Hans J. Fröhlich: Zu Gottfried Benns Gedicht „Turin“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Gottfried Benns Gedicht „Turin“ aus dem Gedichtband Gottfried Benn: Sämtliche Gedichte. −

 

 

 

 

 

GOTTFRIED BENN

Turin

„Ich laufe auf zerrissenen Sohlen“,
schrieb dieses große Weltgenie
in seinem letzten Brief –, dann holen
sie ihn nach Jena −; Psychiatrie.

Ich kann mir keine Bücher kaufen,
ich sitze in den Librairien:
Notizen −, dann nach Aufschnitt laufen: −
das sind die Tage von Turin.

Indes Europas Edelfäule
an Pau, Bayreuth und Epsom sog,
umarmte er zwei Droschkengäule,
bis ihn sein Wirt nach Hause zog.

 

 

Sprechen durch eine Maske

Nicht die im Titel (und in der zweiten Strophe) genannte Stadt wird angedichtet, nicht der Süden, der „ligurische Komplex“ durch einen Ortsnamen beschworen. Turin ist eine Chiffre, sie steht für Nietzsches gezählte Tage in dieser Stadt nach seinem Herzen, für seinen körperlichen und geistigen Zusammenbruch im Januar 1889.
Benn hat dieses Gedicht, zusammen mit den berühmten „Sils-Maria“-Versen, in seinem März 1936 veröffentlichten Band Ausgewählte Gedichte aufgenommen, der ihm die unflätigsten Angriffe im „Schwarzen Korps“ eintrug. Er berichtet darüber im „Doppelleben“. Auf Anweisung der NS-Zensur mußte die Sammlung für eine zweite Ausgabe im Mai 36 „gereinigt“ werden. 1938 erhielt Benn Schreibverbot und wurde aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen.
Das Gedicht „Turin“ gehörte offenbar nicht zu den beanstandeten Texten, obwohl es einem Sakrileg gleichkommen mußte, den von den Nazis zu ihren „Ahnen“ idolisierten Nietzsche, auch wenn sein Name nicht genannt wird, als „Weltgenie“ zu apostrophieren, was schon fast nach Internationalismus klingt. Noch weniger Zustimmung dürfte es eigentlich gefunden haben, daß Benn in seinem Gedicht ausgerechnet an den schwächsten Moment dieses den Übermenschen predigenden Philosophen erinnert: an jene dem Zusammenbruch vorausgegangene rührend-sentimentale Episode auf der Piazza Carlo Alberto, wo Nietzsche am 3. Januar 1889 Zeuge wird, wie ein Kutscher sein altersschwaches Pferd brutal mißhandelt. Nietzsche, von Mitleid überwältigt, fällt dem Tier schluchzend um den Hals und bricht dann zusammen. Overbeck bringt eine Woche später seinen Freund nach Basel in die Nervenklinik. Am 13. Januar trifft Nietzsches Mutter in Basel ein und überführt ihn in die Irrenanstalt zu Jena.
Benn stellt in seinem Gedicht die bekannten Vorgänge gleichsam in umgekehrter Reihenfolge dar, wodurch die Kausalität zwar nicht aufgehoben, aber verschleiert ist. Nach dem Zitat in der ersten Verszeile, dem in der zweiten und halben dritten Verfasser und Quellenangabe folgen, liest man das temporale „dann“ wie ein begründendes: als hätten „sie“ das Weltgenie aufgrund dieses letzten Briefes nach Jena geholt, wobei man an die Universität denkt, deren philosophische Fakultät später seine berüchtigte Schwester zum Doktor h.c. gemacht hat. Die Wirklichkeit freilich, wie man weiß, sah anders, schauriger aus. Um Psychiatrie auf Weltgenie zu reimen, brauchte Benn kein Lexikon. Dieses Reimpaar entsprang seiner Überzeugung, die er 1930 in dem Essay „Das Genieproblem“ expliziert hatte.
Auf die Vorgeschichte, Nietzsches Zusammenbruch, der mit dem Schickeria-Treiben an europäischen Modeorten in zeitliche Koinzidenz gebracht wird, spielt das Gedicht erst in der vorletzten Zeile an: „umarmte er zwei Droschkengäule“. Doch wieso verdoppelt Benn die Pferdestärke? Ein Plural des Reimes wegen?
Die irritierende Mittelstrophe, wo plötzlich in der ersten Person referiert wird, allerdings – und darum irritierend ohne Anführungszeichen (im Unterschied zu dem als Zitat gekennzeichneten Eingangsvers), legt die Deutung nahe, daß dieses Ich ein anderes als das des Briefschreibers ist, ein zweites Ich, das sich die Tage von Turin durchaus nicht glücklich, wie Nietzsche sie seinen Freunden schildert, sondern arm, verzweifelt und gehetzt „nach Aufschnitt laufen“ vorstellt, daß dieses Ich nicht über, von oder als Nietzsche spricht, sondern als exemplarisch Künstlergestalt, als Mensch, „ohne moralischen und philosophischen Inhalt, der den Form- und Ausdrucksprinzipien lebt“. Also nicht Identifikation, sondern Sprechen durch eine Maske, aber von Ich und „Ich“. Die scheinbar willkürliche Verdoppelung in der vorletzten Zeile konkretisiert dieses Aufspalten einer Persönlichkeit in einem Bild, das zur Metapher für Benns Existenzmodell wird: dem „Doppelleben“.
Ich ahne nicht, ob Benn „Turin“ zu jenen sechs oder acht vollendeten Gedichten gezählt hat, die, wie er meinte, ein Lyriker unserer Zeit überhaupt nur hinterlassen könne. Doch ist es – und nicht nur von denen, die auf Nietzsches Lebensumstände anspielen oder ihn mal offener, mal versteckter zitieren – für mich eines der persönlichsten Gedichte Gottfried Benns und in seinem Werk eines der ganz zentralen.

Hans J. Fröhlich aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Von Gottfried Benn bis Nelly Sachs. Insel Verlag, 2002

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