Hanne F. Juritz: Zu Sarah Kirschs Gedicht „Am Walfjord“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Sarah Kirschs Gedicht „Am Walfjord“ aus Sarah Kirsch: Erlkönigs Tochter. –

 

 

 

 

SARAH KIRSCH

Am Walfjord

Die Schafe am Walfjord sahen
Wie meine Moorschafe aus
Überlebenkünstlerinnen und Künstler
Und als der Eiswind die Vliese kämmte
Die Tiere über die Klippen des
Felsjochs sprangen bis an den
Flutsaum geschah es daß ich ihre
Sprache verstand: Der Sommer ist
Kurz der Sommer ist
Schön wenn wir im Schafspelz
Spazierengehn. Darnach
heulten sie daß mir das
Herze rotierte. Hast du was
Neues gehört? fragte ich meinen
Ausgeblichenen Übersetzer der jedenfalls
Nichts von meiner verborgenen
Bösartigkeit ahnte er war
Hübscher einäugiger König tippte
Auf seinen Taschencomputer sagte:
Noch einen Winter dann gibt es
Bier für Islands furchtlose
Söhne! Ähnliches sprachen die
Bauern als sie die
Schafe und Schäfchen im Lenz
Ausschwärmen ließen. Die letzten
Kehren niemals zurück sondern werden
Von Trollen als lebende Öfen in
Unterirdische Kammern gestellt.

 

Auch Trolle wollen es warm haben

In einer völlig fremden Umgebung benehme ich mich wie ein Kind. Aufmerksam abwartend suche ich nach Vertrautem, Vergleichbarem zumindest. Ich stehe zwischen dem Erfahrenen und dem Erfahrbaren im Niemandsland – bis der Erfahrungsdrang die Erwartungshaltung, den Zustand, der einem Schockzustand gleicht, beendet. Vermutlich ist es Sarah Kirsch ähnlich ergangen, als sie in die gigantische Küstenwelt Islands kam. Beim Anblick der Schafe am Walfjord wollte sie augenblicklich bei ihren Moorschafen sein, aber nun war sie hier der bizarren Schönheit des Nordens ausgesetzt. Da gab es Unheimliches zu bestaunen, Gewaltiges, Sagenhaftes. Da mußten, damit es vertrauter wurde, Vergleiche her, Besitzanspruch auch. Das Wort „mein“ wurde gebieterisch den fremden Tieren am Felsjoch entgegengesetzt. Die Rückversicherung der heimischen Tiere war nötig, um der Sehnsucht nach Hause Herr zu werden. Der Sommer ist kurz und schön. Nach der Idylle das Elend. Das spöttisch provozierende, Erhabenheit suggerierende „Darnach“ stellte das „rotierende Herze“ schon wieder in Frage. Schließlich heulen Schafe nicht, sie blöken, wie jedermann weiß, aber ihr „Heulen“ leistete dem Heimweh der Autorin Vorschub, es war das Heulen der Schafsfreundin selbst über den eisigen Sommer am Nordmeer – fern von mitteleuropäischer Informationsflut.
„Hast du was Neues gehört?“ fragte sie ihren „ausgeblichenen“ Übersetzer – was ausgeblichen ist, wird niemals mehr Farbe annehmen, ausgeblichen ist bleicher als blaß. Einäugig war dieser fahle „König“ obendrein, auf einem Auge blind, beantwortete er sämtliche Fragen mit dem Taschencomputer, der als Neuigkeit immerhin den Winter als Zeiteinheit zu bieten hat.
„Noch einen Winter“ steht für ein Weilchen. So lange wird es dauern, bis der Bedarf an Bier „für Islands furchtlose Söhne“ gedeckt ist – und so ein Weilchen ist tröstlich überschaubar, ein Winter eben, ein Dauertrost, eine dauernde Hoffnung wie die Hoffnung der Bauern in jedem Frühling, daß den Schafen übers Jahr nichts zustoßen möge. Nur ist der Winter die längste Jahreszeit hier, wo auch die Trolle es warm haben möchten. So müssen ihnen die kleinsten, die verlorenen Schäfchen als lebende Öfen in verborgenen Kammern dienen.
Schafe sind in ihrer Genügsamkeit bewundernswerte „Überlebenskünstlerinnen und Künstler“, die den Unbilden trotzen. Und in ihr Fell ist die Autorin geschlüpft, denn sie versteht ihre Sprache. Aber Schafe sind alles andere als bösartig. Sie sind im Gegenteil völlig wehrlos jeder Bösartigkeit ausgesetzt. Womöglich ist sie, die Autorin, wenn sie von ihrer „verborgenen Bösartigkeit“ spricht, augenzwinkernd als Wölfin in den Schafspelz gekrochen?
Mich beeindrucken die Kontraste in diesem Gedicht. Das muß ein mächtiger Fjord sein, ein riesiges zerklüftetes Becken, wo sich die Wale einfinden, die Kolosse der Meere, und wo sich die Schäfchen wie Winzlinge über die Klippen bewegen, „spazierengehn“, wie es die Autorin nennt, obwohl ihnen der Eiswind durch die Vliese fährt und der Sommer zum Heulen kurz ist. Die nordische Saga ist hier zu Hause, Naturgewalten werden zum ehrfurchtgebietenden Spuk, hier leben die Trolle, die Geister und des Königs von Thule furchtlose Erben, die freilich mit Taschencomputern hantieren. Mir scheint, als versichere sich die Autorin neuzeitlicher Requisiten, um nicht befürchten zu müssen, in ein Märchen gefallen zu sein.

Hanne F. Juritz, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebzehnter Band, Insel Verlag, 1994

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