Hanns Zischler: Zu Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht „Gedicht“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht „Gedicht“ aus Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2. –

 

 

 

 

ROLF DIETER BRINKMANN

Zerstörte Landschaft mit
Konservendosen, die Hauseingänge
leer, was ist darin? Hier kam ich

mit dem Zug nachmittags an,
zwei Töpfe an der Reisetasche
festgebunden. Jetzt bin ich aus

den Träumen raus, die über eine
Kreuzung wehn. Und Staub,
zerstückelte Pavane, aus totem

Neon, Zeitungen und Schienen
dieser Tag, was krieg ich jetzt,
einen Tag älter, tiefer und tot?

Wer hat gesagt, daß sowas Leben
ist? Ich gehe in ein
anderes Blau.
1

 

Going West

– Eine Reminiszenz zu meinem Film Ich gehe in ein andres Blau, zwanzig Jahre später.

Ob es mich interessieren würde, einen Film über ein Gedicht von Rolf Dieter Brinkmann zu machen, hatte die Redakteurin Annelen Kranefuss mich 1982 gefragt. Einen Film mit einem Gedicht als Protagonisten, hatte ich geantwortet, und sie war einverstanden und stellte mir, wie es damals für einen Redakteur selbstverständlich war, die Produktionsmittel des WDR zur Verfügung.
Das Gedicht, das ich im Sinn hatte und das mir seit einiger Zeit nicht mehr aus dem Sinn wollte, hier ist es:

Rolf Dieter Brinkmann

Zerstörte Landschaft mit
Konservendosen, die Hauseingänge
leer, was ist darin? Hier kam ich

mit dem Zug nachmittags an,
zwei Töpfe an der Reisetasche
festgebunden. Jetzt bin ich aus

den Träumen raus, die über eine
Kreuzung wehn. Und Staub,
zerstückelte Pavane, aus totem

Neon, Zeitungen und Schienen
dieser Tag, was krieg ich jetzt,
einen Tag älter, tiefer und tot?

Wer hat gesagt, daß sowas Leben
ist? Ich gehe in ein
anderes Blau.
2

Eine Zugfahrt quer durch Deutschland, durch Westdeutschland, von Köln hinab nach Basel, dem Rhein folgend, in Gegenströmung zu ihm, und eine Frau, die in diesem Zug in dem Gedichtband Westwärts 1 & 2 von Brinkmann liest. Dieses Bild der Leserin im Abteil, allein, hatte ich vor Augen, ein anderes hängte sich daran, der ungebetene, hinzukommende Reisende, der von der beharrlich lesenden Frau irritiert ist. Ein Klischee. Und was taugt besser als ein Klischee, um daraus einen Plot zu entwickeln. Die stumme Macht der Lektüre über die Kontingenz der Reise, des Dialogs, des Austausches.
Meinen Phantasien folgend entdeckte ich in dieser Konstellation – lesende Frau im Zug, die von einem Mann überrascht wird, ohne ihre Lektüre abzubrechen – nach und nach ein Motiv, das mir von Borges vertraut war und das dieser häufig variiert hatte: Der Träumende wird gewahr, dass er selbst (nur) geträumt ist. In diesem Fall, dem Fall des Gedichts, der Lektüre eines Gedichts, sollte sich der hinzukommende Reisende, der Eindringling als eine Figur (aus) der Lektüre erweisen. Die lesende Frau phantasiert in den Raum ihrer Lektüre, in den flüchtigen, fliehenden, zerstückelten Raum der Zugreise den Mann, und ihr hartnäckiges Weiterlesen ist die Voraussetzung für die ungetrübte Präsenz des Mannes – in ihrer Phantasie. Ein geeignetes Mittel, ein optisches Dispositiv für die filmische Darstellung und Verstärkung dieser phantasierten Präsenz des andern waren die (damals) in den Abteilen angebrachten schmalen, rechteckigen Spiegel über den mittleren Plätzen. Auf dem Weg durch diese Spiegel ließe sich ohne weitere Erläuterung, sozusagen rein bildlich, das real-irreale Verhältnis der Frau – via Buch/Spiegel – zum Mann etablieren.
Wenn der Träumende im Buch impliziert ist, könnte ich, so mein Gedanke, das, was im Gedicht erzählt wird, zu einem Teil seines Handelns machen. Ich hätte also über die Rückbindung der Figur (des Mannes) an das Gedicht – und an seine Leserin – die Möglichkeit, einen Strang der ,Filmhandlung‘ aus dem Gedichttext selbst abzuleiten.
So geschah es. Thomas Brasch kommt am frühen Abend im Kölner Hauptbahnhof an und strebt traumsicher durch die vielen Reisenden über den Bahnhofsvorplatz auf die so genannte Domplatte zu (ein Wort so scheußlich wie der Gegenstand und die Gegend, die es bezeichnet) und verläuft sich in der Einkaufszone der Hohen Straße, und überall, wo er hinkommt, ist es, wie im Traum, zu spät, die Geschäfte lassen die Rollos herunter, verriegeln die Türen, löschen die Lichter. Thomas Brasch kommt im Westen an. Im Westen, das ist Köln, die einzige Welt –, weil römische Stadt in Deutschland, das ist der Abend, das ist die westliche (amerikanisch anarchische) Form der Dichtung, wie Brinkmann sie mehr als jeder andere westdeutsche Dichter favorisiert und vehement übersetzt und in sein Schreiben integriert und mit harschen poetischen Auftritten – die Wörter Performance und Slam waren damals noch nicht im Kurs – unterstrichen hat. Die Dichtung von Brasch thematisiert auf ähnlich schroffe und widerständige Weise den Osten – im Eiszeitlabor der DDR. Zwei Dichter derselben Generation, Rücken an Rücken – solange Brasch im Osten war. Als er in den Westen kam (Ende 1976) war Brinkmann schon über ein Jahr tot – he had gone West (um es in der Seemannssprache zu sagen), Opfer eines Fehltritts, des vergessenen „look left hand side“ – in London. Im Film gibt es eine darauf anspielende Straßenüberquerung vor dem Kölner Hauptbahnhof.
„Im Westen ankommen“ hieß für mich, für meinen kleinen Film, in den Text Brinkmanns involviert zu sein. Die Möglichkeit einer symbolischen ,Übersetzung‘ gab mir die beharrliche Leserin im Zug, Katharina Thalbach. Sie entdeckt, selbst in den Westen kommend und ihn durchquerend, die Literatur aus diesem Teil Deutschlands. Sie liest stumm (mit innerer Stimme) und erschließt sich durch Brinkmanns Gedicht die „zerstörte Landschaft“ (der Zugfahrt), ihre Wahrnehmung wird skandiert durch jene „zerstückelte Pavane“, die wir aus den Synkopen der rollenden Eisenbahnräder kennen. So kommen beide in diesem Gedicht im Zug im Westen einander näher und treiben wieder auseinander, unverlierbar. 

Hanns Zischler, aus Martina Hanf und Kristin Schulz (Hrsg.): Das blanke Wesen Thomas Brasch, Theater der Zeit, 2004

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