholm) das direkte Vorbild für jenes Gedicht, das mit den Zeilen endet:

Und Joachim fing sie auf
grün flatterte sein Mantel
Mit der Linken stützte er ihren Ellbogen
und preßte leicht mit dem rechten Fuß
auf ihren linken mit dem roten Pantoffel aus Saffian.

Das Gedicht erfährt seine buddhistische Spiegelung in Joasaph und Fatumeh, das auf die mittelalterliche Legende von Barlaam und Josaphat zurückgeht. Prinz Josaphat (griech. Joasaph) ist identisch mit Buddha.
Seine wahre Meisterschaft erreicht Ekelöf vielleicht aber erst, wenn er über die Ikone einer Muttergottes schreibt, die er über dem Bett in seinem Haus in Sigtuna hängen hatte. Hier erfolgt die Auslöschung des Sichtbaren nicht – wie so häufig bei Ekelöf – mit Hilfe einer Technik gemurmelter, wiegender Wiederholungen, sondern durch einen „Striptease auf dem Berg der Verklärung“, wie es Ekelöf selbst in einem Kommentar zu dem Gedicht „Xoanon“ ausgedrückt hat. Schritt für Schritt hebt der Betrachter alle gegenständlichen Elemente vom Bild ab, selbst den Goldgrund und die Grundierung, bis nur noch ein altes Bohlenstück aus einem Ölbaum zurückbleibt. Der Entkleidungsakt wird zu einer Art der Annäherung an das Mysterium. Die Augen der Muttergottes blicken das Ich während dieser behutsam durchgeführten, in allen Einzelheiten beschriebenen Entkleidung unverwandt an. Und ihr Blick wirkt weiter, als das Bild schon ausgelöscht ist. Ein Ast im Holz symbolisiert Ihre uralte Anwesenheit in allem, was existiert:

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaMitten im Holz
verwachsen beinahe, das Auge von einem Ast
der brach in der Jugend des Baums −
Du blickst mich an.
Hodigítria, Philoúsa.

Wie im Dīwān über den Fürsten von Emgión entwickelt Ekelöf die Form der leidenschaftlichen Anrufung weiter. In der von der Liebenden geschlagenen Bresche herrscht Schweigen, dorthin dringt nicht das Lärmen vom „Kampf zwischen Ritter und Drachen“, jenem für das Abendland so charakteristischen Krieg des Dualismus, dem Ekelöf sich seit seinem großen Gedicht Nimm und schreib aus dem Band Fährgesang (Färjesång) von 1941 widersetzte. Als Leser erleben wir einen Wechselgesang zwischen dem Fürsten und seinem Schatten, der oftmals einem erotischen Totentanz gleicht.
Für Ekelöf selbst war die persönliche Bedeutung, wie stets, von großem Gewicht. Er erklärte, Fatumeh sei „das zutiefst Weibliche in mir“, eine Art Anima, die seinem Innersten entspringe. Diese intime Vertrautheit hat er in einem Brief an Leif Sjöberg ausgedrückt:

… Ein Stück weiter entfernt steht Fatumeh, deine Fatumeh, du siehst sie erleuchtet. Du gehst auf sie zu, dein Schatten reicht bis an ihre Füße, er steigt an ihrem Körper hoch. Schließlich ist sie ganz bedeckt von deinem Schatten. Dies ist der Schmerz, in dem ihr zu einem einzigen Wesen verschmolzen seid. Möglicherweise sieht sie von dir und du von ihr den Schimmer einer unvollständigen Kontur, dort deckt ihr einander nicht ganz / … / Dies nenne ich das Leben / … / Und geschieht es dann, daß wir unserem Schicksal direkt von vorne begegnen, sei es mit der Sonne im Rücken oder in den Augen, dann naht vielleicht der Augenblick der Identifikation, des Schmerzes und Todes / … / Die große Identifikation ist, je näher man auf sie zu gleitet, der stets größere Schmerz, der zum Tod führen kann …

Sollte dann aber die wichtige Schattensymbolik des Buches vom Tod handeln?
Ja, Ekelöfs eigene Antwort lautet:

Der Schatten ist die Abnutzung, der wir im Laufe des Lebens unterworfen sind, er zehrt uns nach und nach auf. Glaubt nur nicht, das erste Mal, das man ihm begegnet, sei bereits das endgültige.

Aber der Sinn ist unerschöpflich. Der Name Fatumeh schließt das Wort fatum, Schicksal, ein, und ihr komplexes Wesen trägt Züge einer Hure, von Mohammeds Tochter Fatima, von Totengöttin und Jungfrauenmutter.
Sich ihr nähern heißt das Leben von der anderen Seite her sehen lernen, sich schwinden sehen lernen „im Bild des Ganzen“.

Anders Olsson, Nachwort

 

Jedes Ding hat drei Seiten

− Der große schwedische Dichter Gunnar Ekelöf ist endlich in einer deutschen Ausgabe zu lesen. −

Hätte er sich nicht in lyrischen, sondern in laufenden Bildern ausgedrückt, wäre er so berühmt wie Ingmar Bergman. Hätte er nicht schwedisch, sondern englisch geschrieben, wären ihm wohl Nobelpreis-Ehren zuteil geworden, und sicher würde sein Werk dann ebenso zum Kanon der modernen Poesie gezählt werden wie das eines T.S. Eliot oder Ezra Pound.
Gunnar Ekelöf war, wie der Portugiese Pessoa (dem seine Sprache ebenfalls lange den Weg zum Weltruhm verstellte), ein Dichter der vielen Masken, ein Dichter der unerhörten Gegensätze, der nie auf einem Personalstil ausruhte, in jeder einzelnen Gedichtzeile aber stets unverwechselbar er selbst blieb. „Bin ich so etwas wie der Bastard eines Kentauren?“ Der sich so fragte, verstand es, seine tragische Zerrissenheit schreibend immer wieder in ein Agens der Grenzüberschreitung zu verwandeln, in euphorische Empfängnisbereitschaft für die Vielfalt und Vielstimmigkeit fremder Welten und Kulturen.
In einer zerfallenden Großbürgerfamilie 1907 in Stockholm geboren, erlebte der junge Gunnar Ekelöf seinen Vater, einen Bankier, der immer wieder in der Psychiatrie verschwand und bereits 1916 starb, nur als „lebenden Leichnam“ und seine Mutter nur als unentwegt Abreisende, die ihren Sohn in Kinderheime und Internate abschob. Gleich nach dem Abitur flieht Ekelöf zum ersten Mal „für immer“ aus Schweden. Es zieht ihn nach Indien und Persien, weshalb er in London ein Orientalistikstudium beginnt, das er aber nicht abschließt, denn inzwischen will er, vom Rimbaud-Fieber angesteckt, in Kenia eine Kaffeefarm gründen. Als das Schiff, das ihn nach Afrika bringen soll, weder in Menton noch in Genua eintrifft, fährt er nach Paris, um Komposition zu studieren; im Sacre du printemps, dem 1913 im Skandal untergegangenen Stück Strawinskys, hat er sein Lebensgefühl entdeckt.
Noch reicht das elterliche Vermögen für eine moderne Wohnung und ein Cabrio mit Edelholzlenkrad. Zudem spekuliert er an der Börse, allerdings auch mit Selbstmordgedanken (stets trägt er einen geladenen Revolver bei sich). Er lernt Mondrian und van Doesburg kennen und wirft sich auf den Surrealismus, der ihm gar nicht so surreal vorkommt, schließlich hat er sich bereits mit orientalischer Dichtung und vor allem jener des Sufi-Mystikers Ibn al-Arabi beschäftigt. Als sein Erbe aufgebraucht ist, kehrt er nach Schweden zurück, wo er ein Nomadenleben führt, mehrere Sommer im äußersten Norden verbringt, im „weißen Afrika“ der Lappen, deren Armut und archaische Lebensweise ihn tief berühren.

„Wer Erlösung sich wünscht, der ist schon verdammt“
Nach einem Band mit Baudelaire- und Rimbaud-Übertragungen erscheint 1932 Ekelöfs erster Gedichtband Spät auf Erden, den er später als sein „Selbstmordbuch“ apostrophieren wird. Menschheitsdämmerungpathos paart sich hier mit surrealistisch Visionärem und fast dadaistischer Nonsens-Neigung, Ausweglosigkeit scheint zum Prinzip erhoben. „Gib mir Gift zum Sterben oder Träume zum Leben“, fordert das Gedicht Apotheose; doch wer immer darin angerufen wird, reagiert nicht, und so lautet das fatalistische Fazit jener frühen Jahre: „Erwacht man / ist man wieder tot“.
Der Gedichtband Fährgesang von 1941 bringt eine wichtige Zäsur in Ekelöfs Werk und den Durchbruch in Schweden, wo seine Dichtung fortan das Maß vorgibt, an dem Lyrik gemessen wird. Waren schon in den zwischenzeitlich erschienenen Gedichtbänden die eruptive Bilderflut eingedämmt und der Ton weniger ekstatisch schrill geworden, so beginnt mit Fährgesang Ekelöfs ebenso eigen- wie einzigartige Hinwendung zur philosophisch grundierten Gedankenlyrik, in der Intellektualität jedoch nie auf Kosten der Musikalität geht. Hauptanliegen des Dichters ist es, „der Versuchung des Dualismus“ zu widerstehen und sein Gedicht aus dem Gefängnis des Antithetischen von Satz und Gegensatz zu befreien. „Es heißt“, erklärt Ekelöf, „jedes Ding habe zwei Seiten. Wer nicht sieht, daß jedes Ding wenigstens drei Seiten hat, läuft Gefahr, sich in ein Entweder-Oder zu verrennen, das ihn zum Sklaven macht und der Möglichkeit zur Harmonie beraubt.“ In Poesie übersetzt, lautet Ekelöfs neues Credo:

Aber wer Versöhnung erwartet, wird unversöhnt sein.
Wer Erlösung sich wünscht, der ist schon verdammt.
(…)
Leben ist weder das Böse noch das Gute,
es ist das Getreidekorn zwischen den Steinen.
(…)
Dort, auf der dritten Seite des Lebens,
dort sind das Schwarze, das Graue und Weiße keine der Seiten
und aus den dreien wird eine Vielzahl Schattierungen gezeugt
jenseits aller Wahrheiten und Lügen.

Eine Prämisse für die Überwindung des dualistischen Weltbilds ist für Ekelöf die Absage an alle Macht, auch an jene allergewöhnlichste, die als Ich firmiert:

Ich singe vom einzigen was versöhnt,
dem einzig Praktischen, für alle gleich:
Wie selten der Mensch Macht hat
der Macht zu entsagen! Entsagen dem Ich und der Rede, entsagen –
das einzige was Macht verleiht.

Es ist diese Macht der Ohnmacht, die sogar so etwas wie ein bescheidenes Glück beschert:

Gebt mir die Erinnerung an Schotter und Unkraut,
Wermut, Klette, Distel
und Gleise ins Nirgendwo.
Gebt mit das Wertlose,
das ausgedient hat
um von Vergessen und Verwahrlosung geadelt zu werden!

Glückliche Dinge die, sich selbst genug,
in Frieden verwittern und rosten:
für sie fühle ich.

Dass einer solchen Humanität des holden Bescheidens auch etwas Luxuriöses anhaftet und sie dem Inhumanen in die Hand zu spielen vermag, muss Ekelöf während der Kriegsjahre bewusst geworden sein. In seinem Gedichtband Non serviam von 1945 bricht jedenfalls der Sturm der Geschichte mit Macht in den stillen Winkel der schwedischen Verschontheit. Im Gedicht „Jarama“ setzt Ekelöf seinem im Spanischen Bürgerkrieg auf seiten der Internationalen Brigaden gefallenen Freund Skoglar Tidström ein Denkmal, und im Titelgedicht formuliert er eine schroffe Absage an den abgeschotteten Wohlfahrtsstaat Schweden. Dort, wo „der Jude, der Lappe, der Künstler in mir / stets Blutsbrüder sucht“, aber nicht findet, dort findet der Dichter auch keine Heimat mehr: „Ich kann nicht leben in diesem Land / dies Land aber lebt in mir wie Gift!“
Von jetzt an befindet sich Gunnar Ekelöf mehr und mehr auf Wanderschaft, nicht nur durch ferne Länder und Kulturen, die er sich fast chamäleonhaft anverwandelt, sondern auch zurück ins wilde Schweden des 18. und 19. Jahrhunderts, wo er etwa in dem zeitlebens anstößigen Carl Jonas Love Almqvist einem Blutsbruder begegnet, von dem er mächtige dichterische Impulse empfängt. Ekelöf, der verkleidete Fürst, der sich, so Olaf Lagercrantz, „an die Bettler und Straßenkehrer auf den Plätzen der Geschichte von Alexandria und Rom bis Paris hielt“, lief dabei auch Gefahr, sich zu verlieren und „selbst einer von den rotäugigen verdreckten Clochards zu werden; hätte sich ihm nicht die Frau angeschlossen, die zu seinem ,Engel‘ wurde – Ingrid Ekelöf –, er hätte es nie geschafft“. Umso merkwürdiger, dass die Frau erst im Alterswerk Ekelöfs – im Diwan über den Fürsten von Emgion (1965) und im Buch Fatumeh (1966) – eine zentrale Rolle spielt. Zumeist erscheint sie da entrückt an jene Grenze zwischen Erotik und Mystik, wo „Hunger mit Hunger gestillt“ und Erfüllung mit Entsagung gleichgesetzt wird:

Oh, wer liebte dich nicht
die uns befreit von der Liebe
von Geburt, Schmerz und Tod!

Es dauerte zwei Jahrzehnte, bevor Ekelöf endgültig zum Metaphysiker wurde und im Bild der zerküssten Madonnen-Ikone mit ihren „Brüsten… die reichen für alle“ seine ureigene Muse fand, die er als „Jungfrau aus Feuer und Nichts“ inthronisierte. Zuvor trieb er durch alle Höllen der Sinnlosigkeit, und in einem „Dokument“ betitelten Gedicht verschrieb er, „G. E. auch Fürst genannt“, sich sogar dem Fürsten der Unterwelt, Luzifer, um „Gott zu stürzen / und seinen Anhang“. In den fünfziger Jahren ist Ekelöfs Dichtung ein gefährliches und oft auch groteskes Gemenge zwischen Häresie und Heilserwartung, Auflehnung und Verzweiflung, Sinnsuche und Sinnverwerfung. Im Gedichtband Strountes (1955) – der Titel ist eine französisierte Form des schwedischen strunt = Nonsens – werden für Ekelöf fast alle Erscheinungen des Lebens zu Unfoug (K.-J. Liedtkes Äquivalent für Strountes), den der Dichter zynisch zelebriert. Ruppigkeit, Ranzigkeit, Miefigkeit, Nettigkeit, Schäbigkeit, Schändlichkeit, Lausigkeit und Seligkeit vereinigen sich da zu einem abstoßenden „Perpetuum mobile“.
Doch derselbe Ekelöf, der, ganz ähnlich übrigens wie sein Antipode und Freund Erik Lindegren, einen gewaltsamen Tod im Wasser imaginiert – „Das Letzte, was man sehen soll von mir, ist eine geballte Faust zwischen Seerosen!“ –, zimmert sich dann wieder aus den unscheinbarsten Dingen und Worten eine Existenz jenseits der Sinnlosigkeit:

Wenn man es soweit gebracht hat wie ich in der Sinnlosigkeit
wird jedes Wort erneut interessant:
Fundstücke im Erdreich
die man mit archäologischem Spaten wendet:
Das kleine Wort du
vielleicht eine Glasperle
die einmal an jemandes Hals hing
Das große Wort Ich
vielleicht ein Feuersteinscherben
mit dem ein Zahnloser schabte sein zähes
Fleisch.

Wenn es in Ekelöfs Werk ein Schlüsselgedicht gibt, das nicht nur seinen Traum von der Synthese manifestiert, sondern so etwas wie die Synthese seines ganzen Werkes darstellt, so ist das sein Bekenntnis „Zur Kunst des Unmöglichen“ aus dem Band Die Nacht von Otocac (1961):

Zur Kunst des Unmöglichen
bekenne ich mich,
bin demnach ein Gläubiger
von einem Glauben den man Irrglauben nennt.

Ich weiß
Man bekümmert sich hier um das Mögliche
Mich aber laßt unbekümmert sein
um das was möglich ist oder unmöglich.

So trägt auf Ikonen der Täufer das Haupt
auf gesunden Schultern
und gleichzeitig vor sich auf einer Schüssel.

„Die erste Aufgabe des Dichters ist es, sich selber ähnlich zu werden“
Es hat nicht an Versuchen gefehlt, Ekelöfs Lyrik einzudeutschen. Hans Magnus Enzensberger nahm Ekelöf nicht nur in sein legendäres Museum moderner Poesie auf, sondern präsentierte 1962 auch in der leider kurzlebigen Reihe Poesie des Suhrkamp Verlags einen schönen Ekelöf-Band, den Nelly Sachs übertrug, schwesterliche Freundin Ekelöfs, von dem sie eine Ikone besaß (Panhayia, die Schmerzensreiche), die ihr in ihren dunkelsten Stunden Trost spendete. Die erste umfangreiche und kenntnisreich kommentierte Ekelöf-Auswahl erschien dann 1984 im Verlag Volk & Welt (DDR), für die der Übersetzer Roland Erb auf Interlinearübersetzungen von Sieglinde Mierau zurückgriff. Doch der Bedeutung des Dichters ganz gerecht wird erst die seit 1991 beim Kleinheinrich Verlag erscheinende zweisprachige Ekelöf-Ausgabe. Ein kühnes verlegerisches Unternehmen, vergleichbar den Pessoa- und Mandelstam-Ausgaben des Ammann-Verlags. Was dort Ralph Dutli für Ossip Mandelstam vollbracht hat, leistete hier Klaus-Jürgen Liedtke in fast zwanzigjähriger Arbeit für Ekelöf. Wo ist der Übersetzerpreis für seine so genauen wie sensiblen, nie selbstverliebten Übertragungen?
Wer vielleicht den Kommentar zu einzelnen Gedichten und Poemen manchmal etwas knapp findet, wird umso reicher entschädigt durch den vierten Band der Ausgabe, betitelt Der ketzerische Orpheus, in dem Liedtke Essays, Skizzen, Aphorismen und Briefe zur Autobiografie und Poetologie Ekelöfs aus vielen, oft schwer zugänglichen Quellen zusammengetragen hat, ein Ekelöf-Reader, wie es ihn, nach dem Zeugnis von Madeleine Gustafsson, selbst in Schweden nicht gibt. Hier finden sich nicht nur das erschütternde Porträt des geisteskranken Vaters (Eine Photographie) oder die Beschreibung einer „Wallfahrt“ in die karelische Heimat der früh verstorbenen Seelenverwandten Edith Södergran, sondern neben Briefen an den Dichterfreund Elmer Diktonius, in denen Ekelöf etwa seinen Deutschlandbesuch im Jahre 1933 schildert („Deutschland ist innerlich krank, ein unbefriedigter, zerbrochener Sadist, der um sich schlägt und die Zweifel mit Selbstverherrlichung betäubt“), auch sämtliche Briefe an Nelly Sachs, die eine Kostbarkeit für sich sind in ihrer zärtlichen Sorge um eine Exilierte. Dass Gunnar Ekelöf selbst ein Exilierter im eigenen Land war, der freilich die Einsamkeit nicht nur erlitt, sondern auch suchte, so wie er den Mangel suchte – zuletzt zog er noch aus seinem Haus in Sigtuna in einen Wohnwagen daneben um –, zeigt geradezu paradigmatisch sein Essay Der Weg eines Außenseiters, der mit einer Botschaft endet:

Die erste Aufgabe eines Dichters ist es, sich selber ähnlich, also ein Mensch zu werden. Seine erste Pflicht – oder vielmehr sein bestes Mittel, um dieses Ziel zu erreichen – besteht darin, daß er seine unheilbare Einsamkeit und die Sinnlosigkeit seines irdischen Lebens vor sich selbst eingesteht. Dann erst vermag er die Wirklichkeit aller Kulissen, Dekorationen und Vermummungen zu entkleiden. Auf keine andere Weise kann er andern von Nutzen sein, als dadurch, daß er sich in die verzweifelte Lage der andern – und aller – Menschen begibt. Die Sinnlosigkeit ist es, was dem Leben seinen Sinn gibt. Das ist, in aller Kürze, mein credo quia absurdum.

Im Jahr 1968 ist Gunnar Ekelöf, erst einundsechzigjährig, gestorben.

Peter Hamm, Die Zeit, 11.5.2005

Das hermetische Sehen

Geht man erst ein wenig auf Distanz oder drischt man gleich drauf ein? Wie schwer kann ein Gedicht schon sein? Es gibt schwierige Leser, nein? Das macht ihre Begegnung nicht gerade unkompliziert, doch vermutlich könnte entscheidend sein, was die beiden sich zu sagen haben. Gibt es die Frage, was ein Gedicht von einem will, ist man schon auf halben Weg zu der Frage, was man von ihm erwartet. Vorerst schauen alle steif vor sich hin, ohne einen bestimmten Punkt oder Gegenstand des Interesses, ein Starren jenseits des Verstehens. So einem Sehen wohnt keine Erwartung inne.
Stattdessen schwirren die Sinne ins Leere, und sollten sie aufeinander stoßen dann eher zufällig – sie prallen dann auch gleich wieder voneinander ab. Der Blick, der um sich schießt, gehört mal ihm, mal mir.
Und wir treffen uns dazwischen, verständnislos.
Dabei werde mal ich, mal wird es das Gedicht: schwierig. Man muss nur hinsehen. Es ist aber auch auf lächerliche Weise unkompliziert, je dunkler desto lichter.
Und einer dieser dunklen Dichter, für die das Adjektiv wie geschaffen scheint, dürfte der Schwede Gunnar Ekelöf gewesen sein, der ein Dichter vielsagender Blicke war, voller Szenen, in denen sich existentielle Überwältigungen widerspiegeln.
Dabei könnten seine Gedichte, weil ihr Vokabular fast nur aus alltäglichen Wörtern besteht, zunächst einfach wirken, würden die Konkreta nicht durch einen Filter philosophischer, religiöser und magischer Traditionen gesehen, die man weniger entgegenkommend eher im New Age-Bereich vermuten würde. Solange zumindest wie man die Verschlossenheit dieser Gedichte mit der heute gängigen Bedeutung des Wortes Esoterik gleichsetzt.

Man könnte das Dunkle in ihnen
aber auch als etwas anderes sehen (oder nicht-sehen),
nämlich als in den Gedichten gelagerten Rohstoff,
der darauf wartet, raffiniert zu werden: Wissen
das eine Form annimmt, die Dunkelheiten
ausleuchtet und erklären soll,
was naturwissenschaftlich undenkbar wäre.

So ergibt das Alltägliche eine Mystik des Numinosen, für die jedes Gedicht eine Chance zur Initiation in die Geheimlehre des ekelöfschen Kosmos bereithält. Man befindet sich gewissermaßen in einem Bereich über dessen Denken schon immer der Vorwurf des Unzugänglichen (Unzulänglichen?) erhoben wurde, ein Jammern und Klagen über das schwer nachvollziehbare und vertrackte, das „hermetische“ Dichten.
Wer von einem Gedicht hingegen sagt, es sei schwer zu verstehen, gibt sich selten die Mühe und erklärt, was er damit meint, denn das ist immer noch der einfachste Ausweg. Für diese Menschen wäre es deprimierend wenn ein Gedicht sie mit ihren Augen sehen könnte.
Diesen Zustand hätte man sich vielleicht erspart, hätte man ein Fragment Ekelöfs im Hinterkopf behalten, wo er fragt, wie man von einem Gedicht verlangen könne, unumwunden sein „Innerstes“ preiszugeben, „wenn nicht einmal ein Mensch, selbst ein Mensch, mit dem man womöglich intim und täglich verkehrt, dies tun kann oder will. Ein durchschautes Gedicht ist tot, womit“, so seine Einschränkung, um gleich eine Gedicht-Definition nachzuschieben, „nicht gesagt ist, daß alle dunklen Gedichte lebendig sind. Aber ein Gedicht, mit dem man reden kann und das antwortet, das einem im Vertrauen etwas von seinen Geheimnissen verrät – und womöglich am nächsten Tag, wenn man nicht bei Laune ist, wenn das Licht nicht so ist, das Gesagte zurücknimmt, ein solches Gedicht ist lebendig, auch wenn sein Schöpfer seit langem tot ist. Lebendige Kunstwerke nehmen Rücksicht auf das Licht, das gleichermaßen ewig und ewig unveränderlich ist. Sie sind mit Licht geschaffen – dem des Gedankens oder aber der Sonne.“ Wie während der Lektüre in dem Gedicht-Theater Licht und Schatten fallen, könnte also Verhältnis und Verständnis des Gedichts ausmachen – oder des Lesers, der möglicherweise als dessen Double heraustritt. Es ist erstaunlich, dass Ekelöf das Gedicht hier seinem möglichen Gesprächspartner ebenbürtig macht, indem er es anthropomorphisiert. Beide werden auf diesem Weg gefordert, ihr schwieriges Verhältnis, das man zunächst abwertend „hermetisch“ genannt hat, wo das „lebendige Kunstwerk“ sich dem Leser verschloss oder der sich ausgeschlossen fühlte, zu überwinden indem sie füreinander offen werden. Wie sie, um es sich einfacher zu machen, diese Öffnung bewerkstelligen sollen, ist noch unklar. Doch die Kommunikation über die gemeinsamen Schwierigkeiten hinweg würde ihre Spannungen nutzen, um sie beide über die Barriere des Verstehens hinauszutragen. Und möglicherweise kommt dieses Gespräch ohne Vorbedingungen aus, indem Leser und Gedicht einen Zusammenhang bilden, wie Ekelöf ihn anstrebt:

eine künstlerische Wirkung von nicht berechneter, daher eigentümlicher persönlicher Natur.

Beider Kombination ergäbe von Grund auf eine synkretistische Figur, und nichts anderes wäre hermetisches Denken.

Ein Gedanke auf den ich immer wieder zurückkomme, ist der einer Schöpfung aus dem Nichts. Das stimmt natürlich nicht, es ist die Schöpfung per Stimme. Die Vorstellung mit dem Laut das Gewebe der Welt anzuziehen. Ein romantischer Gedanke, aber nicht nur.

Seine Aussage gleich einzuschränken ist für Ekelöfs Denken typisch, nicht etwa, weil damit eindeutigen Setzungen ausgewichen werden sollte. Es ist die bewusste Weigerung, sich auf ein Spiel einzulassen, das Begriffe wie auf einem Schachbrett gegeneinander antreten lässt. Für Ekelöf scheinen sie vielmehr ein Gleichgewicht anzustreben, in dem die Differenzen der Begriffe statt sich aufzulösen eine Verbindung eingehen.
In dem Titelgedicht von Das Buch Fatumeh geht ein Mann fünf Mal an seinem Schatten vorüber und grüßt dabei. Erst beim sechsten Mal, als brauche es soviele Anläufe, erhebt der Schatten sich von der Straße und tritt ihm entgegen. Damit beginnt ein Gespräch, an dessen Ende eine verstörende Einsicht steht: Wie der Schatten, den das Licht auf den Boden zu seinen Füßen geworfen hat, so ist der Mann in der Umkehrung von Licht und Dunkel dessen komplementäres Gegenstück. Im Moment da beide Bereiche sich überlagern, muss der Mann erkennen, dass der Schatten nicht nur ein Teil von ihm ist, sondern dass die Rollen sich vertauscht haben. So gibt sich der Schatten ihm als Fatumeh zu erkennen, seine Geliebte aus der anderen Welt, deren Strahlen den Menschen reflektieren und zu ihrem Abbild, einem Wiedergänger machen.
Der Unterschied zwischen beiden bildet dabei die Voraussetzung für ihre Identifikation als Teile eines Ganzen. Es gibt in Ekelöfs Gedichten ein grundlegendes paradoxes Sprachspiel per Analogie, das Begriffe in ihrer Ambivalenz belässt, wobei der aus dem Spiel folgende Dualismus auf ein alogisches Drittes verweist, bei dem die Begriffe wie in einem Schöpfungsakt auseinander hervorgehen. Ekelöfs „Schöpfung aus dem Nichts“, seine Vorstellung das Gewebe der Welt per Stimme anzuziehen, ist ein poetisches Prinzip, das Wörter in einem magnetischen Wechselverhältnis der Abstoßung und Anziehung sieht. Dabei geht die Situation über das romantische Vergegenwärtigen hinaus, sie mündet in einen merkwürdigen Zustand des Nicht-nur, wo Kategorien in eins fallen und man der Begriffe habhaft werden kann im selben Moment da sie einem verloren gehen. Nur romantisch dürfte der Gedanke auch deswegen nicht sein: Ekelöf, der „Aus der Werkstatt des Lyrikers“ (1951) betont, dass „mit den Wörtern umzugehen ein beinahe apothekerhaftes Abwägungsvermögen“ erfordert, zeigt sich damit als geistiger Enkel des Wort-Alchemisten Stéphane Mallarmé, und als solcher glaubt er an die magische Kraft der Wörter, deren Zusammenwirken einen verborgenen Sinn herausdestillieren lässt.

Und in einem solchen Gewebe geht es nicht um grobe Effekte, sondern, immer noch bildlich gesprochen, für uns unmerkliche Wellen.

Was ihn an den Symbolisten, an erster Stelle Mallarmé fasziniert, ist demzufolge ihr Versuch „die widerspenstige Sprache zu überreden, eine musikalische Sensation zu erzeugen, aber für die Phantasie, nicht für das Ohr“.
Sprache also nicht in erster Linie als Übertragung von Stimmungen. Ekelöf sucht eine ästhetische Weise, die Musik ist eine Metapher für das Ziel, mit Hilfe einer Konstellation der Wörter eine Erweiterung des Denkens herbeizuführen. Dabei „geschieht mit ihnen etwas Wundersames: sie erhalten einen Zwischensinn, während sie gleichzeitig ihre ursprünglichen Bedeutungen bewahren.“ Diese Begriffsmusik markiert einen Übergang vom einen zum anderen, an dem Subjekt und Objekt sich in einem erweiterten Kontext neu formieren um etwas darzustellen das im dialektischen Sinne nicht darstellbar wäre. Dort werden sie zu Elementen eines metaphysischen, vielleicht magischen Satzes. Dessen Inhalt wiederum trägt keinen unwandelbaren Sinn, seine Wörter sind erst leere Zeichen, die sich dann mit Sinn anfüllen, wenn die Lektüre einsetzt. Es ist eine Tendenz, die Novalis bereits andeutete, als er über den Roman schrieb, er sei die Realisierung einer Idee. Was aber ist eine Idee:

Eine unendliche Reihe von Sätzen – eine irrationale Größe – unsetzbar […] inkommensurabel.

Hierin liegt eine mögliche Konsequenz von Kunst, die man hermetisch genannt hat. Die realisierte Inkommensurabilität der Idee wäre ein ebenso inkommensurables Werk, die Darstellung des Rätsels selbst rätselhaft. Bis an den Punkt, wo das Werk sich den Rezipienten einverleibt.
Trotzdem bleibt die Frage, wie sich das Gedicht und sein Leser einander nähern sollen, wenn, wie es heißt, ein Bereich des Nicht-Verstehens sie voneinander trennt. Was ist eigentlich der springende Punkt beim Verstehen, wie gelangt man hinein? Oder aber – wenn Verstehen nichts außerhalb von einem ist, sondern zwischen zwei oder mehreren stattfindet – wie gelangt man hinaus, um selbst verständlich zu werden, für jemand anderen, etwa für ein Gedicht?
Vielleicht indem man die vielbeschworene Opposition der beiden aufgibt und den Zwischensinn, von dem Ekelöf sprach, zu ihrer Voraussetzung erklärt. Was als Schatten auf dem Gedicht das Verstehen begrenzt, könnte nur deswegen eine Barriere sein, wenn man zwischen ihm und Leser ein statisches Verhältnis erwartet. Ekelöfs Musik-Metapher spricht hingegen von einer potentiellen Erfahrung in der Zeit, wonach keines der Wörter für sich allein erklingt, sondern in einem schwingenden Verhältnis mit den anderen. Sie – und in einem weiteren Schritt auch Gedicht und Leser – werden so zu Polen, zwischen denen Energien strömen; zwar je nach dem Kalkül des Autors mit vorausberechneten Wirkungen, intendierten Effekten, doch indem der Text sich vom Autor löst gleichzeitig mit unerwartbaren Resultaten.

Wer nicht sieht, dass jedes Ding nicht wenigstens drei Seiten hat, läuft Gefahr sich in einem Entweder-Oder zu verrennen, das ihn zum Sklaven macht und der eventuell vorhandenen Möglichkeiten der Harmonie beraubt.

Ekelöfs ,Deklaration‘ von 1941 ist keine einfache Absage an die Dialektik. Mit dem Wort Harmonie knüpft er an frühere Traditionen in Europa und außerhalb an, die den musikalischen Kontext seiner Poetologie deutlich erweitern. Da ist zuallererst der Grieche Heraklit und seine Vorstellung einer Grundspannung alles Seienden, das im logos zueinander findet, im ständigen Strom durchdrungen. Das griechische harmonia steht zudem mit Vorstellungen wie der Zahl als Grundlage der Dinge in der Kosmologie der Pythagoreer in Verbindung. Sie verweist auch auf die Geheimlehre der Orphiker, die in der Seele das Prinzip und den Empfänger des Wandels in den Tönen des Welt sahen. Besonders diese Sphärenmusik dürfte eng mit Ekelöfs Poesieverständnis verwandt sein, das er manchmal einfach als Magie bezeichnete und von der landläufigen Bedeutung des Wortes Mystik hat abgrenzen wollen:

Dichtung ist für mich Mystik und Musik. Mystik heißt für mich nicht, irgendwo abstruse Thesen anzuschlagen, es ist die tiefe Lebenserfahrung selbst, die Wahrnehmung des ewig Entgleitenden, Wechselnden, Wiederkehrenden in allem, was mit Bild, Ton, Gedanken, Gefühl und Leben zu tun hat. Ordnung gibt es dort lediglich als ein Gleichnis, eine nicht identische Wiederholung, und wenn es mir auch freisteht […] bald das eine, bald das andere als Hauptthema aufzufassen, weiß ich, dass es die Bewegung, der Tanz selbst ist, der das wirkliche Hauptthema bildet.

Mit dem Tanz als seinem Hauptthema erscheint das Gedicht wie Ekelöf es sieht als etwas, dessen Dimensionen sich in Raum und Zeit erstrecken, es wird zu einem Medium von Licht- und Schattenfällen, von vergangenen und folgenden Gesten, deren Sinn die Bewegung der Wiederholung ist. Gleichzeitig erweitert die Analogie die Idee, was ein Gedicht sein könnte, indem sie dessen Aufführung zu einem wesentlichen Bestandteil des Spiels erklärt. Denn die Korrelation von Mystik und Musik in Ekelöfs Kommentar deutet ein „rituelles“ Momentan, das über den einfachen Gedichtvortrag hinaus einen magischen Kontext eröffnen könnte, Magie wie Marcel Mauss sie der Form nach definierte, als Reihe aufeinanderfolgender Gesten und Wörter. Der Dichter wäre so mit seiner Stimme nicht allein, sondern als Körper präsent, der ihn beim Schreiben mit der Realität verbindet, gewissermaßen über Mund und Hand, und im Vortrag ein weiteres Mal, als eine Art physiologische Hieroglyphe. So verschieben Intervalle sich auf der Textebene, fallen Akzente und Satzwerte je nach Zeitpunkt der Lektüre anders und verdichten sich zu einem je vorläufigen Ausdruck.
Denkt man die Analogie weiter, erscheint ein Gedicht als etwas, das in seinem Kern keinen festen Inhalt hat und, wie im Novalis-Zitat weiter oben, rätselhaft bleibt. Dafür ermöglicht die sich stattdessen dort befindende Lücke eine unendliche Reihe denkbarer Interpretationen. Dem Beziehungswahn beim Lesen so eines Gedichts sind durch die Wahl der Stilmittel sowie die es zusammenhaltende Struktur einfache Grenzen gesetzt, sie geben dem Gedicht seine grobe Richtung vor. Doch seine Besonderheit wäre es, statt den Transport von Mitteilungen die Verbindung mit einem Numinosen herzustellen, das emphatisches Wissen generiert. Geht es aber in den meisten Fällen von Interpretation darum, dass der Autor über das Gedicht mit dem Leser in Verbindung tritt, trifft der Vorwurf des Unverständlichen zuerst das Gedicht und in der Verlängerung seinen Produzenten. Doch dieses Urteil hätte nur solange Bestand, wie man glaubt, das Gedicht wäre nichts weiter als die Vermittlung einer früheren Erfahrung. Das Gedicht, wie Ekelöf es beschreibt, kalkuliert aber mit der Möglichkeit einer Sensation, die sich erst durch die Begegnung des Texts mit dem Leser einstellen dürfte und in deren Zusammenspiel entfaltet. Das hieße Verstehen. So einfach könnte es tatsächlich sein. Es wäre denkbar, dass indem der Leser sich mit dem Gedicht verbindet und es im Gegenzug seine Erkenntnis vervollständigt, beide ihren Mangel an Verstehen aneinander beheben. Natürlich ist das ein Modell und selten wird man im Ernst zu einem Gedicht – so wenig wie es zu einem – sagen:

Du vervollständigst mich.

Trotzdem ist der Gedanke reizvoll, sich vorzustellen, beide kämen einander so nahe, dass sie ihre Plätze ebenso gut tauschen könnten, um zur Verkörperung des anderen zu werden. In Ekelöfs Zwischensinn, der gewissermaßen eine tautologische Figur aus Verstehen und Nicht-Verstehen bildet, wären beide sich bedingende rezeptive Zustände, die eine innere, der Mystik verwandte Erfahrung einleiteten.

Das Leben ist eine Pause zwischen Geburt und Tod.

Diese Pause könnte eine Note sein, eine zeitliche Schwebe, innerhalb der das Subjekt sich als das Andere begegnet.

Ich suche einen festen Punkt, etwas, das nicht in absoluter und uneingeschränkter Abhängigkeit zu mir steht, finde ihn aber nicht, denn ihn gibt es nicht. Alles fließt, das Meer atmet langsam, der Mond nimmt zu und nimmt ab, Menschenschicksale blitzen vorüber wie fallende Sterne, und sogar die ewigen Sterne ändern ihre Position.

Die Sterne verändern ihre Lage zueinander, doch als Worte auf dem Papier oder dem Satz, der im Raum erklingt und die Relationen zwischen den Dingen und Begriffen neu kategorisiert. So – und nicht etwa mit einem geschwenkten Weihrauchfässchen – führt die Repetition der Wörter zusammen mit der Wiederholung von Gesten zu einer Schöpfung aus dem Nichts, deren Wirksamkeit sich einstellt, sobald ein Orgelpunkt gefunden ist, „etwas, das nicht in absoluter und uneingeschränkter Abhängigkeit zu mir steht“, wie Ekelöf in seinem Aphorismus schreibt. Dort macht er ihn im Denken an den Tod fest. Das Leben durch den Tod zu sehen sei eine schwindelerregende unsichere Melodie, doch…

Umgekehrt könnte es sein
wie in einer Spiegelwelt:
Daß der Tod dich auslöscht
das eine so gut wie das andre –
Und vielleicht ist es so:
Von Tod bist du gekommen, langsam
löscht das Leben dich aus.

(Das Buch Fatumeh, S. 43)

… diese Melodie kennt kein Ende. Sie kommt ohne Finale aus – und das ist vielleicht, was sie so verlockend macht –, denn sie steigert sich in einer Engführung, die Geburt und Tod als Wiedergänger auftreten lässt, wie in Das Buch Fatumeh Licht und Schatten einander spiegelten, um permanent ihre Position zu tauschen, in einer Art poetischem Reinkarnations-Kreislauf. Und in diesem paradoxen Sinne ist auch das Gedicht „Xoanon“ vielleicht ein religiöses Gedicht.

XOANON

Ich besitze, in dir, eine wunderwirksame Ikone
wenn dies Besitzen Nichtbesitzen ist –
wie sie auch mich besitzt. So besitze ich sie.
Sie ward mir gegeben am Tag an dem sie ,erschien‘
zur festgesetzten Zeit, am festgelegten Ort
und die gleiche Panayía offenbart sich wieder
wenn das Herz es will. Gelehnt an ihren Arm
auf einem Podest, in umgekehrtem Blickwinkel, steht
in vollem Ornat ein ausgewachsenes Wickelkind
der letzte Fürstensproß meines Geschlechts
Ich entferne ihn, denn jedes Attribut
diese Panayía läßt sich entfernen
wie Plünderer losreißen des Silberschmieds Basmá
von einem Bild zerküßter gedunkelter Hände
Ich entferne die Krone, die beiden Freudenverkünder
von Wolke und Goldgrund in den oberen Ecken
Ich löse die Spange am Maphorion
entferne von Haar und Hals den Schleier
Ich lüfte die Falten über der Brust zur Rechten

und sacht die Falten zu ihrer Linken
der Schmerzensseite. Wie Spinngewebe entfern ich
den leichten Unterrock, der das Rätsel gleichzeittg
löst und ungelöst läßt, und sie blickt mich an
aus braunen Augen, blauem Augenweiß –
blickt mich unverwandt an… Ich lös ihr die Arme ab
die braune Hand mit der Rose, die braunen Brüste
zuerst die rechte, behutsam die linke dann
mit den Schmerzen, den Gürtel nachdem
seinen Schmuck ich geküßt

Ich entfern ihr die Stirn, das Schläfenhaar, die Wangen
zuletzt die großen Augen die mich angeblickt
angeblickt unverwandt, anblicken immer noch
Ich entfern den Goldgrund und die Grundierung
bis auf das nackte Holz, das reich gemaserte:
Ein altes Bohlenstück, ausgehauen
aus windgefälltem Ölbaum, vor langer Zeit
nördlich an einer Küste. Mitten im Holz
verwachsen beinahe, das Auge von einem Ast
der brach in der Jugend des Baums –
Du blickst mich an. Hodigítria, Philoúsa.

(Das Buch Fatumeh, S. 77)

Norbert Lange, Park, Heft 67, Dezember 2014

 

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Kalliope

 

TV-Porträt über Gunnar Ekelöf Eine Welt, jeder Mensch…

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