H.C. Artmann: Artmann, H.C., Dichter

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von H.C. Artmann: Artmann, H.C., Dichter

Artmann/Dreissinger-Artmann, H.C., Dichter

an enden der zweige himmel
die vögelchen noch in grau
wieviel zeit hat es?
wieviel uhr ist es?
das gestern das nun das morgen
sehnliches warten
auf die laue milch der sonne
über kurz oder lang
sommer über das was
nicht tibet ist
nicht ferneres blühn
einer arktis
man streicht tage
an fingern ab
eine längere periode
des singens.

 

 

 

Nachsätze

Jetzt ist das Album voll. Es standen etwa tausend Bilder zur Verfügung, rund hundert davon wurden für dieses Buch ausgewählt. Es sind Standfotos eines bewegten Lebens, Momentaufnahmen selbst dann, wenn es sich um ausgeklügelte Porträts handelt: Im nächsten Augenblick erhob sich Artmann und ging weiter, fast immer erhobenen Hauptes.
So sehe ich aus, sagen diese Bilder und zugleich: So will ich aussehen. Die Grenze zwischen Pose und Haltung, zwischen Stilisierung und Stil verwischt sich. Auf den meisten dieser Fotos blickt Artmann direkt in die Linse, in das Auge des Fotografen, in das des Betrachters: Schau mich an, heißt das und zugleich: Schau nicht hinter mich.
Daß ein Fotoalbum keine Biografie ersetzen will, versteht sich; wohl aber will es ein Leben widerspiegeln. Wenn es dabei als Bildersammlung notwendig lückenhaft ist, so werden diese Lücken durch die eingestreuten Texte mehr als geschlossen: Sie weisen über dies besondere Leben hinaus, übertreffen dessen Wirklichkeit durch das noch Wirklichere: die Poesie. Nichts anderes wollte und will H.C. Artmann zeit seines Lebens…

Jochen Jung, Nachwort

 

Als Sohn eines Schuhmachermeisters

wurde H.C. Artmann in Wien geboren und ist dort aufgewachsen. Mit neunzehn Jahren eingezogen, im Krieg verwundet, nach kurzer Gefangenschaft entlassen, kehrte er auf mancherlei Umwegen nach Wien zurück. Dort knüpfte er erste Kontakte mit jungen progressiven Schriftstellern und fand sich rasch ermutigt, die eigene Vorstellung von Dichtung und Dichter-Sein in die Praxis umzusetzen. In nur wenigen Jahren wurde er zur Verkörperung der poetischen Existenz wie kaum ein zweiter und ist es – ein Parzival, der zum Lancelot wurde – bis heute geblieben. Dabei entsprach er nie dem Typus des schwermütigen Weltflüchtlings: Er ist menschenfreundlich und lebenszugewandt, und die Unhöflichkeit des Spielverderbers liegt ihm fern. Artmann ist heiter nicht zuletzt aus Anstand und Ritterlichkeit.
Mit gutem Grund hat man das Werk schon immer ungern von seiner Person getrennt. Dem trägt dieses Album Rechnung: es ist eine Biographie in Bildern, durchflochten von Texten, die erst in den letzten Jahren entstanden und großteils für dieses Buch geschrieben sind. Sie zeigen ein farbiges Dichterleben: selbst aus dem Schwarz-Weiß der Fotos blitzen immer wieder Artmanns blaue Augen.

Residenz Verlag, Klappentext, 1986

 

Meine heimat…

Meine heimat ist Österreich, mein vaterland Europa, mein wohnort Malmö, meine hautfarbe weiß, meine augen blau, mein mut verschieden, meine laune launisch, meine räusche richtig, meine ausdauer stark, meine anliegen sprunghaft, meine sehnsüchte wie die windrose, im handumdrehen zufrieden, im handumdrehen verdrossen, ein freund der fröhlichkeit, im grunde traurig, den mädchen gewogen, ein großer kinogeher, ein liebhaber des twist, ein übler schwimmer, an schießständen marksman, beim kartenspiel unachtsam, im schach eine null, kein schlechter kegler, ein meister im seeschlachtspiel, im kriege zerschossen, im frieden zerhaut, ein hasser der polizei, ein verächter der obrigkeit, ein brechmittel der linken, ein juckpulver der rechten, unbehaglich schwiegereltern, ein vater von kindern, ein Judas der mütter, treu wie Pilatus, sanft wie Puccini, locker wie Doctor Ward, schüchtern am anfang, schneidig gen morgen, abends stets durstig, in konzerten gelangweilt, glücklich beim schneider, getauft zu St. Lorenz, geschieden in Klagenfurt, in Polen poetisch, in Paris ein atmer, in Berlin schwebend, in Rom eher scheu, in London ein vogel, in Bremen ein regentropfen, in Venedig ein ankommender brief, in Zaragoza eine wartende zündschnur, in Wien ein teller mit sprüngen, geboren in der luft, die zähne durch warten erlernt, das haar nach vorne gekämmt, die bärte wie schlipse probiert, mit frauen im stehen gelebt, aus bäumen alphabete gepreßt, karussells in wäldern beobachtet, mit lissabonerinnen über stiegen gekrochen, auf tourainerinnen den morgen erwartet, mit glasgowerinnen explodiert und durchs dach geflogen, catanesinnen verraten, kairenserinnen bestürzt, bernerinnen vergöttert, an pragerinnen herangeraten, grüßgott gesagt, feigen gestohlen, revolver entdeckt, aus booten gestiegen, papierdrachen verwünscht, masken verfertigt, katakomben gemietet, feste erfunden, wohnungen verloren, blumen geliebt, schallplatten verwüstet, 150 gefahren, unrat gewittert, lampione bewundert, monde verglichen, nasen gebrochen, parapluies stehengelassen, malaiisch betrieben, positionen ersonnen, bonbons zertreten, musikautomaten gerüttelt, dankbar gewesen, heidenangst verspürt, wie der hirsch gelaufen, die lunge im maul gehabt, unter rosen geweilt, spielzeug gebastelt, rockärmel verpfuscht, Mickey Spillane gelesen, Goethe verworfen, gedichte geschrieben, scheiße gesagt, theater gespielt, nach kotze gerochen, eine flasche Grappa zerbrochen, mi vida geflüstert, grimassen geschnitten, ciao gestammelt, fortgegangen, a gesagt, b gemacht, c gedacht, d geworden.
Alles was man sich vornimmt, wird anders als man sichs erhofft…

H.C. Artmann, aus: H.C. Artmann: das suchen nach dem gestrigen tag oder schnee auf einem heißen brotwecken, Walter Verlag, 1964

Bildnisse von Dichtern: H.C. Artmann

Ist es ein Fehler, daß er wie ein Adler in unsern Gefiederkäfig einbricht? Wir schwirren schnatternd in die Ecken. Erst nach Minuten recken wir die Köpfe. Da sehen wir, daß die Heftigkeit seines Auftritts die Liebe des Zugroßgewachsenen ist. Er schaut uns traurig an. Fast läßt er den Kopf hängen, für einen Augenblick. Wenn er die Laterna-magica-Bilder vor seinen Augen wegschiebt, sieht er eine Welt voller Mörder und Grundstücksmakler. Wir trauen uns langsam wieder hinter unsern Biedermeiermöbeln hervor. Wir sagen ihm, daß er wie vom Salzatlantik gegerbt aussieht. Er haut uns lachend auf die Schultern. Jetzt taut er auf. Er erzählt uns vom Nordkap, vom Südkap, vom Kap der Guten Hoffnung, von den Frauen von Feuerland. Ich habe, sagt er uns ins Ohr, eine mitgebracht. Komm herein! Wir staunen sie an. Einer von uns flüstert, sie sieht ähnlich aus wie die letzte. Auch die da ist in durchsichtige Kleider gehüllt. Wir applaudieren alle. Plötzlich sehen wir, daß er jetzt keinen Jägeranzug mehr trägt, sondern einen Frack und den Hosenbandorden. Er lacht und trinkt einen Schluck. Nicht alle haben das gleiche Gefieder, sagt er, aber jeder hat ein paar schöne Lieder. Wir brummeln ein paar Melodien von uns vor uns hin, dann hören wir ihm zu, wie er etwas in einer uns bekannten Sprache singt.

Urs Widmer, Manuskripte, Heft 47/48, 1975

„… ein ganz klein wenig zu sehr ins ,Antiquierende‘“

– Arno Holz, H. C. Artmann, ein drohender Besuch beim Setzer und die Kunst der Nachahmung des Barock. –

Im Jahr 1903 veröffentlichte Arno Holz (1863–1929), bedeutendster Theoretiker und Praktiker des konsequenten Naturalismus in Deutschland, einen schmalen Gedichtband mit dem – gemessen am Modernisierungspathos des Autors – zunächst ungewöhnlich altertümelnden Titel Lieder auf einer alten Laute und mit einem ebenso eigenwilligen Gegenstand: Drei Jahre zuvor hatte Holz in einem Münchener Schaufenster ein „buntgrünes Quartheft“ entdeckt, „auf dessen Umschlag unter Frühlingswölkchen ein verliebtes Pärchen in altfränkischer Tracht spaziert[e]“.1 Im Inneren des Büchleins fanden sich zwölf Monatsbilder mit Szenen aus dem 17. Jahrhundert. Sie reizten Holz, zu jedem der Bilder ein Gedicht im Stil des Barock zu verfassen. Gewissenhaft, ja wissenschaftlich ging Holz ans Werk – und vertiefte sich über drei Jahre in Wörter- und Kochbücher der Zeit, nahm Studentengeschichten und Erbauungstexte zur Hand, studierte Lyrik von Simon Dach (1605–1659), Georg Philipp Harsdörffer (1607–1658), Johann Rist (1607-1667), Philipp von Zesen (1619–1689), Martin Opitz (1597–1639) und anderen, begeisterte sich für Johann Christian Günther (1695–1723) und Christan Reuter (1665–1712).2
Der Ertrag seiner Mühen ist reichhaltig: Bereits in der Blechschmiede von 1902 tritt erstmals die Gestalt eines jungen Sängers namens Dafnis auf. 1903 folgt die Anthologie Aus Großmutters Garten mit Gedichten des 17. und 18. Jahrhunderts, dazu die Lieder auf einer alten Laute, die allerdings erst in der erweiterten Fassung von 1904 und nun unter dem neuen Titel Dafnis. Lyrisches Porträt aus dem 17. Jahrhundert ein größeres Publikum finden. Was auf den ersten Blick wie der Versuch einer Parodie der sowohl in der Forschung als auch in literarisch interessierten Kreisen um 1900 wenig geachteten Barockliteratur erscheinen mag, erweist sich bei näherem Hinsehen freilich in doppelter Hinsicht als ernster und weniger überraschend, als zunächst zu vermuten: Zum einen waren, wie etwa Conrad Wiedemann hervorgehoben hat, „historische Maskerade, vitalistische Attitüde und „erotische Drastik“, die gleichermaßen den Dafnis prägen, um 1900 weder „wirklich neu“ noch „sensationell“.3

Originell war sicher sein Rückgriff auf das verachtete 17. Jahrhundert, doch angesichts des langsam ermüdenden Rokoko-Kults, in dem sich die Zeit gefiel, dürfte dies ein begrenztes Wagnis gewesen sein, umso mehr, als Holz mit seiner Vorliebe für Diminutive und impressionistische Szenarien der Rokoko-Manier durchaus nicht ganz entkam.4

Zum anderen aber ist Dafnis lediglich ein Baustein in dem größeren, von Holz um 1900 vertretenen literaturreformerischen Projekt. Bereits 1899 war mit Revolution der Lyrik seine Kampfschrift für eine radikal neue Poesie erschienen, und die Arbeit am Dafnis ging mit dem Beginn zweier weiterer „lyrischer Langzeit-Experimente“,5 dem Phantasus und der schon genannten Blechschmiede einher. Alle drei sollten Holz’ Vorstellung vom Ende des Reims, der Strophe und des Metrums sowie „vom Triumph des Rhythmus und der Mittelachse in der Lyrik“ den Weg bereiten:6

Nach der Logik, die seinem Reformprogramm innewohnt, wäre danach der Phantasus die pathetisch-positive Manifestation des Neuen, die Blechschmiede die parodistische Erledigung des Epigonalen als des falsch verstandenen Alten und der Dafnis die positive Vergegenwärtigung eines authentisch Gewesenen, wie es als Erinnerung in uns aufbewahrt sei.7

Im Dafnis wendet Holz, wie er in der Selbstanzeige der Erstfassung betont, seine Methode, „ein Stück Leben künstlerisch so treu wie nur irgend möglich zu geben“, nun ganz dezidiert auch „auf die Vergangenheit an“.8 Auch wenn Dafnis in der 1904 erschienenen zweiten, bei Reinhard Piper verlegten Ausgabe womöglich deshalb den von Holz lange ersehnten großen Verkaufserfolg erreichte (20.000 Exemplare im ersten Jahr), weil er sich hier scheinbar „im Kostüm einer vergangenen Zeit freier und unbeschwerter gab“,9 den Eindruck des Parodistischen nie ganz vertrieb und das Erotische mitunter in große Nähe zur „Herrenwitz-Mentalität“ geraten ließ,10 so begriff Holz selbst sein Buch doch ganz entschieden als ein ernstes, ja als ein „allumfassendes Werk ,ersten Ranges‘“, als künstlerische Aufgabe „allererster Ordnung“ in direkter Linie seiner bisherigen höchsten literarischen Ambitionen.11
Der Ernst, mit dem Holz dieses Projekt betreibt, zeigt sich schon an der Genauigkeit, mit der er – bis hin zur endgültigen Fassung von 192412 – die barocktypische Gestaltung von Titelblatt13 und Texteinrichtung (barocke Schrifttype etc.) bestimmt, um am Ende die größtmögliche Annäherung dieses Buches an die optischen Gestaltungsstandards barocker Buchkultur zu leisten. Den größeren programmatischen Rahmen hingegen, in dem dieses Projekt steht, erhellen zwei weitere Briefpassagen aus der Zeit. In einem Schreiben vom 25. Juni 1900 an Karl Hans Strobl führt Holz aus: 

Wie ich vor meiner Geburt die ganze physische Entwicklung meiner Spezies durchgemacht habe, wenigstens in ihren Hauptstadien, so seit meiner Geburt ihre psychische. Ich war „alles“ und die Relikte davon liegen ebenso zahlreich wie kunterbunt in mir aufgespeichert. Ein Zufall, und ich bin nicht mehr Arno Holz, „der formale Erneuerer der modernen deutschen Poesie“ […], sondern ein beliebiges Etwas aus jenem Komplex.14

Mit den Worten Conrad Wiedemanns wird man den Dafnis als „ausführliche Fallstudie der von Holz umrissenen „biogenetische[n] memoria“ und damit als Teil eines in der Tat als „Therapiemodell modernen Ich-Verlustes“ konzipierten, größeren Literaturprojektes begreifen dürfen.15 Dieses freilich sollte, um die genannte therapeutische Wirkung entfalten zu können, nicht wiederum nur einem Individuum Ausdruck verleihen, sondern Relevanteres vermitteln, in Holz’ Worten: „einen Typus“, 

der in der Realität immer wieder aufgetaucht ist […] und von der Kunst bisher noch nirgends festgehalten wurde. Ein synthetisches „Ewigkeits“individuum, wie nur irgend eins! Don Quixote und Hamlet „in Eens“! In jene Zeit nicht bloß „künstlich“ verlegt, sondern historisch unmittelbar aus ihr herausgewachsen!16

Arno Holz markiert mit seinem Dafnis einen frühen Fall und zugleich einen Höhepunkt der im 20. Jahrhundert vielfältigen, produktiven Rezeption von Barockzeitalter und Barockliteratur durch deutschsprachige Autoren. Erwies sich zwar die oft beobachtete Affinität zwischen barocker und expressionistischer Lyrik bei genauerer Betrachtung als eine tatsächlich bloß äußerliche Ähnlichkeit, die nicht auf eine intensive Rezeption des Barock durch expressionistische Autoren zurückzuführen ist,17 so reicht zugleich etwa die Liste literarischer Herausgeber barocker Prosa von Will Vesper über Erwin Guido Kolbenheyer, Thomas Mann und Hans Magnus Enzensberger bis hin zu Wolfgang Koeppen. Im Bereich der Lyrik treten in gleicher Funktion Klabund, Johannes R. Becher, Ina Seidel, Helmut Heißenbüttel oder Gerhard Rühm auf. Die Liste läßt sich verlängern, um Autoren etwa, die sich aneignend mit barocken Stoffen und Werken befaßt haben: Von Ricarda Huchs Der große Krieg in Deutschland (1912–1914) und Alfred Döblins Wallenstein (1920) kann ein Bogen leicht über Bertolt Brechts Mutter Courage (1939/41), Bernt von Heiselers und Luise Rinsers Bearbeitungen von Jakob Bidermanns (1578–1639) Philemon (1962 bzw. 1973) bis hin zu Hubert Fichtes Bearbeitung Daniel Caspar von Lohensteins (1635–1683) Agrippina von 1978, der Erzählung Das Treffen in Telgte (1979) von Günter Grass, Rolf Hochhuths Anleihen beim barocken Reyen in McKinsey kommt (2003) und schließlich Durs Grünbeins Descartes-Epos Vom Schnee (2003) gespannt werden. Natürlich gehört auch Günter Grass’ epochemachendes Buch Die Blechtrommel (1959) in seiner produktiven Rezeption des pikarischen Romans zu den berühmtesten Einzelfällen intensiver Aneignung barocker Stoffe und Erzählverfahren.18 Ebenfalls 1959, womöglich aber von diesem barockisierenden Roman ein wenig in den Schatten gestellt, erscheint in München H.C. Artmanns Sammlung von 26 kurzen Erzählungen und 27 Epigrammen (einschließlich Pro- und Epilog) im Barockstil unter dem Titel Von denen Husaren und anderen Seil=Tänzern.19
Zu den Merkwürdigkeiten von Artmanns Biographie gehört es, daß er, zumindest in seinen Anfangsjahren als Literat, nicht sehr intensiv auf die Publikation seiner Werke drängte:20 Obwohl Artmann Jahrgang 1921 ist und seit den späten 1940er Jahren in Wien erste Texte im Radio und in Zeitschriften veröffentlichen kann, zudem im Umfeld der Zeitschrift Neue Wege und des Art-Club vielfältig literarisch aktiv ist, erscheint erst 1958 mit med ana schwoazzn dintn Artmanns erstes Buch. Daß diese Mundartgedichte ganz aus „dem Wiener Wort“ und „der Wiener Sphäre“21 und zudem mit viel schwarzem Humor schnell ein großes Publikum finden könnten, dürfte Artmann zunächst nicht erwartet haben. Noch im Jahr der Erstausgabe aber erscheint bereits eine fünfte Auflage mit dem 15. und 16. Tausend. Bald entsteht ein Kontakt zum Münchener Piper-Verlag, der sich, wie der Briefwechsel zwischen Artmann und dem Verlagshaus zeigt, um eine lange, exklusive und erfolgreiche Zusammenarbeit mit einem zwar nicht mehr ganz jungen, doch aber vielversprechenden Autor bemüht. Man habe ja, so heißt es in einem Brief vom 4. Mai 1959, bereits bei Artmanns kürzlichem Besuch in München betont, wie sehr man daran interessiert sei, ihn „als Autor für den Verlag zu gewinnen und nicht etwa daran, ein einzelnes Buch des Dichters H.C. Artmann herauszubringen“. Man glaube, so heißt es weiter, „daß Sie ja selbst daran interessiert sind, in einem Verlag eine gewisse Heimstatt zu finden, es würde Ihnen ja nur schaden, wenn Ihre Produktion völlig zersplittert bei den verschiedensten Verlagen untergebracht wäre“.22
Artmann und Piper kamen zusammen, und im Lichte der Tatsache, daß es der gleiche Verlag war, der 1904 Arno Holz’ Dafnis druckte und sich mit diesem Projekt schlagartig auf dem deutschen Buchmarkt zu etablieren vermochte, konnten durchaus gute Voraussetzungen für ein erfolgreiches Projekt angenommen werden. Artmann freilich war nicht Holz, sein Interesse an öffentlicher Wahrnehmung ganz anders gelagert, seine literarische Konzeption von der des Naturalisten grundverschieden und auch das Verständnis des Verlages für Von denen Husaren war ein anderes, als es das Reinhard Pipers für den Dafnis von Holz war. Piper hatte immerhin einige Jahre als Holzens ,Jünger‘ verbracht, ehe er sich als Verleger mit einem Werk des ,Meisters‘ selber zu etablieren verstand.23
Wie weit am Ende das Mißverständnis zwischen Piper und Artmann ging, zeigt sich in einem Brief Klaus Pipers vom 10. März 1960. Piper räumt hier ein, daß ihn der Verkauf des Buches „doch etwas enttäuscht“ habe. Artmann sei daran wohl nicht ganz unschuldig, weil er im vergangenen Jahr, „sei es als Autor, sei es als Herausgeber“, verschiedene Sachen von sich gleichzeitig auf den Markt geworfen habe, „so daß das Interesse auf das neue Buch nicht so eindeutig konzentriert war“. Man müsse sich auch „eingestehen, daß es nur einen kleinen Kreis von Menschen gibt, der sich so stark für solche freispielenden Phantasie-Stücke in der Literatur erwärmt“. Von denen Husaren, so fährt Piper fort, sei etwas für „Außenseiter-Leser“, und gerade aus dieser Sicht erfreue es den Verlag, daß Artmann sich nun entschlossen habe, wie man aus manch seiner Äußerungen irrig zu entnehmen können glaubte, „das an sich charmante Maskenspiel mit den Verfremdungseffekten, pseudo-historischen Historien-Malereien, Stilmischungen“ abzubrechen, um eine geschlossene Prosaerzählung in Angriff zu nehmen.24 Stilmischung und Maskenspiel aber, die Arbeit mit historischen und zeitgenössischen literarischen Genres, waren für Artmann, was dem Verlag damals offensichtlich nicht so deutlich bewußt war (wie es aus der Rückschau auf das Werk jedoch unverkennbar ist), zentrale Bestandteile seines literarischen Selbstverständnisses. Wie Klaus Reichert im vielzitierten Aufsatz über Artmanns „Poetik des Einfalls“ bereits hervorgehoben hat, waren die „Husarengeschichten“ „alles andere als eine stilistische Grille, […] sondern sind in der Kontinuität eines sich bildenden Wirklichkeitsverständnisses zu sehen“.25
So ist schon Artmanns Beschäftigung mit dem Barock nicht auf das Jahr 1959 beschränkt: Als Gerhard Rühm 1967 Rückblick auf die Wiener Gruppe hält, berichtet er, wie er 1952 Artmann kennenlernte und dieser den „wiener avantgardisten“ „entscheidende literarische Impulse“ gab:26 Dazu gehörte auch, daß man sich

auf anregung artmanns […] (in der nationalbibliothek) mit barockliteratur zu befassen [begann]. die studien griffen um sich, wir entdeckten die deutsche literatur neu, verfolgten eine von der schule unterschlagene oder diskriminierte „zweite“, unsere eigentliche tradition nun zurück durch die gesamte literaturgeschichte. während wir ihre sehr nötige revision, eine richtigstellung der personellen proportionen bedachten, hatten diese auseinandersetzungen, vor allem mit der barockliteratur, bei artmann auch unmittelbare auswirkungen auf seine eigene produktion.27

Artmann selbst war schon länger mit dem Barock und seinen Husarengeschichten befaßt: Erste Texte zum Husarenbuch entstanden bereits 1953. Die ganze Sammlung war, glaubt man der „Vorred an den großmütigen Leser“, bereits 1956 während eines Aufenthalts in Saragossa weitgehend abgeschlossen worden.28 Er bewunderte Johann Beer (1655–1700) und blieb auch als Übersetzer dem Barock treu: Er übertrug Francisco Gómez de Quevedo y Villegas (1580–1645), Texte von Lope de Vega (1562–1635), Tirso de Molina (1581–1648), Agustin Moreto y Cavana (1618–1669) sowie Stücke von Molière (1622–1673). Wie Arno Holz überließ auch Artmann bei seinem Versuch der produktiven imitatio barocker Literatur nur wenig dem Zufall. Er präparierte sich durchs ,Studium der Alten‘ und besaß dabei doch vor Holz einen großen Vorteil: Ihm war Dafnis während seiner eigenen Arbeit wohl bekannt.29 Während er bei vielen seiner späteren Stil- und Genreimitationen kaum prominente Vorläufer zu beachten hatte, verspricht die Konkurrenzsituation, in die sich Artmann begab, vertiefende Einblicke in die Konturen seines Projekts.
Nur wenig scheint ihn dabei zunächst von Holz zu unterscheiden: Der eine wie der andere tritt seinem Verlag gegenüber mit äußerst präzisen Vorstellungen zur Gestaltung des Buches auf und ist um eine möglichst perfekte Annäherung des Neuen an das barocke Alte bemüht. Mit großer Aufmerksamkeit fürs Detail verhandelt Artmann mit dem Verlag über die rechte Drucktype als Marginalien-Satz,30 bittet, als man sich längst auf die Altschwabacher geeinigt hat darum, ob man nicht „in den glossen […] die fremdsprachlichen wörter latein-kursiv in die schwabacher mischen könnte“,31 und will zu einem Zeitpunkt, da bereits mehrere Satzproben erstellt und diskutiert wurden, am liebsten noch einmal das bisher gewählte Buchformat ändern lassen:

Mit ihren Vorschlägen vom 15. d. [monats] bin ich sehr zufrieden, nur wäre es mir doch lieber, wenn das buch wieder die ursprüngliche breite von fassung 1. bekämme. Also nicht, was druck betrifft, sondern die breite des formats.. Bitte, wenn s geht!!32

Der Verlag lehnte, wie kaum anders zu erwarten, ab. Er tat dies, hier ebenso nachvollziehbar wie dort, auch bei einer anderen Gelegenheit, in der sich wohl am deutlichsten zeigt, wie sehr Artmann bei diesem Buch daran gelegen war, wirklich jedes Detail seiner formalen Gestaltung zu bestimmen und zu kontrollieren. Sehr zum Entsetzen des Verlags droht Artmann dem Piper-Lektor Hansjörg Graf mit seinem Besuch in der Produktion:

Wenn ich zeit habe, will ich zum umbruch nach Kempten fahren, dort eine woche bleiben und selbst mitmachen. Ich denke, man würde dadurch viele briefe ersparen.33

Die Irritation ist groß, vor allem der bei Piper mit der Herstellung betraute Herr Krauße ist alarmiert, notiert ein dringendes „möglichst nicht!“ an den Rand von Artmanns Brief,34 und sowohl Lektor wie Hersteller bemühen sich mit vereinten Kräften, den Dichter von der in Aussicht gestellten Reise ins Allgäu abzuhalten, wo er den bewährten Fachkräften der Druckerei Kösel zur Hand zu gehen gedenkt: 

Sie hatten sich erboten, gegebenenfalls nach Kempten zu fahren. Herr Dr. Graf riet ihnen, nicht zuletzt auf meine Veranlassung hin, ab. Ich darf das noch einmal unterstreichen: Die Druckerei ist sehr versiert und mit sehr viel Liebe bei der Sache. Es ist eine psychologische Frage, daß dann die Anwesenheit des Autors häufig genug und gerade von den ausübenden Kräften, eben von dem erfahrenen und liebevoll tätigen Meteur [sic!] – verzeihen Sie – als Dreinreden empfunden wird. Und dieser psychologischen Situation wollen wir ja alle ausweichen. Zudem: die Druckerei machte von sich aus den Vorschlag, den Satz gleich zu umbrechen und die Marginalien neben die einzelnen Seiten auf die rechte Zeile zu stellen. Das ist ein Entgegenkommen, wie wir es nur von wenigen Druckereien gewohnt sind und wir möchten deren spontane Freude an der Sache nicht bremsen. Wir sind überzeugt, daß Sie dafür Verständnis haben werden.35

Ist dem Verlag bei der Ablehnung später Änderungen des Formats und eines Besuchs des Autors in der Druckerei nur zuzustimmen, darf man an anderer Stelle die Weigerung, einem Wunsche Artmanns nachzukommen, bedauern. Als dieser nämlich vorschlug: „Sehr hübsch wäre es, wenn man das erste wort der folgenden seite rechts und unterhalb der vorhergehenden seite drucken könnte, wie es seinerzeit in druckwerken üblich war“,36 wollte sich der Verlag zu derlei historisierenden Finessen des Buchdrucks wie die von Artmann vorgeschlagenen Kustoden nicht bereit finden.37 Dies sei nun wirklich „ein wenig zu viel des guten“, man käme auf diesem Weg „ein ganz klein wenig zu sehr ins ,Antiquierende‘“.38 Liest man den vom Verlag verfaßten Klappentext zum Buch, dann zeigt sich, warum man in dieser Sache so entschied: Dort erscheinen die Husaren als „heiter-skurriles Divertimento ,ohne tiefere Bedeutung‘“, als „Prosa, zubereitet als ein pikantes Ragoût“ mit surrealen Effekten, getragen von der „Lust am Verfremdungseffekt“ und einer überquellenden „Fabulierfreudigkeit“ des Autors.39 Den Text begreift man offenbar nicht als Teil eines ernsthaften literarischen Projekts, sondern vornehmlich als literarischen Spaß, der dann freilich auch wieder seine Grenzen haben müsse.
Artmann hingegen handelt so, als sei das Gegenteil richtig. Er müht sich unablässig, äußerlich die „Attrappe ,Barockbuch‘“40 mit größter Genauigkeit zu erzeugen, die der Verlag wiederum seinerseits zu verhindern sucht. Ein zweites markantes Beispiel betrifft die Gestaltung des Schutzumschlags. Artmann hatte den noch jungen Ernst Fuchs um einen Entwurf gebeten und befand dessen Skizzen als ideal für seine Vorstellungen vom fertigen Buch. Begeistert schreibt er seinem Lektor bei Piper: 

Sein titelbild soll eine schwebende zwitterkanone, ein ding halb feuerwaffe, halb dreschmaschine[,] oder auch was andres ähnliches, darstellen, darauf ein husar mit meinem ,angesicht‘. commod liegend den blauen äther durchschwebt. Unte[n] aber, im grase, liegt der selbe husar, und sieht nach seinem fliegenden ebenbilde. Den hintergrund wird eine altdeutsche grünewaldlandschaft bilden. Embleme de[r] kriegskunst und der vergänglichkeit rahmen das ganze. Das bild wird in holzstichmanier gezeichnet und mit drei oder zwei farben unterlegt.41

Doch diese Entwürfe finden bei Piper keinen Anklang: 

Gewisse grundsätzliche Zweifel müssen wir allerdings schon jetzt anmelden: Finden Sie nicht auch, daß der „Verfremdungsefekt“ hier noch zu wenig herauskommt, die Zeichnung von Fuchs ist eben doch zu altmeisterlich angelegt. Man käme nie auf den Gedanken, daß sich hinter diesem Entwurf ein letzten Endes doch ganz aus der Materialität des 20. Jahrhunderts heraus geschriebener Text verbirgt.42

Wieder beharrt man darauf, eine vollständig barocke Einkleidung des Textes zu verweigern. Statt Fuchs den Auftrag zu geben, erhält ihn der bekannte Graphikdesigner und Buchkünstler Gerhard M. Hotop (*1924). Er fertigt ein farbiges Umschlagbild an, das in Pinselführung und Farbwahl, vor allem an die äußere Gestaltung von Artmanns Erstling anknüpft – vielleicht vom Verlag auch so intendiert, um direkt an den Erfolg von med ana schwoazzn dintn anschließen zu können –, aber ganz das Gegenteil von Artmanns Intentionen erreicht: Von außen nämlich kommt nun kein Leser mehr auf die Idee, es könne sich hier um die geschickte Simulation eines barocken Buches handeln. Zwar enthält das collageartige Bild eine Reihe von Motiven, die der Thematik des Textes entsprechen – von einer barbusigen Frau über eine Friedenstaube, einen Soldatenkopf und einen Bocksbeutel bis hin zu einem Pferd und einem Totenkopf. Vom antiquierenden Impetus des Buches aber ist dieser modernen Zeichnung nichts mehr zu entnehmen. Artmann hat nicht nur nicht bekommen, was er wollte. Das Titelbild des Verlages leistet zudem nicht, wie noch das Holzens, eine Hinführung des Lesers zum Text, und es verhindert zudem jeden Anschluß an den Klassiker des eigenen Hauses, an den Dafnis, obwohl Referenzen zu diesem Vorläufer und Prätext Artmanns der Rezeption wie dem Absatz womöglich geholfen hätten.
Mit der Ablehnung des Titelbildes entging dem Verlag und dem Buch natürlich auch die Chance, dem Leser das Projekt auf präzise Weise darzustellen: Die Grafik von Ernst Fuchs sollte ja Artmann in einer Doppelrolle als fliegenden und zugleich sich selbst beobachtenden Husaren präsentieren. Hätte der Verlag dazu noch ein Foto Artmanns in den Klappentext integriert, wäre jedem Leser eine zentrale Pointe des Textes deutlich geworden, die sich auch jetzt noch, nur eben ungleich schwerer, entdecken läßt: Dem Muster barocker Texte entsprechend, leistet ein erstes Titelblatt zunächst eine Herausgebertiktion, nach der „H.C. Artmann“ nicht als Autor, wohl aber als Kommentator der nachfolgenden Texte auftritt, die wiederum in seinem Auftrag ein gewisser „Friedrich Polacovics“ (dahinter verbirgt sich ein Freund Artmanns, von dem interessanterweise die Deckelillustration zur schwoazzn dintn stammt) „[i]n gebührliche Form gebracht & unter einander gereihet“ habe.43 Die hier beschriebene Aufgabenverteilung wird weder in der Titelei noch in der folgenden gedruckten Widmung oder im Register der Historien bzw. in der „Vorred an den großmütigen Leser“ – diese Textfolge entspricht übrigens durchaus den Gewohnheiten barocker Buchgestaltung – präzisiert. Gewissermaßen korrigiert wird sie jedoch in der ersten Geschichte „Der Husar am Münster“. Hier nämlich tritt ein erzählendes Ich auf, das sich selbst nicht weiter benennt, für alle im Folgenden abgedruckten Geschichten aber in Anspruch nimmt, diese hätte ihm ein altgedienter, invalider Husar, der auf den Stufen des Münsters von Toledo als Gelegenheitspoet eine karge Existenz fristete, zur Aufmunterung erzählt. Für den Leser mag schon irritierend sein, daß jener Abend, an dem der Husar seine Geschichten zum besten gab, in das Jahr 1603 verlegt wird, obschon die im gleichen Stil abgefaßte „Vorred“ – nur eine Seite zuvor – auf das Jahr 1956 datiert ist. Diese natürlich ganz bewußt inszenierte Verwirrung steigert sich noch, wenn der Leser entdeckt, daß jener „H.C. Artmann“, den die Titelei des Bandes als Kommentator der Erzählungen benennt, in der allerersten Randglosse zur ersten Erzählung mitteilt, jener Husar, aus dessen Mund alle Erzählungen stammten, sei ein gewisser „Hieronymo Caspar Laërtes de Artmano“.44 Der denkbare Schluß, hier sehe womöglich ein Artmann in den 1950er Jahren einem Vorfahren des frühen 17. Jahrhunderts beim Erzählen zu, ja werde zum kommentierenden Vermittler seiner Erfahrungen, erinnert ein wenig an Holz’ Idee vom Leben als Nachleben auch der gesamten psychischen Entwicklung der Spezies, geht aber hier nicht auf: Laertes war Artmanns Pseudonym in der Wiener Gruppe.45 Berücksichtigt man schließlich, daß 1966 unter dem Titel Der Landgraf zu Camprodon eine „Festschrift für den Husar am Münster – Hieronymus Caspar Laertes Artmann“ erschien,46 während der „Herr der Festen Plätz von Gurck, Brämar, Camprodon“47 in Artmanns Husarenbuch gleich zweimal als Dienstherr des Husaren48 und einmal als Widmungsadressat des Buches49 genannt wird, so verkompliziert sich die Lage weiter: Artmann macht sich damit in Personalunion zum erzählenden Husar des Jahres 1603, zum Kommentator und Vermittler seiner Geschichten und Epigramme im Jahr 1956, und er erscheint schließlich als jene beiden Dienstherren des Husaren, deren einem die Texte gewidmet sind, die der Husar selber nur erzählt, weil er vom ersten, tyrannischen Herrn von Camprodon keinen „Ehrenpiaster50 mehr erhält und daher zum Gelegenheitspoeten geworden sei.
Natürlich hat auch das Spiel mit verborgenen Autorschaften und der vielfachen Brechung vorgeblicher Authentizität sogenannter Historien barocke Vorbilder. Man findet sie etwa in den simplizianischen Schriften von Grimmelshausen. Bei Artmann markieren sie sehr konsequent einmal mehr dessen Bemühen um größtmögliche Simulation eines barocken Textäußeren. Und doch ist sie zugleich auch charakteristisch für Artmanns Selbstverständnis als Autor, wie Klaus Reichert treffend analysiert hat. Im Text, so schreibt er, 

entsteht eine planvolle Verunsicherung des Lesers: das Erzählte wird doppelt [bzw., wie sich gezeigt hat: dreifach] entrückt und gleichzeitig herangeholt; durch das Erzählte verläuft ein Riß; die Distanz zwischen gestelltem Arrangement und Erlebnis wird – als Denkfigur zumindest – aufgehoben; umgekehrt tritt die Kunstfigur Artmann in Distanz zu sich selber, ohne daß distinkte Identitäten greifbar würden, da die Grenzen vom einen zum anderen, vom anderen zum einen, ständig übertretbar bleiben. Vergessen wir für einen Moment das Barockkolorit, so haben wir hier im Ansatz das Außersichstehen und Beisichbleiben der Autorperson als Agens des Textes, wie sie in der Prosa der [19]60er und [19]70er Jahre bestimmend werden, die Entwürfe biographischer Fiktion und fiktiver Biographie, die nicht auseinanderzuhalten sind, weil sie die denkbaren, lebbaren, schreibbaren Identitäten in stetem Schwebezustand halten.51

Spätestens hier läßt sich der Neuansatz Artmanns gegenüber Holz präziser fassen: Auch Artmann suchte in der Imitation und Simulation des Barocks eine Therapie für die Gegenwart, auch er strebte nach der „Vergegenwärtigung eines […] Gewesenen“.52 Jörg Drews hat dieses Moment in Artmanns Werk als einen romantischen Zug, als „Sehnsucht […] nach einer poetischen Welt“, als Bemühen um die „Wiedereinsetzung poetischer […] auratischer Sprache“ begriffen. Artmanns Literatur erscheint ihm als ein „Gipfel nostalgischer Literatur […], sentimental im Selbstgenuß ihrer Sehnsucht nach Sprach- und Weltgegenden, die noch nicht so von der Zivilisation aufgefressen waren“. Nach Drews Deutung sind Artmanns Texte „zum Weinen, weil sie vorführen, was verloren ist, welchen Preis wir gezahlt haben für die Rationalisierung der Welt und die Existenzsicherung aller einzelnen: das Gefühl nämlich, Welt und Individuum hätten eine Aura von unbedingter, absoluter Bedeutsamkeit, berührten sich irgendwie mit Überweltlichem reichten irgendwie an die Gottheit an“. Artmanns Kunst in Von denen Husaren besteht in der Tat, um eine letzte Formulierung von Drews zu entlehnen, in der „Gratwanderung auf dem Unechten, das als kalkuliert Unechtes eben wieder echt ist oder sein soll“.53 Artmanns Kunst ist genau darin grundverschieden vom Anspruch, den Arno Holz erhoben hat, nämlich die „Vergegenwärtigung eines authentisch Gewesenen“ zu leisten,54 die naturalistische Methode auf die Vergangenheit anzuwenden und ein „Ewigkeits,individuum‘“55 als Antwort auf die Identitätskrisen der Moderne zu gestalten. Wo für Holz der Dafnis der Nachweis der Therapierbarkeit modernen Leidens mit den Mitteln der Poesie ist, markiert die barocke Kostümierung bei Artmann hingegen nur den Verlust, die Sehnsucht nach Unwiederbringlichem und ist folglich auch, anders als bei Holz, nur eine von vielen Kostümierungen, die Artmanns literarisches Schaffen geprägt haben.
Es sei erlaubt, zwei letzte kurze Überlegungen zu ergänzen: Artmanns Bemühen um eine möglichst überzeugende Barockisierung des Äußeren seines Buches sah auch die Einrückung einer Vorstellung seiner Person durch Friedrich Polakovics vor. Ein optisch-formal penibel barockisierender Entwurf dieser Vorrede hat sich in Artmanns Nachlaß in der Wienbibliothek erhalten, wurde aber vom Verlag ebenfalls nicht für die Ausgabe des Textes berücksichtigt. Da kurze Kommentare von tatsächlich oder nur vorgeblich dritter Hand in der gesamten Barockliteratur nicht eben selten waren, um, wie in der nachgestellten „Zugab des Autors“ in Grimmelshausens Courasche, eine weitere Brechung in die komplexe Erzähl- und Deutungskonstellation hineinzutragen, um Herausgeberfiktionen zu stärken oder tatsächlich mit der Absicht, Werbung für einen Autor zu machen, hätte auch diese Vorrede dazu beigetragen, die „Illusion eines Barockbuchs“ zu erzeugen, die freilich in der vorliegenden Fassung keineswegs die „Undurchdringlichkeit einer Maske“56 besitzt: Denn so sehr die Gestaltung etwa der Titelei in Von denen Husaren präzise den Geflogenheiten des 17. Jahrhunderts entspricht, wie Christiane Caemmerer herausgearbeitet hat,57 so wenig war der Verlag offenbar bereit, die von Artmann gewollte starke formale Annäherung an die Äußerlichkeiten barocker Literatur umzusetzen. Zudem ist zu bedenken, daß Artmann auf der semantischen Ebene der Texte, durch das geschilderte kunstvolle Spiel mit der Autorrolle wie durch eine Reihe anachronistischer Kommentare, mit denen er die Husarengeschichten begleitet, alles daran setzt, die auf formaler Ebene erzeugte Barockisierung wieder aufzulösen, den dort erreichten scheinbaren Authentizitätsgewinn gleich wieder zu zerstören. Nicht die Undurchdringlichkeit der Maske, sondern das bewußte, schon im gewünschten Schutzumschlag von Ernst Fuchs umgesetzte konstante Changieren zwischen Simulation und ihrer Durchbrechung, zwischen Erzählen und Selbstinfragestellung des Erzählers, sind bei Artmann Programm.
Das nichtgedruckte Autorenporträt von Polakovics übrigens verdient noch in einer weiteren Hinsicht Aufmerksamkeit: Hier ist zu lesen, und Polakovics schrieb dies wohl kaum ohne Einverständnis Artmanns, daß sich Von denen Husaren ganz dezidiert in Konkurrenz zu Holz’ Dafnis begriff:

Nachzusenden, daß unser aller wacker Husar, lebete er noch, nichts zu schaffen wöllt haben mit denen heidnisch Freß=, Sauf= & Venuß=Liederen, auch Dafnis-Gesäng, deß derhalben bekandten Arno Holtzens!

Es ist äußerst bedauerlich, daß der Verlag der Husaren 1959 die Chance vergab, Artmanns Buch ganz nach den Wünschen des Autors zu gestalten und damit auch die ambivalente Nähe zu Holz zu betonen. Der Glücksfall, den es bedeutet, daß sich zwei Autoren nacheinander aus ganz unterschiedlichen programmatischen Perspektiven einem vergleichbaren Projekt zuwenden, um es ähnlich und doch grundverschieden auszuführen, wäre vielleicht stärker beachtet worden, vor allem aber in seiner Gänze zu beobachten gewesen, und nicht von Seiten Artmanns nur als Rudiment. Polakovics’ Bestätigung, daß Von denen Husaren sowohl eine Reaktion auf Barockliteratur als auch auf den Dafnis von Arno Holz ist, verweist schließlich darauf, daß der in Von denen Husaren für Artmanns Verhältnisse große narrative und formale Kohärenzwille mehr war, als ein Versuch, eine scheinbare eigene gestalterische Schwäche zu überwinden.58 Und er war schon gar nicht ein Zeichen für die vom Verlag erhoffte Abkehr vom „charmante[n] Maskenspiel“, sondern vielmehr die Basis für die beabsichtigte doppelte Stilaneignung und Stilbrechung gegenüber dem Barock und dem barockisierenden Holz.
Einen Glücksfall bedeutete es immerhin, daß Artmann im Jahr 1989 die Gründung der Edition Thanhäuser begleitete und ihrem Herausgeber, Christan Thanhäuser, „das Manuskript einer noch unveröffentlichten Husaren-Geschichte“ zur Verfügung stellte, um daraus „ein schönes Buch zu gestalten, illustriert mit Holzschnitten“.59 Als Type fand die Alte Schwabacher Verwendung. Thanhäuser produzierte ein Buch,60 das zwar Holzschnitte heutigen Stils enthält und ausschließlich die rechten Seiten bedruckte, was vom barocken Buchgestaltungsusus abweicht, im Schriftbild aber dank barocker Type und verwischten Schriftkonturen unmittelbar an Druckwerke aus dem Barock erinnert. Hier ist zwar kein Bezug mehr auf Arno Holz intendiert, die Aneignung der barocken Maske aber erfolgt optisch-äußerlich so schlüssig, wie es sich Artmann – und mit ihm so mancher Leser – wohl schon für seine Sammlung von Husarengeschichten und Husarenepigrammen aus dem Jahre 1959 gewünscht hätte.

Johannes Birgfeld, aus Marcel Atze und Hermann Böhm (Hrsg.): „Wann ordnest Du Deine Bücher?“. Die Bibliothek H.C. Artmann, Sonderzahl Verlag, 2006

H.C. Artmann: Werk- Nachlaß – Wirkung … und Versäumnis61 

I.
Die literaturgeschichtliche Bedeutung H.C. Artmanns und die außerordentliche Qualität seines Schaffens sind heute – spät genug – unbezweifelt wie bei nur wenigen österreichischen Dichtern nach 1945. Dieses hohe Ansehen seines Œuvres ließe umfangreiche philologische Bemühungen zur Erschließung Artmanns vermuten; indes zeigt sich bei einer ersten Analyse des Forschungsstandes, daß das Bemühen um diesen Dichter noch am Anfang steht – es findet sich zwar eine Reihe lesenswerter Kommentare und Essays, doch in vielen Fällen sind selbst die Grundlagen möglicher Lektüren unklar.
Artmanns Poesie entzieht sich mitsamt ihrem Schöpfer den Kategorien der Literaturwissenschaft sehr effizient; dies hat dazu geführt, positivistische Annäherung an die Genese dieses Werkes kaum mehr zu unternehmen, um stattdessen in nur bedingt angebrachter Ironie die Selbststilisierungen den eigentlichen Grundlagen vorzuziehen (vgl. etwa Reichert 1975: 386). Zweifelsohne pflegt Artmann die Maskerade; dies fängt mit dem berühmten Bild an, das Spitzwegs Gemälde in Authentizität oder Satire – wer wollte es entscheiden? – wendet.62

Trotz des Erfolges läßt sich Artmann nicht nieder; er ist selbst ein poetisches Objekt geworden, herumschwirren will er, hypermodern gekleidet, in alten Kulturen, alten Sprachen. (Bauer 1992: 170)

Maskenträger Artmann lebt, zeigt und schreibt, „daß man aus der Haut fahren kann, und zwar in jede beliebige andere hinein“ (zit. in Reichert 1975: 387). Darin ist er authentisch, in der Arbeit, die auch Arbeit am Selbst ist:

„Woran arbeiten Sie gerade?“, da kann ich immer nur sagen, an mir. (zit. in Hofmann 2001: 37)

Er bietet unter anderem das Bild des in vollendeter Eleganz sich (seinen Abgründen) nähernden Gentleman, der souverän in einem Naturgedicht nicht zuletzt, was seine Natur sein mag, in Verse faßt (cf. Artmann 1987: 25). Von einem Überfluß an Ich ließe sich sprechen; Nietzsche formuliert diesen Wandel um des Selbst willen so:

S a u g t  eure Lebenslagen und Zufälle aus – und geht dann in andere über! Es genügt nicht,  E i n  Mensch zu sein, wenn es gleich der nothwendige Anfang ist! Es hieße zuletzt doch, euch aufzufordern, beschränkt zu werden! Aber aus Einem in einen Anderen übergehen und  e i n e  Re i h e   v o n   W e s e n  durchleben! (1993: 558).

Und Cioran meint:

Nur ,Besessene‘ […] geben ihr ,eigentliches Ich‘ preis, vielleicht sind nur sie beschränkt genug, um überhaupt eines zu besitzen. (1983: 276)

Es mag also angebracht sein, bei Artmann in Bezug auf positive Fakten besondere Vorsicht walten zu lassen. Dessen ungeachtet muß es bedenklich stimmen, wenn er aufgrund seiner Nachrichten aus Nord und Süd – nicht minder von Stilisierung durchsetzt – endlich als Charakter verstanden wird, „als ob man Artmann zuvor für charakterlos erachtet hätte“ (Schmidt-Dengler 1979: 502). Eine Analyse der Produktionsbedingungen seiner Texte schöbe diesem Umschlag der Rezeption von angenommener Ironie in unterstellte Authentizität einen Riegel vor.
Man kommt an dieser Stelle nicht umhin, argwöhnisch auf die Bände, die nach seinem Tod erschienen, zu sehen; diese werden begreiflicherweise als Bücher von erschreckender Offenheit angepriesen: „Was ist Erotik und was Sexualität, mir geht es um’s Budern“, so heißt es dann (zit. in Hofmann 2001: 23). Das ist natürlich noch manchem aus den Texten vorzuziehen, welche die „Priester der Germanistik“ (16) vorlegen – dies auch, weil die auf den ersten Blick vulgäre Wendung ins Herz der gutbürgerlichen Euphemismen zielt, die verhüllen, was mit ihren Vokabeln, die feine Gesinnung suggerieren, bedacht weitaus weniger unschicklich ist. Aber die Präsentation der nackten Wahrheit, die hier und da mitschwingt, verrät wiederum die Lust auf den eigentlichen Artmann. Nicht ihn, sondern sein Werk gründlich erarbeitend wäre letztlich über Textcorpus und Verfasser mehr zu erfahren. Gibt es St. Achatz? Es gibt nur St. Achatz: „Wenn ich das sage, dann gibt’s das“ (zit. in Hofmann 2001: 39). Jede Annäherung an den Dichter unter Verkennung des Poetischen in seiner Lebensgestaltung führte dagegen in die natürlich nicht unberechtigt festgestellte Tautologie – „Artmann als die Formel für Artmann“ (Jandl 1977: 535).63
Gleichwohl ist keinesfalls darauf zu verzichten, Artmann wissenschaftlich zu Leibe zu rücken. Selbst die Masken beinhalten ja, das müßte in Erinnerung gerufen werden, nicht zuletzt, was Artmann nicht ist, als was zu erscheinen er nicht vermochte, zu skrupulös gewesen sein mag: „als strenger Realist“ (Hädecke 1981: 202; cf. Drews 2001: 30) etwa… Vor allem aber ist die dichterische Leistung als solche nicht dann, wenn von ihr ausgegangen wird, erkenntlich, sondern gerade dann, wenn man gleichsam gegen sie zu Felde ziehend die Folie der sogenannten Realität, der Artmanns Aberration gegenübersteht, rekonstruiert. Erst hier wird die Souveränität des Möglichen durchgängig zu zeigen sein – und ihre Verbindlichkeit:

die süße der nachtigall hat den wald durchbrochen sie
dringt an mein ohr auf wellen des abends kam sie ob sie

gezielt ist wer weiß es ich aber nehme sie wie eine
tasse schöner milch ich trinke der nacht zu sie allein

ist s die mich kleidet in diebstracht wenn ich liebe
suche in mulden auf hügeln unter einem verborgenen baum
(Artmann 1975: 85; aus: „landschaft 18“) 

Diese Annäherung umfaßte die Sicherung der Realien, also die Dokumentation der Lebensumstände und historischen Bedingungen eines jeden Gedichts, den Nachweis allfälliger, auch ironisch gebrochener Einflüsse,64 vor allem aber die umfassende Erforschung aller auch entlegen publizierten Texte und des Nachlasses in selbstredend immer nur anzustrebender Vollständigkeit (siehe Becker 1992: 62, 67, und passim). 

II.
Der Forschungsstand zu Artmann ist, wie eingangs erwähnt, kaum befriedigend zu nennen. Eine größere Monographie gibt es nicht, die Sammelbände verweisen, indem sie auch Zeitungsartikel von vielleicht doch zweitrangiger Qualität beinhalten, indirekt auf diesen Mangel. Als Dichter ist Artmann dabei noch am ehesten diskutiert worden; der Dramatiker Artmann aber wurde schon weit weniger oft interpretiert, in Bezug auf seine erzählerische Prosa ist er ebenfalls geradezu ein unbeschriebenes Blatt. Hinzuzusetzen ist, daß er auch als Dichter einseitige Lektüren erfahren mußte. Der Dialektdichter Artmann ist, indem der Dialekt als heimelig verkannt wurde, ein Phänomen eskapistischer Interpretation, wofür ihm schwerlich Vorwürfe zu machen sind. Der Griff zum Dialekt war ein Resultat der Suche nach einer differenzierteren Sprache, was seinen Anfang mit einer unzureichenden Übersetzung nahm: 

Artmann: […] Und so wird es geschönt, und es heißt wieder „Mägdelein“ und „Maid“ und lauter so Sachen sind drinnen. […] 

Rühm: Und H.C. meinte damals, daß es doch ganz interessant wäre, […] so etwas mit unserem Dialekt zu machen […].
(Schmidt-Dengler 1992: 20) 

Zurecht hat Doderer vor anderen Interpreten der Wiener Gruppe angesichts der Dialektdichtungen Achleitners, Rühms und Artmanns betont, hier liege keineswegs der Versuch vor, des Dialekts „Behaglich-Anbiederndes“ auszuspielen; es gehe um die „Fülle klanglicher Valeurs“ (1996: 237). Und so läßt sich sagen:

,Seine‘ Sprache war […] das Deutsche, das er in all seinen historischen, lokalen und sozialen Abtönungen zu erfassen suchte. (Millner 2002: 62)

Da die Einzeluntersuchungen schon lückenhaft sind, versteht es sich von selbst, daß ein Gesamtbild desgleichen ausständig ist. Von einer Periodisierung kann keine Rede sein; Werkblöcke sind bislang nicht identifiziert worden. Ehe freilich diese Fragen nicht nur gestellt, sondern in der Folge auch seriös diskutiert werden können, müßte auch dem Problem nachgegangen werden, daß nicht geklärt ist, was da strukturiert werden soll: diese Grundlagen wären zuallererst zu schaffen. Neben der Sammlung des Nachgelassenen wäre eine Rekonstruktion der Entstehungsbedingungen der Texte und vor allem die möglichst vollständige Darstellung auch des oftmals an entlegenen Orten Publizierten, wie sie Michael Bauer (1997) versuchte, zu unternehmen. Artmanns nicht minder dringend zu erkundender Nachlaßbestand ist derzeit von geringem Volumen, da eine Fülle von Material weder greifbar noch registriert im deutschsprachigen Raum verstreut ist. Ein erster wichtiger Schritt wäre hier, sich um eine optimale Rekonstruktion des Manuskriptbestandes zu bemühen, und dies aus leicht einzusehenden Gründen möglichst rasch. Sowohl Varianten als auch Vorstufen und desgleichen eigenständige Texte sind hier zu dokumentieren.
Jede Verzögerung erhöht das Risiko, diesen Nachlaß nicht mehr in seinem vollen Umfang dokumentieren zu können. Wünschenswert wäre die Dokumentation jedes fallengelassenen Zettels, ein legitimer Wunsch, angesichts dessen sich spätestens zeigt, wie dringlich es wäre, die großen Lücken im Fall Artmanns zumindest annähernd zu schließen. Abzustecken wäre hier das Terrain des zu Wissenden, was den Grundstock einer Werkmonographie bedeutete, die tatsächlich das scire et nescire seriös umreißen soll.

III.
Erst in der Folge ließe sich Artmanns Werk interpretatorisch erschließen und in Bezug auf seinen Kontext manche Klärung vornehmen. Schließlich wären auch Wirkung und Einfluß Artmanns zu erforschen, soweit sie sich nachweisen lassen. Den Einfluß betreffend wäre nicht nur Artmann als Impetus zu beleuchten; auch die Frage, über welche Traditionen seine Texte sich entwickelten, müßte man stellen – was in den Bereich der Sicherung der Realien fiele. Man denke an das Stück die liebe fee pocahontas oder kasper als schildwache. Benjamin schrieb, jedem Dokument der Kultur eigne auch Barbarei (1997: 696). Dieser Satz schwingt auch in der Autoaggression mit, als welche Autoritätsglaube sich in Artmanns Stück enthüllt; und es ist im besten Sinne Tradition, insofern es an eine Literatur anknüpft, die derlei Verhältnisse früh offenlegte: eine ganze auf „Gegentradition“ (Schmidt-Dengler 2000: 27) weisende Stilistik beginnt in den deftigen Hanswurstiaden. Schon dort zeigt sich Kunst als das Unterminieren der Kunst, ihres Konstruktionsprinzips, was zur folgenden Szene führt: 

Mein Vatter ohne Kopf, ich glaub er ist schon tod.
Die Wunde ist zu stark, die ist nicht zu curiren,
Ich stehe in Gefahr den Vattern zu verlieren.
[…]
So soll mein Leib für dich ein Mausoleum seyn.
Mein Name bleibt der Welt, sie wird auch nie vergessen,
Daß Pumphia aus Lieb des Vatters Kopf gefressen.

(Kurz 1996: 116; aus: Die getreue Prinzeßin Pumphia) 

Wie „das Mausoleum in die Person dieser lächerlichen Prinzessin zusammenstürzt, so stürzt auch der Prachtbau der Tragödie ein“, schreibt Schmidt-Dengler (2000: 31), und dieser Einsturz hat Erkenntnisqualität: er zeigt das Konstruierte, das Cliche, er zeigt und ist in einem bestimmten Sinne sozusagen mystischer als das, was sich nicht so unbotmäßig präsentiert. Durch die Brechung der Prinzipien als Prinzip ist nicht von einer Genealogie zu sprechen und in Die getreue Prinzeßin Pumphia kein Präludium zu einem absurden Theater, das folgen wird, zu sehen:

Das ist kein Vorgriff auf das absurde Theater oder auf die dramatischen Versuche der Avantgarde […], sondern das ist absurdes Theater, das ist Avantgarde. (Schmidt-Dengler 2001: 41).

Bei Artmann heißt es: 

hauptmann: mein wissen ist macht! ich weiß alles, aber dich hab ich gefragt und da hast du stracks zu antworten! […] wer nicht johann heißt, ist ein verräter…

er holt einen salzbeutel hervor und gibt dem kasper eine schöpfkelle voll: 

hauptmann: da friß, vogel, oder ich laß dich noch heut durch die wurstmaschine, du wurstel!
(1975: 141) 

Was entgegnet Kasper?

bitte nein, herr hauptmann johann. ich werd sonst ganz heiser und könnt am end nimmer „halt werda!“ rufen… (141). 

In einem Kosmos der verteilten Dienste, der Diener, die mit Stolz in ihrem Namen auf diesen Umstand verweisen, ist kein Platz für einen Helden, der es besser wüßte, für einen Narren indes, der die Lächerlichkeit der Satzfolgen auf die Spitze treibt, sehr wohl. Gefeit ist auch er davor nicht, wie die Beschwörungen seiner Fee – „erscheine als das und das!“ (145) – belegen. Und der Schluß läßt aus Kaspers Liebe Johanna „greterl“ (165) werden. Auch dies ist das wahre Leben, daß es sich in der Reinheit der Inszenierung entdeckt.
Im Rahmen dieser Untersuchung der Rezeption Artmanns wären aber auch umgekehrt die Impulse, die von Artmann ausgingen, und sei es als Integrationsfigur, zu erforschen. Zweifelsohne ergaben sich hierbei nicht selten Wechselwirkungen; zumindest im Falle diverser Gemeinschaftsarbeiten ist das schwerlich zu leugnen. Er hinterließ eine deutliche Spur; nur als ein Beispiel sei Reinhard P. Grubers Warnung vor dem bösen Vampir erwähnt, der es Jungfrauen ratsam erscheinen läßt, im Zimmer zu bleiben:

Artmann ist ein Schlimmer! (1996: 105).

So wären im Zuge der Untersuchung Einsichten in Bezug auf den Komplex der österreichischen Literatur nach 1945 zu gewinnen – den Nachlässen dieser Zeitspanne ist ein Reihenprojekt gewidmet, in das sich die Arbeit mit Artmann eingliedern soll. 

IV.
Eine Auflistung der Sekundärliteratur, welche rechtens auf Vollständigkeit Anspruch erheben könnte, ist trotz Germanistik und Eppelsheimer, der Bibliographie im von Bisinger edierten Band Über H.C. Artmann und Jutta Znivas Bibliographie Hans Carl Artmann nicht gegeben. Vergeblich sucht man dort selbst die zweifelsohne nicht vernachlässigbaren Worte Doderers zu Artmann. In der beiliegenden Bibliographie ist zwar ein erster Schritt zu einem besseren Überblick getan, doch der grundsätzliche Makel, daß vieles fehlt, ist erst zu beheben. Die Erkundung seines Œuvres wäre somit so zudringlich wie nötig und so dezent wie möglich zu gestalten. Wie eingangs erwähnt wäre Artmann als dichterisches Phänomen zu würdigen, doch dies mittels einer Analyse, die auch hülfe, ihn tatsächlich in seiner Unverwechselbarkeit und Unabsehbarkeit zugleich zu erfassen. Das ist Philologie als Liebe zum Wort. 

ES IST WAHR, daß der tod die liebe
konserviert, aber er nimmt das herz
aus dem leib
[…]
(Artmann 1975: 191; aus: „Überall wo Hamlet hinkam“) 

Und darum wäre gerade im Falle Artmanns eine bleibende Unabsehbarkeit nicht auszublenden. 

V. Zusammenfassung
Artmanns Werk und dessen Aufarbeitung stehen in einem krassen Mißverhältnis: Zuwenig ist geschehen in Bezug auf die Sicherung des Nachlasses wie der Realien, selbst die Kenntnis des teils anonym oder unter Pseudonym Publizierten wäre zu erweitern und so schließlich eine Grundlage zur weiteren Beschäftigung mit dem bedeutenden Poeten zu schaffen. Ein Findbuch des Nachlasses sowie die grundlegenden Vorbereitungen zu einer dringlich notwendigen historisch-kritischen Edition der Texte wären zu schaffen, um schließlich diese zu beginnen und die fehlende grundlegende Monographie zu Artmanns Werk auch nur andenken zu können.

Martin A. Hainz, aus Marc-Oliver Schuster (Hrsg.): Aufbau wozu. Neues zu H.C. Artmann, Königshausen & Neumann, 2010

Martin A. Hainz: Literaturverzeichnis

 

 

Der Mond isst Äpfel… sagt H.C. Artmann. Die H.C. Artmann-Sammlung Knupfer

Clemens Dirmhirn: H.C. Artmann und die Romantik. Diplomarbeit 2013

 

 

Adi Hirschal, Klaus Reichert, Raoul Schrott und Rosa Pock-Artmann würdigen H.C. Artmann und sein Werk am 6.7.2001 im Lyrik Kabinett München

 

„Spielt Artmann! Spielt Lyrik!“ (Teil 1)

„Spielt Artmann! Spielt Lyrik!“ (Teil 2)

 

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Nachrufe auf H.C. Artmann: FAZ ✝︎ Standart ✝︎ KSA
70. Geburtstag10. Todestag

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Michael Horowitz: H.C. Artmann: Bürgerschreck aus Breitensee
Kurier, 31.5.2021

Christian Thanhäuser: Mein Freund H.C. Artmann
OÖNachrichten, 2.6.2021

Christian Schacherreiter: Der Grenzüberschreiter
OÖNachrichten, 12.6.2021

Wolfgang Paterno: Lyriker H. C. Artmann: Nua ka Schmoez
Profil, 5.6.2021

Hedwig Kainberger / Sepp Dreissinger: „H.C. Artmann ist unterschätzt“
Salzburger Nachrichten, 6.6.2021

Peter Pisa: H.C. Artmann, 100: „kauf dir ein tintenfass“
Kurier, 6.6.2021

Michael Stavarič: „Immer verneige ich mich, Herr Artmann“
Die Furche, 9.6.2021

Edwin Baumgartner: Die Reisen des H.C. Artmann
Wiener Zeitung, 9.6.2021

Edwin Baumgartner: H.C. Artmann: Tänzer auf allen Maskenfesten
Wiener Zeitung, 12.6.2021

Cathrin Kahlweit: Ein Hauch von Party
Süddeutsche Zeitung, 10.6.2021

Elmar Locher: H.C. Artmann. Dichter (1921–2000)
Tageszeitung, 12.6.2021

Bernd Melichar: H.C. Artmann: Ein Herr mit Grandezza, ein Sprachspieler, ein Abenteurer
Kleine Zeitung, 12.6.2021

Peter Rosei: H.C. Artmann: Ich pfeife auf eure Regeln
Die Presse, 12.6.2021

Fabio Staubli: H.C. Artmann wäre heute 100 Jahre alt geworden
Nau, 12.6.2021

Ulf Heise: Hans Carl Artmann: Proteus der Weltliteratur
Freie Presse, 12.6.2021

Thomas Schmid: Zuhause keine drei Bücher, trotzdem Dichter geworden
Die Welt, 12.6.2021

Joachim Leitner: Zum 100. Geburtstag von H. C. Artmann: „nua ka schmoezz ned“
Tiroler Tageszeitung, 11.6.2021

Linda Stift: Pst, der H.C. war da!
Die Presse, 11.6.2021

Florian Baranyi: H.C. Artmanns Lyrik für die Stiefel
ORF, 12.6.2021

Ronald Pohl: Dichter H. C. Artmann: Sprachgenie, Druide und Ethiker
Der Standart, 12.6.2021

Maximilian Mengeringhaus: „a gesagt, b gemacht, c gedacht, d geworden“
Der Tagesspiegel, 14.6.2021

„Recht herzliche Grüße vom Ende der Welt“
wienbibliothek im rathaus, 10.6.2021–10.12.2021

 

 

Ausstellungseröffnung „Recht herzliche Grüße vom Ende der Welt!“ in der Wienbibliothek am Rathaus

 

Lovecraft, save the world! 100 Jahre H.C. Artmann. Ann Cotten, Erwin Einzinger, Monika Rinck, Ferdinand Schmatz und  Gerhild Steinbuch Lesungen und Gespräch in der alten schmiede wien am 28.10.2021

 

Sprachspiele nach H.C. Artmann. Live aus der Alten Schmiede am 29.10.2022. Oskar Aichinger Klavier, Stimme Susanna Heilmayr Barockoboe, Viola, Stimme Burkhard Stangl E-Gitarre, Stimme

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Uferartmann“.

 

Ausschnitte aus dem Dokumentarfilm Die Jagd nach H.C. Artmann von Bernhard Koch, gedreht 1995.

 

H.C. Artmann 1980 in dem berühmten HUMANIC Werbespot „Papierene Stiefel“.

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