Hajo Steinert: Zu Friederike Mayröckers Gedicht „Zugeschüttetes Gesicht“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Friederike Mayröckers Gedicht „Zugeschüttetes Gesicht“ aus Friederike Mayröcker: Notizen auf einem Kamel. –

 

 

 

 

FRIEDRIKE MAYRÖCKER

Zugeschüttetes Gesicht

was wird sein wenn
ich schon bald vielleicht statt in den Büchern
zu lesen nur noch über die Buchrücken meiner Bibliothek
werde streichen können weil ich mich zurückentwickelt haben werde
in jenen Zustand meiner Kindheit in dem ich noch nicht
zu lesen imstande war also Analphabet war
und mir habe vorlesen lassen müssen von meiner Mutter
oder sonstwem
also eingegangen sein werde
in einen Zustand in dem ich nicht mehr
zu lesen imstande sein werde
also mir abermals werde vorlesen lassen müssen von wem frage ich mich
und wieder geworden sein werde Analphabet

 

 

Heiteres Finale in Futur II

Geschrieben hat Friederike Mayröcker das Gedicht am 19. und 20. November 1993. Zu diesem Zeitpunkt ist die österreichische Schriftstellerin 68 Jahre alt. „zugeschüttetes Gesicht“ findet sich in ihrem Band Notizen auf einem Kamel. Darin stehen noch andere Texte, die sich einem biographischen Umstand verdanken: dem Tod der Mutter. Ihr Sterben motiviert die schreibende Tochter dazu, über ihr eigenes Altwerden nachzudenken. Die Grundstimmung des Gedichts wird von der Befürchtung geprägt, im zunehmenden Alter nicht mehr das tun zu können, womit sich die Schriftstellerin zeit ihres Lebens am meisten beschäftigte: dem Lesen.
Friederike Mayröcker gehört zu jenen literarisch gebildeten Autorinnen unseres Jahrhunderts, deren Texte ausdrücklich den Dialog mit Texten von anderen Autoren eingehen und Botschaften enthalten, die allein von den Angeschriebenen entschlüsselt werden können. Deshalb widmet sie ihre Gedichte gerne Dichterfreunden. Darunter sind ihr Lebens- und Arbeitspartner Ernst Jandl sowie Elke Erb, Thomas Kling, Bodo Hell, Elfriede Czurda, Marcel Beyer oder Ulrike Draesner.
Ihr Zwiegespräch mit Dichtern gleicher Wellenlänge geht freilich ein Risiko ein: Ihre Texte werden von Außenstehenden, uns Lesern also, nicht auf Anhieb verstanden. Dies allerdings läßt sich von „zugeschüttetes Gesicht“ nicht behaupten. Das Gedicht sucht den Dialog mit allen Lesern, öffnet den Raum für eigene Assoziationen. Schon die Anfangszeile „was wird sein wenn“ ist eine Einladung an den Leser, sich seinen eigenen Reim auf eine bange Ausgangsfrage zu machen. Das Nicht-mehr-lesen-Können ließe sich durch eine andere schlimme Ahnung ersetzen.
„zugeschüttetes Gesicht“ ist bei allem existentiellen Pathos in formaler Hinsicht ein leichter Text. Mühelos liest man über die Zeilenbrüche hinweg, von kopfzerbrechender Metaphorik und Symbolik keine Spur. Das Gedicht hat kaum noch etwas gemein mit Texten der Lyrikerin in früheren Jahrzehnten, da sie, wie sie selbst einmal sagte, „eingekeilt zwischen den beiden Monstern Dadaismus und Surrealismus“ ihren Weg suchte oder im Bann der Wiener Gruppe stand. Ihr zugehörende Autoren wie H.C. Artmann, Gerhard Rühm oder Konrad Bayer brachten in den fünfziger Jahren eine experimentelle Poesie hervor, die auf Sprachcollage, Sprachmontage und Lautmalereien beruhte. Friederike Mayröcker hat sich von diesem Einfluß mit den Jahren immer mehr entfernt. Er ist allenfalls noch, wie in unserem Gedicht, als ein Hauch spürbar. In Schubladen wie „Paradiesvogel der Avantgarde“, „Alchemistin der Sprache“ oder „Magierin des Worts“ läßt sie sich heute nicht mehr pressen.
An die Stelle von komplizierten linguistischen Textkonstruktionen ist das direkte Sprechen getreten, ohne das Sprachspiel ganz aufgegeben zu haben. Wer erinnert sich nicht an seine Kindheit, in der ihm von der Mutter vorgelesen wurde? Wer hat nicht Angst davor, einmal aus Altersschwäche um seine Lieblingsbeschäftigung, das Lesen, unwiederbringlich gebracht zu werden?
Der Verlust der Lesefähigkeit wäre für Friedrike Mayröcker ein Rückfall in die Sprachlosigkeit der frühesten Kindheit. Der Titel des Gedichts – es könnte ihm ein Bild von Arnulf Rainer zugrunde liegen – deutet an: Wer nicht mehr lesen kann, verliert sein Gesicht, sieht nichts, existiert im Grunde nicht mehr. Aber: Wird da einer sein, der mir im Alter, wenn ich schon nicht mehr selbst lesen kann wenigstens vorlesen wird?
Das lyrische Ich nimmt eine Einsamkeitserfahrung vorweg und erinnert sich zugleich an seine erste Vorleserin, die Mutter. Das grammatikalische Spiel mit dem Hilfsverb „werden“ (es kommt siebenmal im Text vor) führt indes zu einem tröstlichen, geradezu heiteren Finale in Futur II: „und wieder geworden sein werde Analphabet“. Indem die Autorin das Wort „Analphabet“ nicht unmittelbar an das Wort „wieder“ anschließt, sondern an das Ende der Schlußzeile stellt, deutet sie an, worin der Ursprung ihres Dichtens liegt: im Durcheinanderbringen des Satzbaus, im Sprachspiel, im „Analphabet“. Insofern ist „zugeschüttetes Gesicht“ auch ein poetologisches Statement.

Hajo Steinertaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Einundzwanzigster Band, Insel Verlag, 1998

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