Hans Magnus Enzensberger: Kiosk

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Hans Magnus Enzensberger: Kiosk

Enzensberger-Kiosk

A

Bevor du B sagst, verweile doch,
horch, bedenk,
was du gesagt hast. Ein vokal,
der wenig bedeutet,
viel in Bewegung setzt.
Einmal den Mund aufgemacht,
und du treibst deine sterbliche Hülle
zu Leistungen an
von kosmischer Komplexität:
ganze Kaskaden von Reizen,
Berechnungen, Turbulenzen,
hinter dem Rücken dessen,
der Ich ist – vom Gehirn,
das nicht redet
und jeder Wissenschaft spottet,
zu schweigen.

Anders als alle andern
hast du A gesagt.
Nicht zum erstenmal,
sondern millionenfach
hast du ihn hervorgebracht,
diesen Laut, lauthals, stotternd,
in allen Tonlagen, flüsternd,
gaumig, singend, gepreßt,
beim Onkel Doktor erstaunt,
überwältigt, gramvoll –
nichtssagend, streng genommen,
und nicht ein einziges Mal
hast du dich, streng genommen,
dabei wiederholt.

Technik, mit dir verglichen,
ist Pfusch, Schrott, Gerümpel.
Du ahnst nicht einmal,
wie vollkommen du bist –
es sei denn bei Heiserkeit,
bei Schluckauf, bei Krebs.
Die Andacht des Anfangs
ist dir abhanden gekommen.
Ein Omega ist nicht in Sicht.

 

 

 

Inhalt

Der Kiosk an der nächsten Straßenecke – nach außen hin hat er vielerlei zu bieten. Innen, im Halbdunkel, sitzt ein Mann oder eine Frau, doch was die sich denken, steht auf einem anderen Blatt. Früher freilich waren Kioske nicht im Zentrum der Städte zu finden, sondern in stillen Parks und weitläufigen Gärten: zartgliedrige Pavillons, sechs- oder achteckig und nach allen Seiten offen. Das Wort Kiosk stammt aus dem Türkischen, wo kösk soviel bedeutet wie Gartenhäuschen, und die Türken haben diese grazile Architektur, wie das Wort, von den Persern übernommen. Hans Magnus Enzensbergers Gedichte sind an beiden Orten angesiedelt. Sie nehmen die grellen Widersprüche und die bunten Lügen einer maroden, marodierenden Zivilisation ebenso auf wie jenes meditative Hintergrundrauschen, das nur im Abseits zu vernehmen ist. Mit irritierender Leichtigkeit bewegt sich diese Poesie zwischen dem Wunder und der Katastrophe. Sie greift wissenschaftliche und religiöse Motive auf und wechselt blitzschnell, nicht ohne Ironie, die Perspektive. Vom intimen Detail bis zur kosmischen Totale – und umgekehrt – ist es für diesen Autor nur ein kleiner Schritt. „Geschichtsklitterung“, „Gemischte Gefühle“, „Belustigungen unter der Hirnschale“, „In der Schwebe“ – so heißen die vier Kapitel dieses Buches. Sein Rückgrat ist ein längeres Gedicht in vier Teilen, „Gedankenflucht“, das für die Suchbewegung dieser sparsamen, vieldeutigen, sonderbar unverzagten Texte einstehen kann.

Suhrkamp Verlag, Ankündigung

 

In der Schwebe

Der Band ist von „repräsentativer“ Gestalt; das Papier läßt dem Zahn der Zeit kaum eine Chance; der Satzspiegel zelebriert Großzügigkeit. So wird Enzensberger, und nicht diesmal erst, als klassische Kostbarkeit unterbreitet, als Geschenkartikel für schöne Seelen. Die allerdings dürften auch neuerlich an Erbaulichem wenig finden bei ihm – es sei denn, schon das könnte ihnen heutzutage zusprechen, was nicht eben in schwarzer Melancholie sich erfüllt und im übrigen von Aggressivität frei gehalten bleibt. Und es sei denn, sie wären fürs Ironische empfänglich geworden: für jenes Ironische, das als Balancierstange den Seiltanz sublunarischer Existenz zumindest halbwegs vollführbar macht.
Doch wie immer es sein mag, die Nobelverpackung dieser Enzensbergerschen Gedichte will nicht recht passen. Sie besteht steif und fest auf Pathos, manifestiert sich in einem Buchdenkmal, das den ernsthaft-ironischen Fluchtbewegungen der Verse wohl eher unangemessen ist. Mit Gewißheit kann die Rede des Gedichts nur dies behaupten:

„Das Leben“ –
ein gleichgewichtsferner Oszillator.

(„Gedankenflucht [II]“)

Und wenn pathetische Tradition aufgenommen wird in den Vers, dann als eine erinnerte, in welche das Gedicht sich stellt, um zugleich deren Brechung zu signalisieren. So etwa findet im Zeichen ironischen Bewußtseins eine Danksagung ihren Ausdruck:

Vielen Dank für die Wolken.
Vielen Dank für das Wohltemperierte Klavier
und, warum nicht, für die warmen Winterstiefel
Vielen Dank für mein sonderbares Gehirn…

Der Gedichttitel lautet: „Empfänger unbekannt – Retour à l’expéditeur“; und entsprechend wird ein parodistischer Text vorgetragen, der gleichwohl denunzierend nicht im mindesten ist und vielmehr in Erinnerung an die Tradition des Dankchorals eine traurig-komische Differenz anzeigt: die zwischen dem Anflug einer (para-)religiösen Regung und vorwaltend gottlosem Wissen. Ein anderes Gedicht heißt „Minimalprogramm“. Eingangs die Verse:

Verzicht, Entsagung, Askese –
das wäre schon zu hoch gegriffen.
Überwältigend, was alles entbehrlich ist,
Von Sonderangeboten keine Notiz zu nehmen,

reiner Genuß! Nirgends aufzutauchen,
das Meiste zu unterlassen –
Erkenntnisgewinn durch Abwinken.

Pathetischer Tradition wird auch hier gedacht – indes mit jenem Wissen wiederum, daß der existentiell gerichtete Momentanreflex zwar in Beziehung zu ihr steht, doch gar nicht etwa nach Maßgabe des ihr sich verbindenden unflüchtigen Gehalts.
Und Klopstocks „unsterbliche Seele“? Auch sie ist, „wie war doch ihr Name?“, gegenwärtig: als „kleine Pilgerin“, die unermüdlich im Müll wühlt, den verlorengegangenen Weisheiten nachzukramen, und davon nicht lassen kann, sich „triebhaft, / nach alter Gewohnheit, / mit Wolken, Meeren, Gestirnen“ zu vermischen. „Ja, / sagt sie, ich will zurück, / ich will weiter, unabsehbar / bewege ich mich, bin bewegt, / bis auf weiteres bleibe ich, / in der Schwebe.“ („Gedankenflucht [IV])“) Da ist denn noch und gerade hier wie von pathetischer Rückbeziehung so auch von höhnischer Verabschiedung keine Spur; statt dessen ist sie, die fast zärtlich Erinnerte, zur fremd Umherirrenden mutiert; und wenn sie aber schon bessere Zeiten gesehen hat, so ist sie jedenfalls, wie immer zur Emigration ins profan Diffuse genötigt, noch ungestorben.
„In der Schwebe“: Dies auch ist der Titel, den Enzensberger für die gesamte abschließende Gedichtgruppe des Bandes gewählt hat. Und „Geschichtsklitterung“, „Gemischte Gefühle“, „Belustigungen unter der Hirnschale“ lauten jene Teilüberschriften, die zuvor stehen. Ironisch beherrschte Spannung eignet freilich nicht jedem Gedicht. Wo Enzensberger sich darauf konzentriert, schlechthin gesellschaftliche, soziale, kulturelle Phänomene zu bezeichnen, bleibt der Text, da der scharf-böse Blick abhanden gekommen, mitunter banal; und selbst die komisch hohe Rede einer „Hymne an die Dummheit“ ist keineswegs zu einem Stück gediehen, das vor Esprit sprühen würde. Wenn das Ich aber ironisch zu meditieren beginnt, sich dabei beobachtet, wie es sich in einer Welt, in der nichts zusammenstimmt, beträgt, wenn es seiner Weise nachfragt, auf Verluste zu reagieren, dann gewinnt das Gedicht an Belang. Und eine wach-heitere Gelassenheit verschafft sich Geltung, die Aporetisches keineswegs verdrängt oder kaschiert, diesem allerdings die Anerkennung als niederdrückende Macht verweigert. So auch haben die einschlägigen Gedichte einen solchen ironischen Gestus, der dem Humoristischen zuneigt; sie stellen sich der Welt- und Icherfahrung im Zeichen einer unverbitterten Altersgeistigkeit, der Neugier, erkennende Lust noch immer erhalten geblieben sind und die aber allem Versessenen mit sanfter Skepsis begegnet; und auf nämliche Art befassen sie sich auch mit dem Gedanken des Todes. Spielerisch ernsthaft wird dabei, in mehreren Texten, das Vanitas-Motiv aufgenommen. Eines der betreffenden Gedichte heißt „Die Visite“: Ein Engel („vermutlich die unterste Charge“) erscheint dem Ich und attestiert ihm die Unerheblichkeit seiner Existenz.

Ich sah es an seinen hellen Augen, er hoffte
auf Widerspruch, auf ein langes Ringen,

Ich rührte mich nicht. Ich wartete,
bis er verschwunden war, schweigend.

Und wenn es sich aber um ein die barocke Tradition assoziierendes Vanitas-Gedicht handelt, so ist gleichermaßen Alttestamentliches in ihm anwesend, nicht minder Brecht. Diese letzten vier Verse, in ihrer mühlos beherrschten Knappheit, bergen in sich geradezu ein Beziehungskaleidoskop. Am Ende das oszillierende Partizip. Schweigen kann sehr vielbedeutend sein – hier ist es dies.

Bernd Leistner, neue deutsche literatur, Heft 502, Juli/August 1995

Darf Weisheit elegant sein?

– Gedichte von Hans Magnus Enzensberger. –

Sie verstehen zu altern, die literarischen Upstarts der fünfziger Jahre. Während die 68er zuhauf vorzeitig vergreisten, tummeln sich die gereiften Vertreter der James-Dean-Generation wie eh und je auf der kulturellen Piazza, schreiben Romane und Novellen und Gedichte, halten Reden, finden die Gegenwart apokalyptisch, die Politiker unerträglich und die Kollegen fragwürdig. Sie schimpfen, drohen und prophezeien, sind die Opfer korrupter Kritiker und ausbeuterischer Verleger, und sie bleiben produktiv dabei wie die Kaninchen.
Günter Grass hält sich seinen schweren Zorn wie Laotse den Reitochsen, ein unzertrennliches Paar, unterwegs seit Jahrzehnten, von niemandem aufzuhalten im gemessenen Schaukelgang. Martin Walser, städtischer Intellekt wie einer, spielt den Ländlichen, das Bodenseekind, den letzten Verwurzelten, und nervt damit die andern Städtischen wie der Igel den hechelnden Hasen: Man kann aufbrechen, wohin man will, Walser ist immer schon da. Und Enzensberger, der Gelehrteste von allen, ein Belesener von Wielandschen Ausmaßen, erfreut sich seines Wissens und seiner Bücher und treibt damit seine Spiele, als wäre er ein Franzose und nicht der Angehörige eines Landes, wo „Bildungsbürger“ ein allgemein anerkanntes Schimpfwort ist.
Diese Autoren wurden, was sie sind, indem sie sich auflehnten gegen das „Ergriffene Dasein“ der Adenauer-Ära. So nämlich nannte sich die berühmteste, immer neu aufgelegte Lyrik-Anthologie jener Jahre, und solcher Ergriffenheit vor dem Vorhandenen, vor der „Heilen Welt“, wie ein zweiter lyrischer Renner damals hieß, setzten sie ihre ernüchterten Gefühle gegenüber, eine neue Respektlosigkeit. Aufgezogen in Frömmigkeit und geschult zum Gehorsam, war ihnen alles Fromme gründlich verleidet, und sie zeigten das mit Lust und freuten sich über den Anstoß, den sie erregten.
Dennoch, und darin liegt vielleicht das Geheimnis ihres souveränen Alterns, blieb ihnen der Grundrespekt vor den großen Traditionen, der die Epoche Adenauers prägte, insgeheim erhalten. Sie bewahrten eine Witterung für die ungeheuren Potentiale der Überlieferung und hielten sich so in allen Umbrüchen und Apostasien, durch die sie marschierten, den Zugang frei zu einem beständigen Hinterland.
Immer waren sie Mariner mit Ressourcen. Immer konnten sie auf etwas zurückgreifen, wenn wieder einmal die große Wahrheit verrottete. Sie sahen jüngere Leute ausbrennen, Talente wie sie, sahen es bekümmert, setzten sich hin und schrieben ein neues Buch.
Nicht einmal die Postmoderne kann einem Mann wie Enzensberger etwas anhaben. Ihr Kokettieren mit dem Museum, ihr Heraufholen eingelagerter Kultur und das Spiel mit deren Elementen – wie sollte es den verunsichern, der schon 1960 in einem Museum der modernen Poesie den deutschen Sprachraum mit der kühnsten Lyrik der Welt konfrontierte?
Jetzt liegen von Enzensberger „Neue Gedichte“ vor, in Leinen gebunden, fadengeheftet, mit schönfarbigem Umschlag, viel freiem Raum und so groß gedruckt, daß man sich fragt: Geschieht es aus Respekt vor dem Dichter oder in Rücksicht auf die Alterssichtigkeit seiner ersten Fan-Generation? Ein erfreulicher Gegenstand jedenfalls ist der Band, abgesehen von allem Inhaltlichen, das Zeugnis einer Buchkultur, die am Aussterben ist und sich doch immer wieder irgendwo durchsetzt. Der Autor wird es so verlangt haben. Man muß ihm dafür dankbar sein.
Und der Inhalt fällt denn auch nicht ab gegenüber der Aufmachung. Er zeigt die gleiche Verbindung von Noblesse und sinnlicher Attraktivität. Er operiert souverän mit den Registern lyrischen Redens, die sich in Jahrhunderten herausgebildet haben, und dazwischen blitzt es von modischen Lichtern.
Enzensberger war immer ein eminenter Rhetoriker, weit mehr war er stets Rhetoriker als Sänger. Öffentlich geschluchzt und geseufzt hat er selten, und das ist an sich schon eine Leistung angesichts der Tatsache, daß im deutschen Gedicht selbst die Zyniker wie Benn und die Ironiker wie Heine unentwegt ihren Zynismus umschluchzen und ihre Ironie beseufzen.
Ihm liegt mehr am Rhythmus als am schmerzlich verhallenden Klang, und die Gefühle müssen sich rechtfertigen vor dem Gedanken. Gefühl ist ihm nicht alles und Name keineswegs Schall und Rauch. Auch der berühmte Faust-Vers, der solches behauptet, widerlegt sich ja selbst durch die rationale Prägnanz der Formulierung. Was Enzensberger will, sind denkende Leser, die sich der Eleganz seiner Weisheit erfreuen.
Aber darf denn Weisheit elegant sein? Muß sie nicht raunen, röcheln, stöhnen oder stammeln? Darf sie so verständlich daherkommen, daß wir erst mit der Zeit merken, wieviel mehr noch dahintersteckt? In der Regel arbeitet der deutsche Lyriker nach dem umgekehrten Rezept. Ist es nicht banal, ein Gedicht so anzufangen:

Vielen Dank für die Wolken.
Vielen Dank für das Wohltemperierte Klavier
und, warum nicht, für die warmen Winterstiefel.
Vielen Dank für mein sonderbares Gehirn
und für allerhand andre verborgne Organe,
für die Luft, und natürlich für den Bordeaux…

Etwas einfach, tatsächlich. Aber dann bemerkt man den Titel: „Empfänger unbekannt – Retour à l’expéditeur“, und damit ist das Denkspiel eingeleitet, das diesem altertümlichen Lob des Daseins die moderne Schärfe gibt.
Die zwei Ausdrücke des Titels stehen auf den kleinen Klebern, mit denen erfolglos verschickte Briefe von der Post zurückkommen. Da will also einer danken und weiß nicht, wem. Man erinnert sich an den alten Paul Gerhardt mit seinem „Geh aus, mein Herz…“, dem Lied von der Schönheit aller irdischen Dinge, an Franz von Assisi mit seinem „Sonnengesang“, erinnert sich, wie bei beiden das heftige Gefühl der Dankbarkeit, das ja wohl jeder kennt angesichts einer plötzlichen Pracht, seinen unzweideutigen Adressaten fand in einem gutmütigen Gott. Damals machte die Schönheit metaphysischen Sinn, und das irdische Vergnügen trat in geheimen Verkehr mit einer unerschütterlichen Weltmitte.
In diesem literarischen Echoraum, in den die Kennerschaft des Gelehrten H.M. E. das Gedicht vorsichtig rückt, wird man nun in ganz anderer Weise aufmerksam auf sein einfaches Reden. Im bloßen Benennen vollendet sich offenbar das Glück, aber zugleich regt sich damit die hilflose Klage, niemandem danken zu können für etwas, was man doch nur als ein Geschenk zu erfahren vermag. „Vielen Dank für die Wolken…“ – Vielen Dank für den Vers. Diesmal wenigstens ist der Adressat bekannt.
Die zitierten Zeilen stehen noch für ein anderes Merkmal des Lyrikers Enzensberger, seine eigentümliche Beobachterschaft. Mit Baudelaire hat das einst angefangen, dieser scharfe Blick auf die Einzelheiten der unmittelbaren Umgebung, der städtischen Straßen zum Beispiel und was sich darauf herumtreibt. Der Blick setzt den Lyriker als Herumtreiber voraus, der selbst ganz drin ist und doch in Distanz dazu, doch fähig, aus dem Gewimmel eine Einzelheit zu reißen und sie so hinzustellen, daß sie zu sprechen beginnt.
Ein New-York-Gedicht beginnt so:

Der hinkende Hausmeister im Institut
für mittelalterliche Handschriftenkunde
mit seinem Staubsauger, geboren
in der Bukowina vor den Kriegen
und vorbestraft wegen Kindesmißhandlung;
die schwangere Schwarze
mit ihrem riesigen Kopfhörer, die wirr
vor sich hinbetet am Washington Square;
der einsame Wassertank auf dem Dach,
wie er rostet und rostet…

So geht das voran, zusammenhanglos, aber den Leser zu Zusammenhängen zwingend, und plötzlich fällt dazwischen der Satz:

Wer davon nicht absehen kann,
ist kein Theoretiker.

Was ist das? Es ist ein sekundenschnelles Bekenntnis zur Literatur und zu dem, was ihre Sache und Aufgabe ist. Für die Wissenschaft ist der Einzelfall belanglos, zählt nur, was sich wiederholt und dadurch voraussehbar, berechenbar wird. Für die Literatur zählt nur der Einzelfall. Dieser hat ein Schicksal, im Unterschied zum Gegenstand der Wissenschaft, der eine Regel hat. Deshalb ist der rostende Wassertank auf dem Dach „einsam“ für den Blick des Lyrikers. Daß das auch ein bißchen komisch wirkt, gehört zur Sache.
Das radikale Individualisieren aller Dinge, das die Gedichte betreiben, war einst unser aller kindliches Geschäft. Dann sind wir Erwachsene geworden, und das heißt nicht zuletzt: Theoretiker. Der alten Art, die Dinge zu betrachten, begegnen wir nur noch im Zirkus beim Clown, der einen roten Ball anschauen kann, als wäre es der erste Gegenstand der Welt. Und eben bei den Dichtern.
Enzensbergers Weisheit – man darf davon durchaus sprechen, obschon sie auch in diesem Buch mit allerlei Kapriolen untermischt ist und der alte Hans-Magnus-in-allen-Gassen seine Kunststücke nie ganz lassen kann. So schreibt er ein Gedicht über den Untergang der „Titanic“ in lauter Verben im Infinitiv, eine kokette akustische Etüde, die beginnt mit „Lispeln Nuscheln Schwafeln Munkeln / Näseln Flöten Säuseln Mümmeln“, zum Höhepunkt kommt mit „Rumpeln Krachen Scheppern Röhren / Hämmern Wummern Donnern Dröhnen“, in die Katastrophe taucht mit „Jammern Zetern Japsen Stöhnen / Schluchzen Kreischen Winseln Röcheln“ und schließlich ausläuft in ein tragisches „Rauschen Rauschen Rauschen Rauschen“. Das ist kein ausnehmend notwendiges literarisches Ereignis; es wird allerdings eine sichere Karriere machen in den Schulbüchern.
Enzensbergers Weisheit – wie sehr man davon sprechen darf, zeigt sich an der vielleicht stärksten Leistung des neuen Buches, dem viele Seiten langen Gedicht „Gedankenflucht“. Es ist ein denkerisches Ereignis so sehr wie eines der konzentrierten Verbildlichung. Hier wird der Stachel spürbar, der dem Autor in Leib und Seele sitzt und weh tut, mit dem er nicht fertig wird, den er mit aller Eloquenz nicht wegzureden vermag.
Alles bewegt sich, rennt, flüchtet, rinnt dahin, sinnlos, aber von einem wilden Willen getrieben. Das ist die Erfahrung, und der Autor macht sie an der Weltgeschichte wie an seinem eigenen Körper, am Planeten Erde wie am menschlichen Gehirn, an den politischen Ereignissen eines Jahres wie am Wachsen und Schwinden der Gebirge. Und diese bis zum Grotesken unterschiedlichen Zeiten und Abläufe spiegeln sich ineinander, deuten aufeinander und erweisen doch nur das Scheitern jeder Deutung des Ganzen:

Der Begriff der Totalität
existiert in der Theorie,
nicht im Leben.

Aus den zwei Wörtern „bleiben“ und „bewegen“ entwickelt sich das ausgreifende Gedicht; auf diese zwei Wörter kommt es immer wieder zurück. Es wandelt sie ab und spielt damit, aber es spielt damit so, daß man merkt: Es möchte sie loswerden und bringt sie nicht weg, sie haften und wuchern wie ein Geschwür. Daß nirgends Ruhe ist, daß es den reglosen Punkt nicht gibt, daß nichts und niemand je dahin kommt, wo alles steht und keine Bewegung mehr wäre, dies ist das vitale Grauen, die wimmernde Not dieser Strophen.
Und wenn es der wendigste, hurtigste Autor der letzten Jahrzehnte ist, aus dem diese Erkenntnis schreckhaft hervorbricht, dann spricht das nicht gegen ihn und seine Lebensarbeit. Es dämmert nur auf, was vielleicht immer hinter seiner fulminanten schöpferischen Beweglichkeit gesteckt hat.

Peter von Matt, Der Spiegel, 10.4.1995

Hans Magnus Enzensbergers Gedichtband Kiosk

Neue Gedichte (1995)

ist in vier Abschnitte eingeteilt: „Geschichtsklitterung“, „Gemischte Gefühle“, „Belustigungen unter der Hirnschale“, „In der Schwebe“. Auf dem dunkelgrünen Einband der Originalausgabe sind fünf kunstvoll aus Papier geformte Modelle weißer Gartenpavillons zu sehen, die den anspielungsreichen, poetisch vieldeutigen Inhalt des Buches andeuten. Worterklärungen, z.B. auch über den Zusammenhang zwischen Titel und Bild, enthält der Klappentext: Kiosk, im Türkischen ursprünglich Gartenhäuschen, heißt im heutigen deutschen Sprachgebrauch „ein frei stehendes Verkaufshäuschen für Zeitungen, Zigaretten, Süßigkeiten und Getränke“ (Wahrig: Deutsches Wörterbuch). Er ist ein Knotenpunkt alltäglichen Lebens in seiner Mischung aus Information und Unterhaltung, „Mord Gift Krieg“ (S. 7), die die Medien transportieren, ebenso werden Genuss- und Suchtmittel angeboten. Er ist sowohl Treffpunkt für „Penner, / die Hundekuchen essen“, als auch für „andere Lebewesen, / die pünktlich bei Aufgang / der Sonne in Banken verschwinden“ (S. 7), so im ersten, gleichnamigen Gedicht.
Enzensberger beobachtet den deutschen Alltag. Ein Merkmal seiner Lyrik ist die genaue Beschreibung seiner Umgebungen, z.B. der städtischen Straßen in „Abgesehen davon“. Dabei scheint es, als ob Enzensberger selbst Teil des Szenarios ist, das er beschreibt. Er hat dennoch soviel Distanz dazu, dass er Einzelheiten lebendig werden lässt. Ein Beispiel dafür ist das Gedicht „Unschuldsvermutung“. Wo er sich darauf konzentriert, gesellschaftskritische, soziale oder kulturelle Probleme darzustellen, scheint der Text, da der aggressiv-scharfe Blick für das Detail oft wegfällt, manchmal banal zu sein. Das lyrische Ich bewahrt sich auch zu Themen und Gedankengängen eben jene Distanz, die nur bei genauem Hinsehen die Emotionalität und Subjektivität durch den lakonischen Sprachstil durchschimmern lässt; z.B. in „Gedankenflucht“, wo Enzensberger die Schnelllebigkeit unserer Zeit schildert und starke Kontraste skizziert: „Traumurlaub und Panik“, „Bettzeug, geplatzte Koffer“, die eine subjektive Anteilnahme des Verfassers in verzweifelten Bildern andeuten.
Selbstreflexive Verse sind in Kiosk besonders häufig, so dass die Rhetorik des lyrischen Ichs trotz häufiger Sprachspiele, Metaphern und pointierter Gedichtschlüsse verhalten wirkt. Eine Ausnahme ist das Gedicht „Privilegierte Tatbestände“, das einen aggressiveren Ton findet und in dem Enzensberger in einer zynisch anmutenden, juristischen Bürokratensprache auf die brutalen Übergriffe von Neonazis gegen Ausländer anspielt. Die Tatsachen im Hintergrund dieses Gedichts veranlassten ihn vermutlich dazu, eine international ein- und übersetzbare Sprache zu gebrauchen. Einen ebenfalls gereizteren, sprachlichen Duktus hat das Gedicht „Altes Medium“, wo Enzensberger scheinbar sich selbst und das Gedicht an sich verteidigt:

Was Sie vor Augen haben,
meine Damen und meine Herren,
dieses Gewimmel,
das sind Buchstaben.
Entschuldigen Sie.

Enzensberger äußert sich zu allen irgendwie relevanten Themen, wobei das Allgemeine im Individuellen und Besonderen und globale Themen im Detail alltäglicher Erfahrung anschaulich gemacht werden. Er spielt mit Klischees und Redewendungen, mit der Form des Sonetts und der Ode, die er in einer „Hymne an die Dummheit“ durchkreuzt. Zunehmend subjektiven Themen und philosophischen Gedankengängen nährt er sich in den Abschnitten „Gemischte Gefühle“, „Belustigungen unter der Hirnschale“ und „In der Schwebe“.

Hans Magnus Enzensberger-Projekt

Beeindruckender Gedichtband von Enzensberger –

vielleicht sein bester

Der Meister der eigenwilligen Pointe,
des virtuosen Seilakts, der kreative Blende
und der verlässlichen Dissonanz.

Hans Magnus Enzensbergers Gedichtband Kiosk erschien 1995. Würde man ihn mit all seinen 5 Vorgängern vergleichen, fällt die sublime, schlichte Stärke der Gedichte auf, die Kiosk nur mit Blindenschrift gemeinsam hat. Im Gegensatz zu diesem Gedichtband ist Kiosk aber ungleich umfangreicher, politischer und auch in seinen Botschaften aggressiv wie er es vor allem in allen anderen Bänden war. So gibt es ein Gedicht, fast gleich zu Anfang, dass beginnt mit den Zeilen:

Es ist verboten Personen in Brand zu stecken

jedoch endet mit den Zeilen:

Es darf niemandem zum Vorwurf gemacht werden, wenn
er es unterlässt Personen in Brand zu stecken.
Jedermann genießt ein Grundrecht auf Verweigerung.

Der geschickte Drahtseilakt, mit dem Enzensberger hier aus Tätern Opfer macht, ist beeindruckend, wenn auch weniger poetisch, denn thematisch interessant. Insgesamt ist dieser Band, noch mehr als alle anderen Gedichtbände Enzensbergers, eine intellektuelle Freude mit vollendetem Genuss bei einigen genialen Zeilen, aber mit wenig poetischer Schönheit.
Aber das stört wenig, ist doch jedes Gedicht eine Analyse, eine geistreiche Betrachtung für sich und sprachlich, wenn nicht schön, so doch vollendet und sehr gut gesetzt. Ich möchte Enzensberger also keineswegs eine poetische Ästhetik absprechen – nur liegt sich bei ihm in Form und Spiel und Dynamik, nicht in der Poesie präziser oder einnehmender Bilder. Seinen Zeilen muss man wie einem Gedankengang folgen; seine Metaphorik ist Symbolik und besteht aus gegensätzlichem oder seltsamen Vergleichen, die oft nur die Dynamik und das Sinnbild des Gedichts unterstützen sollen.
Kiosk ist vielleicht der beste Band von Enzensberger – mit Sicherheit aber ein sehr guter Gedichtband, lesenswert, noch immer nicht unaktuell. Einige sehr gute Gedichte finden sich hier, auch einige überragende. Besonders beeindruckt hat mich mal wieder die Fähigkeit Enzensbergers, die Perspektive nach Belieben zu setzten. Das ist vielleicht kein Muss für einen Dichter, aber sicher ein großes Plus.

Timo Brandt, amazon.de, 8.3.2012

Beunruhigende Stille

Gedichte à la Enzensberger finden sich im 1995 erstmals erschienen Band Kiosk. Sie kommen wie immer leise daher, sind sprachgewaltig und treffen die Wirklichkeit mitten in ihren Nerv. Mit Kiosk legte der Autor wohl das vorläufige Ergebnis seines bisherigen Werks vor: Die Motive scheinen bekannt aus älteren Texten, doch die Gedichte sind noch bedeutungsträchtiger, noch nachdenklicher, manchmal auch verbittert, obwohl heitere Zeilen ebenso vorkommen. Enzensberger, ebenso wie Böll, Grass, Lenz und andere, ein kritischer Beobachter der (deutschen) Verhältnisse, hält sich nicht mit Kritik zurück: Immer wieder werden Krieg und Nachkrieg, aber auch die jetzige Realität aufgegriffen. Dabei sind die Texte weniger politisch als bei Böll oder Grass. Dennoch bleibt Enzensberger auch in den neunziger Jahren ein kritischer und genauer Beobachter der Verhältnisse; sein Gedicht „Altes Medium“, in dem er seinen Unwillen, sich der Technisierung der Welt zu beugen, beschreibt, stimmt nachdenklich. Vielleicht wäre die Welt, die Enzensberger in seinen Gedichten heraufbeschwört, ein bißchen besser, wenn unsere Welt besser wäre. (Dies ist eine Amazon.de an der Uni-Studentenrezension.)

Ein Kunde, amazon.de, 24.11.1999

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Ulrich Greiner: Das falsche Gefühl der wahren Empfindung
Die Zeit, 3.3.1995

Martin Meyer: Denkbilder
Neue Zürcher Zeitung, 16.3.1995

Ernst Osterkamp: Alter Dachdecker
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.3.1995

Wiglaf Droste: Buddhismus mit Sorgenfalten
die tageszeitung, 23.3.1995

Michael Braun: Gemischte Gefühle. Am „Kiosk“ von Hans Magnus Enzensberger – ein poetisches Minimalprogramm
Freitag, 24.3.1995

Wolfram Schütte: Am & im Kiosk
Frankfurter Rundschau, 25.3.1995

Gert Ueding: Der Buddha nimmt die Beine in die Hand
Die Welt, 25.3.1995

Henning Ziebritzki: Vielen Dank für mein sonderbares Gehirn. Bemerkungen zur religiösen Thematik in Hans Magnus Enzensbergers Gedichtband Kiosk
Neue Rundschau, Heft 4, 1997

Joachim Kaiser: Ein Poet nimmt Abschied vom Ich
Süddeutsche Zeitung, 16.3.1995

Sandra Kerschbaumer: Wie das Rohr am Bache
Neue Rundschau, Heft 4, 1996

Martin Lüdke: Erkenntnisgewinn durch Abwinken?
Focus, 27.2.1995

Matthias Politycki: Vielen Dank für die warmen Winterstiefel
Abendzeitung, 28.3.1995

Joachim Sartorius: Bewegst du dich, wirst du bewegt?
Der Tagesspiegel, 22.3.1995

 

Der Zorn altert, die Ironie ist unsterblich

– Laudatio auf Hans Magnus Enzensberger zur Verleihung des Heinrich-Heine-Preises der Stadt Düsseldorf am 13.12.1998. –

Der Hase
Am Start wirkt er besonders gespannt. Er sieht ein bißchen zu schmächtig aus. Innerlich trippelt er bereits. Er zupft an der Startnummer, zieht das Trikot zurecht. Ein letzter Blick auf die Armbanduhr. Noch einmal den Zeitplan rekapitulieren. Gleich geht es los. Die Mitläufer nehmen kaum Notiz von ihm. Sofort setzt er sich an die Spitze des Feldes. Das beunruhigt niemanden. So ist es abgemacht. Im Fachjargon spricht man von einem ,Hasen‘. In der Leichtathletik sind Weltrekorde ohne ihn nicht mehr zu erzielen. Der Hase macht das Tempo. Mörderisch. „Wie will er das nur durchhalten“, sagen die, die keine Ahnung haben. „Das ist doch der Hase“, sagen die Eingeweihten und bleiben gelassen, „der macht nur das Tempo. Gleich steigt er aus.“ Und so geschieht es. Zwei, drei Runden vor Schluß hat der Hase seine Schuldigkeit getan, er geht aus der Bahn, die Favoriten, die er mitgezogen hat, ziehen davon; wenn alles klappt, fällt der Weltrekord. Der Hase ist längst auf dem Weg unter die Dusche.
Nicht immer.
Einmal geschah das Unerwartete. Der Hase machte das Tempo. „Mörderisch“, sagten die, die keine Ahnung hatten, „der hält das nie durch“. „Das ist doch nur der Hase“, sagten die Eingeweihten, „gleich steigt er aus“, und holten sich erst mal ein Bier. Doch der Hase stieg nicht aus, er blieb in der Bahn, er verschärfte sogar noch das Tempo, die Mitläufer blieben zurück, die Favoriten hatten das Nachsehen, und als der Hase duschte, gehörte ihm der Weltrekord.

Der Skorpion
Hans Magnus Enzensberger wurde am 11. November 1929 in Kaufbeuren im Allgäu, Regierungsbezirk Schwaben, geboren. Er ist Skorpion, und wo er einmal hinsticht, vergißt man ihn nicht mehr.
Vor fünfundzwanzig Jahren erhielt ich eine Einladung an ein Forschungsinstitut in Neu-England. Ich war sehr stolz – aber nicht sehr lange. „Aha, Sie tragen eine Krawatte.“ So wurde ich begrüßt. „Er trug das Hemd stets offen.“ Ich hatte keine Ahnung, von wem die Rede war. „Worüber werden Sie sprechen? Hmm. – Er hielt die ganze Fragestellung schon für überholt.“ So ging es weiter, tagaus, tagein. Das Institut war eine melancholieproduzierende Maßschneiderei: dauernd wurde man mit der Elle gemessen, die einst einem anderen, einem Größeren angelegt worden war. Was aber besonders schmerzte: Er blieb in Erinnerung und war doch im Zorn geschieden, er hatte die Privilegien verschmäht und wurde immer noch gepriesen, er reiste, kaum da, schon wieder ab, hob sich, Hans Magnus und doch schon Fliegender Robert, in die Luft, demonstrierte rotzfrech den Furor des Verschwindens und blieb dabei stets das Maß der Dinge und Elle für all jene, die nach ihm kamen und die ihm nicht nachkamen.
Was tat Immanuel Kant, als er seinem langjährigen Diener Lampe, mit dem das Streiten nicht mehr aufhören wollte, endlich den Laufpaß gegeben hatte? Mit deutlicher Schrift schrieb der Philosoph in sein Merkbüchlein: „Der Name Lampe soll von nun an auf immer vergessen sein“ – und machte derart Lampe unsterblich. So hielten es auch die Kollegen der Wesleyan University, die 1967 Hans Magnus Enzensberger eingeladen hatten. Von ihm, der geschieden war im Zorn und abgerauscht nach Kuba, wollten sie nichts mehr wissen, aber nur über ihn, über niemanden sonst redeten sie noch eine Dekade später, und so, wie in der französischen Nationalversammlung der Putschgeneral Boulanger erledigt war, als ihm der Ministerpräsident Floquet den Satz entgegenschleuderte: „Mein Herr! In Ihrem Alter war Napoleon bereits tot!“, so bekam auch mein Selbstbewußtsein seinen unheilbaren Knacks, als der Direktor des Center, dem ich brav von meinem work in progress berichtet hatte, mit trockener, ein wenig zerstreuter Höflichkeit erwiderte:

Schon gut, schon gut! – aber zu diesem Zeitpunkt war Herr Enzensberger bereits wieder weg!

Intellektuell wäre es natürlich befriedigender, sich einmal ordentlich mit ihm zu streiten. Statt dessen ist schon wieder eine Eloge fällig.

Der Libero
Denn dies hat Enzensberger mit Beckenbauer gemeinsam: auch wenn er einmal ein Selbsttor schießen sollte – in die Geschichte wird es unweigerlich als genialer Rückpaß eingehen. Franz der Große gibt mir das Stichwort, um mit einem Wort deutlich zu machen, was Hans Magnus für die Geistesgeschichte der Bundesrepublik bedeutet: er ist der Libero der intellektuellen Welt. Wir verfügen im geistigen Deutschland, die Namen sind bekannt, über beeindruckende Ausputzer und intelligente Flügelflitzer, kühne Flankenschläger und biedere Stopper, bedächtige Aufbauspieler und ehrgeizige Ersatzleute, und im rechten Mittelfeld herrscht schon wieder das übliche Gedränge. Aber wir haben nur einen Libero. Hans Magnus Enzensberger. Der Libero. Der Nationaldichter, der nach Belieben den Raum deckt oder den Gegner, der hinten dichtmacht und dabei zugleich nach vorne marschiert. Der Libero. Philosophisch gesprochen: der freie Mann.
Hans Magnus Enzensberger ist ein freier, weil neugieriger Mann. Das rerum novarum cupidus hat seit Cäsar und Cicero keinen guten Klang, aber Enzensbergers Begierde nach Neuem ist ebenso ansteckend wie bewundernswert. Er ist auch ein mutiger Autor: die Risikogesellschaft in einem Fall. Mit leichter Hand schreibend, macht er es sich schwer. Würde er sich sonst am gefährlichsten aller Genres, am Kinderbuch, versuchen?
Und dabei ist Enzensberger immer schnell, fast zu schnell. „Das hält der nie durch!“, sagen die, die keine Ahnung haben.

Die Wetterfahne
In Frankreich gibt es seit langem ein Dictionnaire des Girouettes – das Lexikon der Wetterfahnen. Hier findet sich, in regelmäßigen Abständen auf den neuesten Stand gebracht, die Rangliste der Persönlichkeiten aus Geschichte und Gegenwart, die ihr Mäntelchen am häufigsten nach dem Wind hingen. An der Spitze steht unangefochten Talleyrand. Schon früh wollten einige Kollegen Hans Magnus Enzensberger einen Eintrag in diesem Lexikon verschaffen. Den ersten ärgerte, daß Enzensberger es nirgends lange aushält, der zweite klagte, H. M. glaube nur an sich, das sei seine einzige Stärke – und der dritte brachte den allgemeinen Unzuverlässigkeitsverdacht auf den Begriff, als er ein Treffen der Gruppe 47 mit folgendem Satz beschrieb:

Hans Magnus Enzensberger wechselt gerade den Platz.

Der Tatbestand ist nicht zu leugnen. Nichts ist dem jüngsten Träger des Heine-Preises mehr zuwider als die von allen Seiten erhobene Forderung nach Festigkeit und Stetigkeit. Prinzipienscheu, doch zutiefst davon überzeugt, daß jede Sache falsch wird, wenn man sie zu Ende denkt, tummelt er sich vergnügt in einem Durcheinander sanfter Doktrinen und vorläufiger Lehrsätze. Auf die bangen Fragen, die er aufwirft, gibt er selbst die ebenso präzise wie beruhigende Antwort:

Das weiß ich auch nicht so genau!

Er lobt den Wirrwarr, begrüßt die Unruhe und preist die Unregierbarkeit und bleibt Theodor W. Adorno wie Herbert Wehner treu, die im Auseinanderklaffen von Theorie und Praxis einen zivilisatorischen Fortschritt sahen.
Ja, es ist etwas Machiavellihaftes an H. M., der schon früh in Niccolo seinen fünfhundertjährigen Bruder wiedererkannte. Das Problem ist nur, daß es in der Massendemokratie keinen Prinzen mehr gibt, der auf einen modernen Machiavelli hören könnte. So predigt Enzensberger meist tauben Ohren, wenn er uns alle höflich darauf aufmerksam macht, daß der begründete Sinneswandel der anhaltenden Sinnlosigkeit allemal vorzuziehen ist. Im Dezember 1851 schrieb Heinrich Heine an Marx, er habe so viel erlebt, daß er gar nicht mehr wisse, was eigentlich ein Fortschritt oder ein Rückschritt sei. Dieses Gefühl des begründeten Unwissens ist Hans Magnus Enzensberger nicht fremd. Zickzack heißt eines seiner Bücher. Es ist ein Leitmotiv seiner Gesammelten Schriften.
Aber bereits die Chronologie hilft, den Vorwurf des Wankelmuts zu entkräften. Nehmen Sie die folgenden Sätze:

Die Moralische Aufrüstung von links kann mir gestohlen bleiben. Ich bin kein Idealist. Bekenntnissen ziehe ich Argumente vor. Zweifel sind mir lieber als Sentiments. Revolutionäres Geschwätz ist mir verhaßt. Widerspruchsfreie Weltbilder brauche ich nicht. Im Zweifelsfall entscheidet die Wirklichkeit.

Ist das nicht ein starkes Stück? So schreibt jetzt der Autor, dessen aufrührerische Gedichte einst den Elan der 68er befeuerten? So zynisch gibt sich auf einmal der Poet, der wieder Pathos in die politische Lyrik brachte? Den Mann kann man doch nicht mehr ernst nehmen! Gemach. Der zitierte Text von Enzensberger stammt nicht aus dem Nachsommer, er datiert aus dem Vormärz der letzten deutschen Revolte – dem März des Jahres 1966.
„Jünger als jetzt, und bleich vor Eifer“, so beschreibt im epischen Rückblick Hans Magnus Enzensberger sich selbst im Untergang der Titanic, „seinerzeit glaubte ich jedes Wort, / das ich schrieb.“ Gehört zu seinen Lieblingstexten vielleicht die folgende Keuner-Geschichte von Bertolt Brecht?

Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: „Sie haben sich gar nicht verändert.“ „Oh!“, sagte Herr K. und erbleichte.

Es ist gut, daß in unserem Land, in dem die schlechte Laune als politisch korrekt und Verkniffenheit bereits als Nachweis von Intelligenz gilt, ein Dichter und Denker geehrt wird, dessen Hautfarbe immer frischer wird.

Hans und Harry
Über Hans Magnus Enzensberger hat als erster ein Kritiker trefflich geurteilt, den mit dem Preisträger eine eigentümliche ,Intimität auf Distanz‘ verbindet, so innig und so diskret zugleich, daß er ihn nie als Hans Magnus, sondern nur als H. M. anredet. Ich zitiere:

H. M. ist unstreitig einer der witzigsten Schriftsteller Deutschlands, er kann seine Natur nicht verleugnen, und möchte er auch, alle witzigen Einfälle ablehnend, in einem steifen Perückentone dozieren, so überrascht ihn wenigstens der Ideenwitz, und diese Witzart, eine Verknüpfung von Gedanken, die sich noch nie in einem Menschenkopfe begegnet, eine wilde Ehe zwischen Scherz und Weisheit, ist vorherrschend in [seinem] Werke. „Universalität ist der Charakter unserer Zeit“, sagt H. M. [und da sein Werk] ganz den Charakter unserer Zeit trägt, so finden wir darin auch ein Streben nach jener Universalität. Daher ein Verbreiten über alle Richtungen des Lebens und des Wissens, und zwar unter folgenden Rubriken: „Die Masse der Literatur, Nationalität, Einfluß der Schulgelehrsamkeit, Einfluß der fremden Literatur, der literarische Verkehr, Religion, Philosophie, Geschichte, Staat, Erziehung, Natur, Kunst und Kritik.“ Es ist zu bezweifeln, ob ein junger Gelehrter [Autor] in allen möglichen Disziplinen so tief eingeweiht sein kann, daß wir eine gründliche Kritik des neuesten Zustandes derselben von ihm erwarten dürften. [H. M.] hat sich durch Divination und Konstruktion zu helfen gewußt. Im Divinieren ist er oft sehr glücklich, im Konstruieren immer geistreich. Wenn auch zuweilen seine Annahmen willkürlich und irrig sind, so ist er doch unübertrefflich im Zusammenstellen des Gleichartigen und der Gegensätze […] Wir können nicht genug rühmen, mit welchem Scharfsinne [H. M.]… spricht.

Ich bin mir sicher: hätte der Rezensent gewußt, daß seine Vaterstadt dereinst einen Preis in seinem Namen stiften würde, er selbst hätte ihn mit dem größten Vergnügen H. M. zuerkannt – doch nicht Herrn Menzel, dessen Schrift Die deutsche Literatur aus dem Jahre 1828 er hier lobend zitiert, als Menzel noch Oppositioneller und noch kein Feind des Jungen Deutschland war, hätte Heinrich Heine gepriesen – sondern H.M. Enzensberger.
Als die verteidigung der wölfe, sein erster Gedichtband, erschien, wußte Alfred Andersch für diesen Auftritt auf der Bühne des deutschen Geistes „keinen anderen Vergleich als die Erinnerung an das Erscheinen von Heinrich Heine“. Enzensberger habe neu geschaffen, was es in Deutschland seit Brecht nicht mehr gegeben und wofür Heine das Vorbild geliefert habe: das große politische Gedicht. Alfred Andersch ist nicht der einzige geblieben, der die Autoren von „Deutschland ein Wintermärchen“ und „Deutschland, Deutschland unter anderem“ miteinander verglichen hat.

Und zu vergleichen gäbe es vieles in der Sprache und in der Gesinnung, im Ton und in der Themenwahl, im Rhythmus der Verse und im so verführerisch leicht erscheinenden Dahingleiten der Prosa, im Mangel an Respekt gegenüber der Autorität und in der unerwiderten Zuneigung zur Revolution, im unstillbaren Hang zur Ironie, die weder Feind noch Freund verschont und nicht zuletzt im Leiden an unserem „Nacht- und Nebelland“ (Enzensberger) ,dem „Land der Eichen und des Stumpfsinns“ (Heine), einem Leiden, das Enzensberger wie einst Heine zum entschiedenen Kosmopolitismus im Denken und im Dichten führte.

Der Heine-Preisträger freilich ist mit Vergleichen zurückhaltend – nicht nur, was Heine betrifft. Als er den Büchner-Preis entgegennahm, sprach er nicht von der Poesie, nicht von Büchner und nicht von sich. Er sprach von Texten und Kontexten. Wenn man Heine und Enzensberger miteinander vergleichen wollte, müßte man nicht die beiden Autoren, sondern ihre literarischen Umwelten miteinander vergleichen und beispielsweise herauszufinden versuchen, welche Entsprechungen es im restaurativen Umkreis des frühen Enzensberger zu den Milieufaktoren gab, die das Werk Heines entscheidend prägten: Exil, Zensur und ,der große Judenschmerz‘. Das aber wäre der Gegenstand einer Seminararbeit, nicht einer Laudatio. Enzensberger wird im Namen Heines geehrt; Hans Magnus wird nicht gelobt, weil er so ist wie Harry.

Poeta doctus

Von Hans Magnus Enzensberger haben wir uns bereits als Schüler belehren lassen. Auf seine Kursbücher sind wir abgefahren. Seine frühen Gedichte heute wiederzulesen, ist eine eigentümliche Erfahrung – sie führt zurück in eine Nostalgie, vor der wir uns ein für alle Male sicher glaubten. Selbst der Berliner, der doch stets, ich zitiere Enzensberger den Münchner, „nach alten Patronenhülsen, nach Osten, nach Schwefel, nach Desinfektion“ roch, selbst der Berliner droht nun in jene Verklärung der alten Bundesrepublik zu verfallen, in der heute die Altlinken die Neorechten zu überbieten trachten. Wie war sie doch schön, die Zeit, in der die Republik noch überschaubar und frisch, Adenauer erst 87 und die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt noch jung genug war, um den Büchner-Preis einem jungen Dichter zu verleihen. 1963, als er ihn erhielt, war Hans Magnus Enzensberger 34 Jahre alt – und ein Schuft, der erwähnt, daß in diesem Alter Georg Büchner bereits 10 Jahre lang tot war…
Hans Magnus Enzensberger begleitet uns nun schon lange. Es ist ebenso aufregend wie angenehm, in seiner Gesellschaft zu sein. Doch wer ist er wirklich? Ist er ein Aufklärer, ist er es nicht? Ein Hellseher? Ein Dunkelmann? Voltaire? Rousseau? Als 1978 der 200. Todestag der beiden großen Kontrahenten der Lumières in Paris gefeiert wurde, schloß der Kongreßpräsident seine Begrüßung mit den Worten:

Und wenn, meine Damen und Herren, ich mich zwischen Voltaire und Rousseau zu entscheiden hätte, ich entschiede mich heute und in aller Zeit für – Diderot.

Ja, auch wenn ihm heute der Heine-Preis verliehen wird, zunächst denkt man an Diderot, wenn von dem Aufklärer Enzensberger die Rede ist. Heinrich Heine sprach von sich als von der armen deutschen Nachtigall, die ihr Nest in der Perücke Voltaires gebaut habe. Hans Magnus Enzensberger ist der Zaunkönig am Ohr Diderots.
Auch dieser Diderot ist eine Wetterfahne. Über die Einwohner seiner Heimatstadt schreibt er:

Die Menschen hier sind von Kind auf daran gewöhnt, ein Spielball des Windes zu sein. Der Kopf eines Mannes aus Langres sitzt ihm auf den Schultern wie ein Wetterhahn auf einer Kirchturmspitze. Nie bleibt er ruhig an einem Punkte stehen, und wenn er an seinen Ausgangspunkt zurückkehrt, dann bestimmt nicht, um lange dort zu verharren.

„Was denn sonst“, sekundiert Enzensbergers Fliegender Robert, den Vorwurf des Eskapismus fröhlich zurückweisend, „Was denn sonst / bei diesem Sauwetter!
In der Gegenwart gibt Hans Magnus Enzensberger das überzeugende Beispiel dafür, wie eine skeptische Aufklärung nicht nur überleben, sondern weiterleben und sich entwickeln kann. Die Geschichte der Aufklärung ist ja keineswegs, wie die Lehrbücher meinen, ein Kampf der Lichtgestalten gegen die Dunkelmänner. Sie ist, zunächst und vor allem, wie der Titel der großen Enzyklopädie es ausdrückt, der tollkühne Versuch, die arts, die sciences und die métiers noch einmal zusammenzubringen, also die Trennung zwischen den Künsten, den Wissenschaften und der Praxis, die Kluft zwischen Kopf- und Handarbeit, aufzuheben. In unserer Zeit hat keiner dies so nachdrücklich, im ebenso selbstverständlichen wie heiteren Gefühl des Scheiternmüssens versucht wie Dr. Hans Magnus Enzensberger. Er ist der poeta doctus unter den deutschen Schriftstellern, und an Gelehrsamkeit ist ihm nur noch Dr. Benn an die Seite zu stellen.
Nicht um das „empirische Mitschwatzen“ des Dichters geht es, wie Goethe es verächtlich nannte, sondern um Recherche und um Detailarbeit, zu Hause in alten Büchern und draußen auf der Straße, es geht um Statistiken und um Schaubilder, Gespräche mit Betroffenen und Quellenkritik, um eine Hermeneutik, die ebenso präzise wie sensibel ist, es geht um die „Anstrengung des Begriffs“ statt der „gewundenen Phrase der Verlegenheit“, es handelt sich stets um Feldforschung und nie um Weltschmerz. Und immer läuft es darauf hinaus, die erworbenen Kenntnisse in eine Sprache zu übersetzen, die von möglichst vielen verstanden wird. Der Dichter als Aufklärer ist nicht zuletzt ein homo faber, und unter den deutschen Dichtern dieses Jahrhunderts wüßte ich keinen, der so sehr wie Hans Magnus Enzensberger – der Herausgeber und der Übersetzer, der Redakteur und der Reklamefachmann, der Theaterprinzipal und der Korrektor, der Wortzauberer und der Zahlenteufel – sich auch als Handwerker verstanden hat.

Zorn und Ironie
Es ist stets amüsant, Hans Magnus Enzensberger zu lesen, ein reines Vergnügen, ihm zuzuhören, und wer über ihn spricht, gerät unweigerlich in die Versuchung, sich ein wenig von seiner Verstandesheiterkeit zu borgen. Er hat so viel davon. Doch zugleich durchzieht Enzensbergers Schriften ein Ernst, der sich hinter allem Spaß nur mühsam verbirgt, durchzittert seine Sätze eine Unruhe, die nicht nur etwas mit dem Temperament des Schreibenden, sondern auch mit den Themen seiner Beschreibungen und mit dem Tonfall der Zeit zu tun hat. Jüngste Beispiele dafür sind zwei Essays: „Die große Wanderung“ und „Aussichten auf den Bürgerkrieg“.
Am 19. November 1830 schrieb Heinrich Heine an Varnhagen:

Wie es Vögel giebt die irgend eine physische Revoluzion, etwa Gewitter, Erdbeben, Ueberschwemmungen etc vorausahnen, so giebts Menschen denen die sozialen Revoluzionen sich im Gemüte voraus ankündigen, und denen es dabey lähmend betäubend und seltsam stockend zu Muthe wird.

Hans Magnus Enzensberger mit all seinem Witz ist ein solcher Mensch, ein lebender Seismograph, ein anticipator maximus. Ein Besserwisser aber ist er nicht, und wir sind ihm dankbar dafür, daß er nicht aufhört, seinen „Betäubungen“ und „Stockungen“ eine Form zu geben, die aufrüttelt, ohne zu predigen und die mahnt, ohne zu lamentieren. „Sogar zu einem bißchen Sarkasmus könnte es wieder reichen“, meinte er im Jahr der großen Begeisterung, im Jahr des Mauerfalls, „wenn man sich weigert, jederzeit auf Verlangen grundsätzlich zu werden, zu einer gewissen Heiterkeit im Angesicht der allgemeinen Depression. Hie und da eine Prise Lichtenberg, ein Quentchen Diderot, ein Hauch Heine – und schon röche es nicht mehr so muffig im intellektuellen Psychodrom.“
Als Alfred Andersch Ende der fünfziger Jahre den Auftritt Hans Magnus Enzensbergers im Kantatenton beinahe so ergriffen begrüßte wie sonst nur Gläubige die Wiederkunft des Herrn – „Endlich, endlich ist unter uns der zornige junge Mann erschienen“ – da dachte er an die Zukunft, an den heutigen Tag vielleicht, als er fragte:

Eine Begabung wie diejenige Enzensbergers wird immer gefährdet sein. Was wird mit ihm geschehen, wenn der Zorn einmal nachläßt, wenn nicht mehr Empörung die leichte Hand regiert?

Die Antwort auf diese Frage – meine Gratulation an Hans Magnus Enzensberger in einem Satz – ist einfach. Sie kann, im Geiste Heinrich Heines, nur lauten: Der Zorn altert, die Ironie ist unsterblich.

Wolf Lepenies, aus Rainer Wieland (Hrsg.): Der Zorn altert, die Ironie ist unsterblich, Suhrkamp Verlag, 1999

Dichter der ersten Dinge

… Hans Magnus Enzensbergers Poesie und Ethik der Nähe (1991–2009). –

first things first:
Thousands have lived without
love, not one without water.

In jüngeren Studien zu Hans Magnus Enzensbergers Lyrik der letzten beiden Jahrzehnte wird die Auffassung vertreten, der Dichter wende sich mit zunehmendem Alter den „letzten Dingen“ zu. Auf den folgenden Seiten wird dieser Deutungsvorschlag anhand einer Interpretation der letzten fünf Gedichtbände Zukunftsmusik, Kiosk, Leichter als Luft, Geschichte der Wolken und Rebus zurückgewiesen. Anhand einer Rekonstruktion zentraler Gedankenstränge, die das gesamte Textkorpus wie ,Leitfäden‘ durchziehen, lässt sich nachweisen, dass sich Enzensbergers Schaffen vielmehr an einer Poesie und einer Ethik der „ersten Dinge“ orientiert.

1 Poesie der letzten Dinge
Nicht erst in der „Coda“ seines Gedichtbandes Rebus setzt sich Hans Magnus Enzensberger mit dem Problem des Utopieverlusts auseinander. Die Utopie – hier adressiert als die utopische Größe „Alles Mögliche“ – kann aus zwei Gründen nicht mehr als Orientierungsgröße dienen: zum einen, weil sie intellektuell unzugänglich ist („Alles Mögliche – niemand weiß, was das ist“), zum anderen, weil sie real unerreichbar ist (weil „Alles Mögliche unmöglich ist“). Auch wenn die Utopie deshalb nicht rundweg verschwindet („Totzukriegen ist das Mögliche nie“; „Die Wunde / des Möglichen blutet noch“), so hat sie doch ihren Orientierungscharakter wenigstens für die Sprechinstanz der Gedichte vollständig eingebüßt:

Ach, sie steht mir nicht zu, die Wut,
(…) die mir ins Ohr sagt: Alles, was möglich wäre,
wenn…
Doch ich bin nur ein Vorübergehender,
der vorübergehend beobachtet, was der Fall ist,
(…)
und der kaum etwas ausrichtet.

Die Sprechinstanz versteht sich nicht mehr als eine hochmotivierte geschichtsprägende Figur („Ja, ich habe es vermieden, / bis zur letzten Patrone zu kämpfen“), die sich womöglich an Utopien ausrichtet („davor zurückgeschreckt, / die Welt zu verbessern“); sie tritt nur noch als eine das Faktische vorübergehend und unaufgeregt beobachtende Instanz auf, als eine Übergangsfigur in einer Geschichte ohne Richtungspfeil („Keiner von uns / ist der Richtige. Mehr schlecht als recht / nehmen wir die Plätze der Toten ein / und derer, die nach uns kommen“). In „Coda“ wird der Bruch von Utopie und Post-Utopie durch die Entgegensetzung des konsequent großgeschriebenen utopischen „Möglichen“ und des konsequent kleingeschriebenen post-utopischen „möglichen“ markiert. Das „Mögliche“, das im Sinne von „Alles Mögliche“ eine geschichtsphilosophische Zielvorstellung ist, wird von dem „möglichen“ abgelöst, das sich zwar als „Winziges, Vorläufiges“ erweist, das dafür aber „menschenmöglich“ ist und sich deshalb wenigstens tatsächlich „ausrichten“ lässt.
Die Einsicht in das Ende der Utopien und die sich daraus ergebende Ausrichtung am ,Menschenmöglichen‘ ist bereits – meist mit ausdrücklichem Bezug auf Odo Marquards ähnliche Überlegungen – als Abschied von der Geschichtsphilosophie gedeutet worden. Dabei wird freilich deutlicher, wovon die Abkehr erfolgt als wohin sich das geschichtsphilosophisch enttäuschte und utopieverdrossene Subjekt wendet.
Klar wird, dass der weite geschichtsphilosophische Zeithorizont von einem engeren alltagsnahen Zeithorizont abgelöst wird, denn die Perspektive nach dem Abschied von der Geschichtsphilosophie reicht gerade mal „bis zum nächsten Tag, an dem es, / wer weiß warum, etwas zu feiern gibt“. Das „Feiern“ lässt deutlich werden, dass die Abwendung von der Utopie auch eine Abwendung von einer umfassenderen Gesellschaftskritik ist. Weder „Wut“ noch „Klage“ erweisen sich in „Coda“ als angemessene Umgangsformen mit der Gegenwart: Es wird nicht geklagt, denn „wer sich beklagt, / wehe ihm, der ist schon verloren“. Auch wenn es durchaus Gründe gibt, es „alles satt“ zu haben, bleibt doch die Bewunderung der Tatsache, dass das „Leben einfach so weiter“ geht, dass auch diejenigen „nicht aufgeben“, die ihr Leben an keiner Utopie ausrichten wollen oder können; empfohlen wird mit Emphase:

Eiserne Gutmütigkeit!

Anstelle von Gesellschaftskritik also Bewunderung und Dankbarkeit angesichts der Möglichkeit einer Welt, die zwar nicht die beste aller möglichen Welten, wohl aber „besser als gar nichts“ ist. Die Dankbarkeit für das, was ist, überwiegt in der Perspektive dieser Sprechinstanz („Neuerdings ertappe ich mich dabei / zu bewundern, (…) Immer schwerer gelingt mir / Haß, Neid und Verachtung“); für ihre Dankbarkeit vermag sie im „Nachhall der Systeme“ allerdings keinen Adressaten mehr zu finden:

Empfänger unbekannt –
Retour à l’expediteur

Vielen Dank für die Wolken.
Vielen Dank für das Wohltemperierte Klavier
und, warum nicht, für die warmen Winterstiefel.
Vielen Dank für mein sonderbares Gehirn
und für allerhand andre verborgne Organe,
für die Luft und natürlich für den Bordeaux.
Herzlichen Dank dafür, daß mir das Feuerzeug nicht ausgeht,
und die Begierde und das Bedauern, das inständige Bedauern.
Vielen Dank für die vier Jahreszeiten,
für die Zahl e und für das Koffein
und natürlich für die Erdbeeren auf dem Teller,
gemalt von Chardin, sowie für den Schlaf,
für den Schlaf ganz besonders,
und, damit ich es nicht vergesse,
für den Anfang und das Ende
und die paar Minuten dazwischen
inständigen Dank,
meinetwegen für die Wühlmäuse draußen im Garten auch.

Der „inständige Dank“, der sich an einen unbekannten (möglicherweise aber doch nicht inexistenten) Empfänger richtet, ist laut jüngeren Überlegungen ein deutlicher Hinweis darauf, dass Enzensberger sich in seinem „Spätwerk“ einem „ernsthaften und sehnsuchtsvollen Nachdenken über die Möglichkeit von Transzendenz“ zuwende. Die jüngere Literaturkritik und Literaturwissenschaft sieht in den letzten Gedichten Enzensbergers deutliche Hinweis auf „religiöse“ Gehalte, konstatiert „ein zögerndes Geöffnetsein (…) für letzte Dinge“ und nennt den späten Enzensberger sogar „weltfromm, schöpfungsfromm“. Die Zuschreibungen einer neuen „Schöpfungsfrömmigkeit“ in den letzten Gedichtbänden Enzensbergers operieren häufig mit der Kategorie des „Alterswerks“, der „Alterslyrik“, des „Spätwerks“ oder „Spätstils“?
Für die Position, der „Spätstil“ Enzensbergers sei von einem Interesse für die letzten Dinge geprägt, lässt sich auf drei Ebenen argumentieren. Erstens auf einer thematischen Ebene: In den letzten Gedichtbänden nimmt die Anzahl der Verse zu, die mehr oder weniger direkt altersaffine Themen berühren wie Tod, Zeitmangel, Krankheiten, Gebrechlichkeiten und generell materielle Abnutzungserscheinungen; auch wird die Marginalität des Dichters („Die Auflage ist gering / das Publikum exquisit“) und die Entbehrlichkeit des dichterischen Schaffens thematisiert („Sie können sich gar nicht vorstellen, / sagte er, wie entbehrlich Sie sind“); auch wenn punktuell betont wird, dass Lyrik gelegentlich „haltbarer“ sei als bauliche Strukturen oder politische Systeme, dass auch von Dichtungen „das beste vielleicht / (…) hält“, lautet das lakonische Fazit:

Besonders schwer
wiegen Gedichte nicht.

Zweitens auf einer formalen Ebene: In der Lyrik der letzten 20 Jahre findet eine ,Selbsthistorisierung‘ des Dichters statt, womit weniger der poetische Rückblick auf das eigene Leben gemeint ist (dafür ist Frühschriften ein gutes Beispiel) als eine Historisierung des lyrischen Werks durch rückblickhafte Wiederaufnahmen und Selbstbearbeitungen. Der Dichter beginnt mit einer poetischen Inventur seines eigenen Werks: das Gedicht „Das waren Zeiten“ ist eine Reprise von „Kurze Geschichte der Bourgeoisie“, „Unausbleiblich“ in Rebus ist eine Revision von „Unausbleiblich“ in Die Geschichte der Wolken, und „Arbeitsteilung“ aus Die Geschichte der Wolken greift den Problemhaushalt von „Arbeitsteilung“ aus Leichter als Luft auf. Drittens sei auf der Ebene des textimmanenten Adressaten eine Hinwendung zu „Gott“ bemerkbar: Der „unzustellbare“ Dank, der in „Empfänger unbekannt – / Retour à l’expéditeur“ in der Apostrophierung eines unbekannten Gegenübers ausgesprochen wird, sei ebenso wie die Adressierung eines als „Verschwender“ bezeichneten Schöpfers in „Ein Vorwurf“ ein Hinweis darauf, dass sich Enzensbergers „Alterswerk“ den letzten, göttlichen Dingen zuwende. In dem Eindruck, dass „Gott die Menschen niemals / in Ruhe läßt, umgekehrt auch nicht“, werde nicht nur ein unspezifischeres „metaphysisches Bedürfnis“ artikuliert, sondern drücke sich ein handfestes theistisches Interesse für Gott und die letzten Dinge aus. Der späte Enzensberger, so lässt sich dieser Deutungsvorschlag insgesamt pointieren, nähere sich in der Beschäftigung mit Tod und Vergänglichkeit, der Inventarisierung seines Lebens und Werks und der Adressierung eines Weltschöpfers einem religiösen Weltverhältnis.
Die Beobachtung, dass „Gott“ in Enzensbergers Gedichten der letzten 20 Jahre eine wichtige Rolle spielt, ist für sich genommen treffend. Die Deutung dieser Beobachtung als eine Annäherung an religiöse, möglicherweise sogar im Sinne der christlichen Konfessionen reformulierbare Denkweisen muss allerdings zurückgewiesen werden. Trotz der hohen Dichte an Verweisen auf religiöse oder religionsnahe Gehalte – was in Rebus schon an Gedichttiteln wie „Die Zerknirschung“ ablesbar ist – richtet sich der Blick des von „Wut und Verzweiflung“ geplagten enzensbergerschen Sprechers dort, wo er „gen Himmel“ schaut, bezeichnenderweise nicht auf das Ewige, sondern auf das Weltliche und Flüchtigste, nämlich auf die Wolken.
Gott übernimmt in der neueren Lyrik Enzensbergers keine religiöse, sondern eine spezifisch epistemisch-poetische Funktion, die sich als Totalisierungsfunktion charakterisieren lässt: Die imaginierte Perspektive Gottes erlaubt, die Totalität der Welt für den poetischen Blick, für die dichterische Beschreibung verfügbar zu halten. Während der erste Gedichtband der 1990er Jahre (Zukunftsmusik) mit dem „Weltgeist“ nochmals die bereits stark geschwächte Geschichtsphilosophie als Totalisierungsoption aufruft („Was hast du dir, Weltgeist, / dabei gedacht?“), wird das Ganze später aus der Perspektive Gottes wahrgenommen. Gott dient dabei gerade nicht als tröstliches Versprechen der Transzendenz, sondern als perspektivisches Instrument, um die Grenzen der humanen Immanenz beobachten und beschreiben zu können:

Je größer die Perspektive,
desto kleiner wird alles.

Aus der Totalansicht, die Enzensberger gelegentlich „Gott“ nennt, lässt sich etwa beobachten, dass „Gott“ den Menschen als Gattungswesen aufgrund seiner (kosmologisch gesehen) kurzen Existenz möglicherweise sogar „verschlafen“ haben wird. „Gott“ ist für Enzensberger ein Konzept, das erlaubt, wenn schon nicht die Nichtigkeit der Welt insgesamt („Gebenedeit / sei die Nichtigkeit“), so doch wenigstens die Vergänglichkeit und Entbehrlichkeit des in ihr lebenden Menschen, die Begrenztheit seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten dichterisch zu erfassen.
Aus der kosmologischen Totalansicht, die man „Gott“ nennen kann, aber nicht muss, stelle sich der Mensch als „Wichtigtuer“ heraus, der nicht zur Kenntnis nehme, dass er allenfalls „Mittelmaß“ sei. Die Gedichte rufen aber nicht immer notwendig diese Totalansicht auf, wenn in ihnen unterstrichen wird, „daß der Mensch / das Mittelmaß aller Dinge ist“. Auch in kleinerem Maßstab, etwa aus erdhistorischer oder evolutionshistorischer Perspektive erweist sich, dass das „Säugetier“ beziehungsweise „höhere Wirbeltier“ Mensch insofern „Mittelmaß“ ist, als es weder die (höhere) Vergänglichkeit der Wolken erreicht noch die (niedrigere) Vergänglichkeit der Pflanzengattungen zu erlangen vermag. Die Vergänglichkeit des Menschen und die Entbehrlichkeit des von ihm Geschaffenen („Das meiste, / fast alles, wäre auch ohne uns da“) lassen sich in dramatisierender Absicht in einen großen theologisch-kosmologischen Rahmen einspannen; sie erweisen sich aber schon innerweltlich, wenn entlang der Opposition von Natur einerseits und Technik (bzw. Kunst) und Geschichte andererseits die Überlegenheit der Natur gegenüber dem von Menschen Gemachten und Erdachten am Beispiel von Löwenzahn, Radieschen und Knabenkraut, Schachtelhalm, Rosskastanie und Flieder dargestellt wird.
„Gott“ verweist in Enzensbergers Lyrik der letzten beiden Jahrzehnte nicht auf eine Annäherung an ein religiöses Weltverständnis, sondern erweist sich als einer von mehreren verfügbaren epistemisch-poetischen Standpunkten, die einer anthropologischen Totalisierung dienen sollen: Nach dem Abschied von der Geschichtsphilosophie führt Enzensbergers Weg nicht zu einer poetischen Theologie der letzten Dinge, sondern zu einer lyrischen Anthropologie der ersten Dinge.

2 Poesie der ersten Dinge
Die Dankbarkeit für die ,ersten‘ Dinge wie „Winterstiefel“, die in Enzensbergers Gedichten der letzten 20 Jahre immer wieder evoziert wird, ist nicht im Horizont eines Nachdenkens über Transzendenz und eines Geöffnetseins für letzte Dinge zu interpretieren. Hinweise für eine alternative Deutung finden sich bereits in Beiträgen, die diese Dankbarkeit für „unerhörte Privilegien“ wie die, „daß mein Zimmer geheizt ist, / daß ich Wasser habe, viel Wasser, / klares, sauberes Wasser, kalt oder warm“ als eine „regelrechte Vollkommenheitslehre des Geringfügigen“ oder als „Poetik des Alltags“ beschrieben haben.
Die Dankbarkeit für die nur scheinbar geringfügigen ,ersten‘ Dinge weist unterschiedliche Aspekte auf. Zunächst scheinen die ,ersten‘ Dinge durch den Vorzug ihres ebenso alltäglichen wie evidenten Gebrauchtwerdens ausgezeichnet. Gebrauchsgegenstände wie der „Schneepflug“ oder „Essig und Öl, Pfeffer und Salz“ werden hier ebenso hervorgehoben wie bestimmte Berufsgruppen, die diese Gebrauchsgegenstände herstellen beziehungsweise zur Verfügung stellen wie der Bäcker, der Glaser, der „Gefängnisdirektor“, der „Mann mit der Isolierzange“, die „Wahrsagerin“, der „Müllkutscher“ oder der „Medizinmann“.
Der unmittelbare Nutzen, die Unentbehrlichkeit der ,ersten‘ Dinge wird in den Gedichten Enzensbergers auch durch ihre Absetzung von allem Entbehrlichen – vor allem der Entbehrlichkeit der „Letzten Dinge“ („zu allem Überfluß noch / die Letzten Dinge“) – herausgestellt. Besonders deutlich wird diese Entgegensetzung in einem Gedicht, das bereits im Titel auf den „Vorrang der ersten Dinge“ verweist:

FIRST THINGS FIRSTF

Grundsätzlich haben wir nicht viel einzuwenden
gegen Fegefeuer, Reinkarnation, Paradies.
Wenn es sein muß, bitte!
Vorläufig allerdings
haben wir andere Prioritäten.

Um das Katzenklo, den Kontostand
und die unhaltbaren Zustände auf der Welt
müssen wir uns unbedingt kümmern,
ganz abgesehen vom Internet
und von den Wasserstandsmeldungen.

Manchmal wissen wir nicht mehr,
wo uns der Kopf steht
vor lauter Problemen.
Immerzu stirbt jemand,
dauernd wird jemand geboren.

Da kommt man gar nicht richtig dazu,
sich Gedanken zu machen
über die eigene Unsterblichkeit.
Erst einmal ein rascher Blick
in den Terminkalender,
dann sehen wir weiter.

Die Entgegensetzung von ersten Dingen („Katzenklo, (…) Kontostand (…) die unhaltbaren Zustände auf der Welt“) und letzten Dingen („Fegefeuer, Reinkarnation, Paradies“) ist ein wichtiges Strukturmerkmal der letzten Gedichtbände Enzensbergers; ein Strukturmerkmal, das darüber hinaus mit einer Bewertung des Verhältnisses von ersten und letzten Dingen zugunsten der ersten Dinge einhergeht – auch wenn das Stilmittel der inkongruenten, häufig auch asyndetischen Reihung, das Enzensberger hier („Katzenklo“, „Kontostand“, „unhaltbare Zustände auf der Welt“) und an vielen anderen Stellen (z.B. „Schmerz, Schnee, Lust, / Kartoffelsalat und Tod“) verwendet, eine eindeutige Bewertung dieser Entgegensetzung erschweren soll.
Der Vorrang der ersten Dinge ist in Enzensbergers Gedichten nicht nur etwas, das sich in der Alltagswelt beobachten lässt, sondern auch etwas, das Rückschlüsse auf eine den ,ersten‘ Dingen eigene Würde zu ziehen erlaubt. Gedichte wie „Angewohnheiten“ betonen, dass sich ,erste‘ Dinge wie das „Kochen, Waschen, Treppensteigen“ als „unentbehrlicher als jedes chef d’œuvre“ erweisen:

ANGEWOHNHEITEN

Wie oft mußte Plato sich schneuzen,
der heilige Thomas von Aquin
seine Schuhe ausziehen,
Einstein sich die Zähne putzen,
Kafka das Licht ein- und ausschalten,
bevor sie zu dem kamen,
was ihnen aufgetragen war?

Ganze Wochen, aufs ganze gesehen,
bringen wir damit zu,
unsere Hemden auf- und zuzuknöpfen,
unsere Brillen zu suchen
oder das, was wir zu uns nahmen,
wieder auszuscheiden.

Wie flüchtig sind unsere Meinungen
und unsere Werke, verglichen mit dem,
was wir miteinander teilen:
Kochen, Waschen, Treppensteigen –
unscheinbare Wiederholungen,
die friedlich sind, gewöhnlich
und unentbehrlicher als jedes
chef d’œuvre.

Schlussendlich hat also nicht das lyrische „chef d’œuvre“ in unserem Leben Gewicht, sondern die ,ersten‘ Dinge des Alltags. Was am Ende bleibt, sind „ein paar alte Rechnungen und eine Zahnbürste“. Dieser augenzwinkernde Blick, der die Werke eminenter Geistesgrößen gegen die unscheinbaren, darum aber nicht weniger unentbehrlichen ,ersten‘ Dinge des Alltags ausspielt, die alle Menschen mit diesen Größen teilen, richtet sich auch auf Dichter wie Homer, Horaz, Rilke und Mallarmé, die einen Lobgesang auf die Kartoffel vermissen lassen:

EIN ERDFARBENES LIEDCHEN

Noch ein Gedicht über den Tod usf. –
gewiß, aber wie wäre es mit der Kartoffel?
Begreiflicherweise kommt sie nicht vor
bei Homer oder Horaz, die Kartoffel.
Doch was ist mit Rilke und Mallarmé?
War sie ihnen zu stumm, die Kartoffel?
Reimt sich zuwenig auf sie,
erdfarben wie sie ist, die Kartoffel?
Mit dem Himmel hat sie wenig im Sinn.
Geduldig wartet sie, die Kartoffel,
bis wir sie ans Licht zerren
und ins Feuer werfen. Der Kartoffel
macht es nichts aus, aber vielleicht
ist sie den Dichtern zu heiß, die Kartoffel?
Ja, dann warten wir eben noch ein Weilchen,
bis wir sie essen, die Kartoffel,
ein Weilchen besingen und wieder vergessen.

Das dieses Lob der Kartoffel, verfaßt in der (parodierten) form eines Ghasels, ,ironisch‘ gebrochen ist, ändert nichts daran, dass Enzensberger sich hier darum bemüht, die üblicherweise nicht als Gegenstände der Dichtung vorgesehenen ,ersten‘ Dinge, wie profan sie auch sein mögen („Mit dem Himmel hat sie wenig im Sinn“), in ihrem spezifischen Gewicht literarisch zu würdigen, Am deutlichsten formuliert er dieses Anliegen dort, wo die ,ersten‘ Dinge – verknüpft mit einem wiederholten „obwohl“ – fast als Einwand gegen die gemeinhin für viel wichtiger gehaltenen Dinge weltpolitischer Dimension in Stellung gebracht werden:

UNPOLITISCHE VORLIEBEN

Dieses kleine Lächeln der Cellistin
nach der Kadenz im zweiten Satz,
obwohl soeben der Sicherheitsrat
zusammengetreten ist;

der tiefe Ernst, mit dem sich die Frau dort
in den Trümmern ihrer Wohnküche schminkt,
obwohl im Regierungsviertel
noch immer geschossen wird;

der Ehekrach dieser Achtzigjährigen,
wegen der Katzenhaare im Bett,
obwohl die Friedensverhandlungen
die entscheidende Phase erreicht haben;

das heulende Elend wegen der Jubiläumstasse,
die das Dienstmädchen zerschmettert hat,
obwohl der Währungsfonds im selben Moment
den Beistandskredit verweigert;

und hinter der Scheune das Liebespaar,
vor Eifer besinnungs- und atemlos,

obwohl

Die prinzipielle Unvermittelbarkeit der kleinen und der großen Dinge, die unüberwindbare Unübersetzbarkeit des alltäglichen und des weltpolitischen Geschehens (die tägliche Toilette und die weltpolitischen Ereignisse lassen sich nicht gegeneinander ,aufrechnen‘), sind hier nicht als ein Einwand gegen die kleinen, nahen, alltäglichen Dinge zu verstehen, denen gerade durch die fünfte Strophe ein Eigenrecht zugeschrieben wird.
Die dichterische Darstellung der Inkommensurabilität des nahen Kleinen und und des fernen Großen erreicht im lyrischen Werk Enzensbergers dort einen bemerkenswerten Höhepunkt, wo er mit „Auguren“ ein regelrechtes Gegengedicht zu dem im vorangehenden Gedichtband veröffentlichten „Astrale Wissenschaft“ schreibt. In „Astrale Wissenschaft“, dem zuerst publizierten Gedicht, war es ganz im Sinne einer Dichtung der ,ersten‘ Dinge noch der „Kartoffelsalat“ der „hiesigen Welt“, der „die mathematischen Märchen, / die Gleichungen“ des entrückten Naturwissenschaftlers „verdunsten“ ließ:

ASTRALE WISSENSCHAFT

Seine Welt aus fast nichts und nichts,
aus spukhaften Superstrings
im zehndimensionalen Raum,
Strangeness, Colour, Spin und Charm –

doch wenn er Zahnweh hat,
der Kosmologe;
wenn er in St. Moritz
über die Piste stiebt;
Kartoffelsalat ißt
oder einer Dame beiwohnt,
die nicht an Bosonen glaubt;
wenn er stirbt,

verdunsten die mathematischen Märchen,
die Gleichungen schmelzen,
und er kehrt aus seinem Jenseits zurück
in die hiesige Welt
aus Schmerz, Schnee, Lust,
Kartoffelsalat und Tod.

Im einige Jahre später veröffentlichten Gegengedicht „Auguren“ sind dann die Naturwissenschaftler dafür verantwortlich, dass die ,hiesige Welt‘ des Vertrauten uns „vor den Augen verdunstet“ („Ganz ohne Hokuspokus / tasten sie sich im Dunklen voran, / unsere Lichtbringer (…) bis uns, worauf wir vertraut haben, / Liebschaft, Bewußtsein, Materie / sowie der gestirnte Himmel, / gleichsam vor den Augen verdunstet“). Die Sinnlichkeit der alltäglich erfahrenen Umwelt („hiesige Welt“) und die Unsinnlichkeit der mathematisch erfassten Natur („Jenseits“) lassen sich nicht ineinander übersetzen: Das Faktum der Inkommensurabilität von Alltagserfahrung und naturwissenschaftlicher Erfahrung rückt eine Vermittlung der beiden Sphären aus dem Bereich des Möglichen; auch hier bewegt dieses Faktum die Sprechinstanz dazu, „Partei“ zu ergreifen und das Eigenrecht der „hiesigen Welt“ mit „Schmerz“ und „Lust“ zu betonen. Ganz ähnlich verhält es sich, wenn ein Gedicht ausführt, dass die menschliche Haut Temperaturunterschiede zu spüren vermöge, die kein Thermometer erfassen können:

TEMPERATUREN

Temperaturen gibt es, die kein Thermometer mißt,
nur die Haut kann sie unterscheiden:
Den lauen Babydunst, der nach Buttermilch riecht,
den kühlen Hauch der Pfirsiche aus dem Kühlschrank,
den rötlichen Ausschlag der Wut, die uns die Masern in das Gesicht treibt,
und die kalte Eisblume, die dem Kind auf der neugierigen Zunge brennt;
ferner die fiebrige Glut der Eifersucht in den Fingerspitzen,
die hitzige Scham, die das Gehirn überschwemmt,
und was nie und nirgends sonst vorkommt in unserer Galaxie:
die beiden Wärmen der im Bett aneinander sich schmiegenden Schläfer.

Es überrascht genau bedacht nicht, dass ein Thermometer Temperaturen nur messen, nicht aber die von ihm gemessenen Temperaturen auch fühlen kann. Die von Enzensberger auch an anderer Stelle aufgenommene Problematik, dass sich das subjektive phänomenale Bewusstsein nicht ohne Weiteres in die naturwissenschaftlichen Beschreibungsmodelle der Welt (und des Menschen) übersetzen lässt (und umgekehrt), ist auch an dieser Stelle mit einem bestimmten Wertungsindex versehen. „Temperaturen“ schlägt sich auf die Seite der ersten Dinge, wenn es die Empfindung des „kühlen Hauchs der Pfirsiche aus dem Kühlschrank“ oder der „Eisblume, die (…) auf der (…) Zunge brennt“ aufführt, um die Grenzen des physikalischen Messgeräts aufzuweisen.
Die überzogenen Ansprüche auf Würde seitens der „Letzten Dinge“ werden hier nicht nur in ihrer wissenschaftlichen, sondern gerade auch in ihrer religiösen Dimension („Fegefeuer, Reinkarnation, Paradies“) nachdrücklich infrage gestellt. Die These einer späten Zuwendung zum Religiösen verträgt sich nicht mit Enzensbergers „Profanen Offenbarungen“, die den Kühlschrank (als Metonymie für die Befriedigung fundamentaler ,erster‘ Bedürfnisse) gegen den Altar (als Metonymie des christlichen Glaubens) ausspielen:

Altar oder Kühlschrank:
vor die Wahl gestellt,
so mancher frommer Glaube,
glaubt mir, geriete ins Wanken.

Mit den ,letzten‘ Dingen, mit „dem Unendlichen ist nicht gut Kirschen essen“, überhaupt ist alles, was Ansprüche darauf macht, „ewig“ zu sein, suspekt:

Ja,
sogar die Verdammnis, die ewig ist,
sowie das ewige Leben, beide wären sie
nur zu genießen mit äußerster Vorsicht.
Allerhand nämlich hat es für sich,
daß das, was vorbei ist, vorbei ist.

Die Gedichte grenzen das Unbeschränkte und Ewige gegen das Endliche, Sichtbare und Greifbare, unmittelbar Ess- und Genießbare ab; gewürdigt wird dann neben der Kartoffel oder dem Pfirsich auch die Kirsche:

(…) von der Natur (…) gilt
immer erst in der Beschränkung zeigt
die Meisterin sich, in diesen Kirschen
zum Beispiel, dort auf dem Teller,
endlich vielfarbig, wie sie sind
lack-, scharlach-, türkisch-,
granat-,
mohn-, wein- und blutrot:
Morgen schon ist es auch mit ihnen,
aus und vorbei.
Du mußt sie essen
jetzt oder nie.

Die Evokation der ,ersten‘ Dinge wie „Kastanie“, „Sommerregen“ oder „Elster“ verweist allein auf die Immanenz, denn es handelt sich bei ihnen um „Vergünstigungen, /welche die Erde zu bieten hat“. Enzensberger verfolgt, wie das Beispiel der vielfarbigen Kirschen zeigt, keinen Mystizismus der ,ersten‘ Dinge; die ,ersten‘ Dinge verweisen nicht auf eine übergreifende Schöpfungsordnung, die von einem „Gott“ verantwortet wird. Die ,ersten‘ Dinge sind einfach nur das, als was sie uns entgegentreten: Als Evidentes und Offensichtliches bergen sie kein großes Geheimnis, das nur der tieferen Einsicht des außerordentlichen Dichters zugänglich wäre; der Dichter, den seine Aufmerksamkeit, seine Wachheit auszeichnet, zeigt im Modus poetischer Rede vielmehr nur das, was im Alltag häufig übersehen wird, obwohl oder vielleicht gerade weil es das uns Nächste ist.

3 Ethik der ersten Dinge
Enzensberger entwickelt nicht nur eine Poesie, sondern auch eine Ethik der ersten Dinge – was nur aus der Perspektive einer Literaturkritik und Literaturwissenschaft überraschen kann, die in Enzensberger vor allem den gewieften Ironiker, kosmopolitischen Skeptiker und unberechenbaren Intellektuellen sehen wollen, der auch in seiner Lyrik immer nur in ,Rollen‘ spricht. Tatsächlich enthält auch das dichterische Werk „viele allgemein formulierte Texte“ mit ethisch-politischer Pointe, wie sich an generellen lyrischen Reflexionen über die „Reichen“ und „Armen“, die „Besiegten“ und „Sieger“, die „Gewinner“ und „Verlierer“ ebenso nachweisen lässt wie an den umfassenden Deutungsansprüchen, die mit der häufigen Verwendung des Ausdrucks „alles“ einhergehen – etwa wenn versichert wird, dass letztlich „alles beim alten“ bleibe („bei alle dem / bleibt alles beim alten“) oder letztlich „alles ganz eitel“ sei.
Nach der Abkehr von einem geschichtsphilosophisch verankerten Normrepertoire stellt sich die Frage, welche Instanz ein derartiges Normgefüge noch abzusichern vermag. Enzensbergers in der Diskussion seit 1990 keineswegs singuläre Position ist eine ,negative‘, die sich an der Evidenz des Unerwünschten ausrichtet. Auch wenn ein ,positiver‘ Orientierungsrahmen nicht mehr zu gewinnen ist, läßt sich laut dieser Position wenigstens angeben, was unter allen Umständen vermieden werden muß: das „Böse“ in der Erscheinung extremer Gewalt. ,Negative‘, mehr oder weniger anthropologisch fundierte Minimalethiken, die auf philosophische und kulturanalytische Theorien des Bösen zurückgreifen, richten das individuelle oder kollektive Handeln nicht mehr an einem geschichtsphilosophisch vorgegebenen ,positiven‘ Ziel aus, sondern an der Vermeidung von extremer Gewalt. Enzensbergers Lyrik der letzten 20 Jahre kreist ganz in diesem Sinne immer wieder um das „Massaker“ und seine Vermeidung.
Diese intensive Auseinandersetzung mit extremer Gewalt fällt schon in den Gedichtbänden Kiosk und Leichter als Luft auf, die mit umfassenden Reflexionen über Gewalt und Krieg einsetzen. Die Thematisierung extremer Gewalt und des „Massakers“ kehrt auch in den Folgebänden mit unterschiedlichen Akzentuierungen wieder. Einerseits findet sich die Kritik extremer Gewalt verknüpft mit einer Kritik neuerer Medien, wenn das „Massaker im Kino“ ebenso kritisiert wird wie die „ewigen Werbespots für Mord und Totschlag“ in einem Fernsehprogramm, das „immer wieder / dasselbe Massaker“ zeige. Andererseits wird das „Massaker“ von bestimmbaren historischen (auch medienhistorischen) Rahmenbedingungen abgekoppelt und als anthropologische Grundkonstante fixiert. Die Motive dafür, anderen Gewalt anzutun, scheinen zu zahlreich, um das „Massaker“ analysieren zu können; skizzenhafte Erklärungsversuche für das Fortwähren des „Massakers“ verweisen auf den „Eifer, andern und sich / ein Ende zu machen“, auf „fixe Ideen“ wie „der Neue Mensch, / die Lust am Massaker, / um Gottes willen, / das Vaterland oder die Apokalypse“, und, noch grundsätzlicher, auf die fatalen Auswirkungen von Gruppenbildung entlang der Unterscheidungen von erster und dritter Person Plural: „immer gibt’s da die einen / und immer die andern, und immerzu / führt das zu Mord und Totschlag“. Auch wenn die Motivlagen sich ändern mögen (revolutionäre, nationalistische oder religiöse Motive), „Mord Gift Krieg“ beziehungsweise „Hunger Mord Totschlag etcetera“ sind Grundkonstanten menschlichen Lebens. Deshalb wundert es die lyrische Sprechinstanz auch, dass in der Gegenwart „niemand massakriert“ wird:

Du gehst aus dem Haus, und nur
in den seltensten Fällen spaltet dir eine Axt den Schädel, nur gelegentlich
werden Stiefel geleckt,
gegen alle Wahrscheinlichkeit läufst du frei herum, und all
diese Wunder wundern dich nicht.

Der überraschende, geradezu ,unwahrscheinliche‘ Sachverhalt, nicht mit extremer Gewalt konfrontiert zu sein, sorgt für Staunen und motiviert ein „Optimistisches Liedchen“

Vormittags wimmelt es auf den Straßen
von Personen, die ohne gezücktes Messer
hin- und herlaufen, seelenruhig,
auf der Suche nach Milch und Radieschen.

Diese staunenswerten gewaltfreien Momente sind allerdings allenfalls vorübergehende „blaue Stunden“ („die blaue Stunde, vorübergehend, / bevor der nächste Versager beginnt, / in die Menge zu feuern“); irgendwo finden immer die nächsten „Vorbereitungen zum Massaker“ statt. Nur soviel ist sicher: Im Hinblick auf extreme Gewalt ist „kein Ende in Sicht“; irgendwo ist immer Krieg. Sucht man einen Ort außerhalb dieser Gewaltgeschichte, als die sich die Menschheitsgeschichte für Enzensberger darstellt, muss man sich der Natur zuwenden. Nur die „Geschichte“ der Naturdinge – so heißt es am Beispiel der Wolken – sei „unblutig (…). / Historiker, Henker und Ärzte / brauchen sie nicht, kommen aus ohne Häuptlinge, ohne Schlachten.“
In der Lyrik Enzensbergers verweist das „Massaker“ als anthropologische Kategorie nicht auf konkrete historische Konstellationen, sondern auf eine konstante Realität menschlichen Lebens. Der Abschied von geschichtsphilosophischen (und daraus abgeleiteten gesellschaftskritischen) Orientierungsmustern führt zu einer ,anthropologischen‘ Perspektive, die aus großer Distanz in den unterschiedlichsten historischen Ausprägungen von Gewalt nur ein einziges, von kurzen Pausen unterbrochenes „Massaker“ zu erkennen vermag. Daraus ergibt sich eine Minimalethik, die (als Negation des evident Negativen) einer Vermeidung des Übels extremer Gewalt gilt – und dies durchaus auch mit Verweis auf die deutsche Geschichte („Daß alles viel schlimmer war, / früher, wenigstens hier“). Wenn nur zeitweise sichergestellt werden kann, dass das größte Übel nicht eintritt und für eine „blaue Stunde“ kein „Massaker“ stattfindet, ist, so scheint es, schon sehr viel geleistet.
Aber: Es handelt sich bei der Vermeidung des „Massakers“ nicht um etwas, das sich in engerem Sinne von jemanden ,leisten‘ ließe. Der Umgang mit der Möglichkeit des „Massakers“ beschränkt sich bei Enzensberger auf das „Davonkommen“ und auf das schiere Glückhaben:

Ausgerichtet habe ich nichts. Keinen Diktator umgebracht,
kein Massaker verhindert.
Glück gehabt, im großen und ganzen.
Niemand von euch hat mich geteert,
mir sein Messer in die Leber gerammt.

Auch angesichts eines immer drohenden „Massakers“ geht es Enzensberger nicht mehr um die Formulierung einer anspruchsvollen Gesellschaftskritik („sogar deine Feinde / sind dir abhanden gekommen“), sondern um die Beschreibung des „Wunders“ des „Davonkommens“, gerade auch „gegen alle Wahrscheinlichkeit“, um die Bewunderung also der wenigen Momente eines in seiner gelebten Alltäglichkeit „eklatanten Friedens“.
Die in Enzensbergers Lyrik der letzten beiden Jahrzehnte bewunderten, gelegentlich sogar gefeierten ,ersten‘ Dinge stützen damit eine Minimalethik, die sich an der Devise „First things first“ ausrichtet. Diese Minimalethik der ,ersten‘ Dinge zeichnet sich dadurch aus, dass sie erstens mit Evidenzen operiert und zweitens vom Einzelnen wenig mehr als den Rückzug verlangt. Ebenso, wie jeder an die Güte der ,ersten‘ Dinge wie Wasser oder Brot glaubt, und zwar „genau so fest / wie an den Backenzahn, / der ihm weh tut, und daran, / daß heute Donnerstag ist“, soll auch die Notwendigkeit der Vermeidung des „Massakers“ für jeden evident wie „Zahnweh“ sein. Um ein ethisches „Minimialprogramm“ handelt es sich hier also auch hinsichtlich des Begründungsaufwands, auf den eine solche Position sich aufgrund ihrer hohen Evidenz beschränken zu können glaubt.
Der Vorrang der ,ersten‘ Dinge sowohl in poetischer als auch in ethischer Perspektive und der lebensweltliche Rückzug auf die ,ersten‘ und nahen Dinge treffen sich dabei nicht in dem voltaireschen Aufruf zur Kultivierung des eigenen Gartens. Enzensbergers lyrische Sprechinstanzen bedienen sich hier einer noch passiveren Tonlage, wenn sie versichern: „Noch am ehesten auszuhalten / war es unter dem Birnbaum / zu Hause“; dies nicht zuletzt, weil „es anderswo / noch viel ungemütlicher ist“, weil das Nahe und „das Übliche (…) eine Art Trost“ sind. Wenn Enzensberger Odo Marquard mit der Devise zitiert, es komme nicht darauf an, die Welt zu verändern, sondern sie zu verschonen, wird damit wie bereits bei Marquard nicht nur jeder Bedarf einer umfassenderen gesellschaftsverändernden Intervention zurückgewiesen, sondern dem Rückzug auch eine ethische Dimension zugewiesen. Der Rückzug unter „den Birnbaum“, die Gesten des Unterlassens und Schonens werden als ethische Positionen aufgebaut; die Rückzugsgesten sind deshalb nicht nur „apathische Anfälle“, sondern verweisen auf eine „Kunst“ des „Rückzugs“, des „Desertierens“, des „Sich-Entziehens“, gar auf eine „Wissenschaft der Unterlassung“. Diese Ethik des Verschonens, Versäumens und der Verminderung läuft darauf hinaus, dass Unterlassen allemal besser sei als Tun („Nirgends aufzutauchen, / das Meiste zu unterlassen“) eine Position, die hinsichtlich des „Massakers“ als evident „Böses“ zu überzeugen vermag (jedenfalls solange dies bedeutet, die Mitwirkung an einem „Massaker“ zu unterlassen), sonst aber kaum mehr als ein schwaches Postulat sein dürfte.
Enzensbergers Darstellung des mühelosen „Sich-Entziehens“ findet in den letzten Lyrikbänden seine gestalterischen Höhepunkte, wo er Leichtigkeit und Schweben versprachlicht und die Choreographie des fallenden Schnees und der ziehenden Wolken dichterisch erfasst; auch dort, wo er das „mühelose“ Gleiten auf dem Fluss beschreibt:

FAHRWASSER

aaaaa– – – dazwischen,
nicht mehr so ganz zugehörig.
Viel Betrieb links und rechts –
aaaaaAlle Achtung!
Aber dieser da paddelt weiter,
aaaaadazwischen,
vorbei an Bemühungen
um Renditen und Kopfpauschalen,
sonderbar mühelos
langsam stromabwärts.

Alles, was wichtig ist,
zieht am Ufer vorbei –
Oberlandesgerichte, Tankstellen,
Mehrzweckhallen.
Dieser da paddelt weiter, –
aaaaaist hosianna –,
da, wo nichts los ist,
dazwischen.

Beeindruckend, wie die Sprechinstanz „sonderbar mühelos“, „vorbei an Bemühungen“ auf dem Wasser gleitet und sich reibungslos „stromabwärts“ treiben lässt. Die Gelassenheit, mit der sie „paddelt“, die Leichtigkeit, mit der „Alles, was wichtig ist“ an ihr vorbeizieht, evoziert das Schweben eines Moments „dazwischen, / nicht mehr so ganz zugehörig“. Gerade weil Enzensberger das „Weiterschwimmen“ nicht immer so leicht fiel wie hier, kann man das mühelose Treiben stromabwärts durchaus als späte „stoische Gelassenheit“ beschreiben.
Diese „mit heiterer Stirn“ formulierten Verse ließen sich mit rückhaltlosem Gefallen lesen, wenn sie nicht den Eindruck erweckten, dass sie in ihrem Rückzug von „Ufer“ und „Betrieb“ die „Oberlandesgerichte, Tankstellen, / Mehrzweckhallen“ bestenfalls umrisshaft wahrzunehmen vermögen. Die stringent entwickelte und künstlerisch überzeugend umgesetzte Poesie der ersten Dinge kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Ethik der ersten Dinge, die nur noch im Nahen Verläßliches zu finden vermag und sich im Rückzug auf die ersten und evidenten Dinge einen direkten und unproblematischen Zugang zur Welt offenzuhalten versucht, eine anti-politische Stoßrichtung aufweist („Ich meine das nicht politisch“), die jedes Interesse an „Bemühungen“ außerhalb des ethischen Nahbereichs verloren hat.

Carlos Spoerhase, aus: Text+Kritik. Hans Magnus Enzensberger Heft 49, edition text + kritik, November 2010

 

Tae-Ho Kang: Poesie als Kritik und Selbstkritik. Hans Magnus Enzensbergers negative Poetik, Dissertation März 2002

Hans-Ulrich Treichel: „Von mir selber würde ich nie und nimmer reden“. Zur Lyrik Hans Magnus Enzensbergers, Merkur, Heft 600, März 1999

Angelika Brauer: Im Widerspruch zu Hause sein – Porträt des Schriftstellers Hans Magnus Enzensberger

Michael Bauer: Ein Tag im Leben von Hans Magnus Enzensberger

Moritz von Uslar: 99 Fragen an Hans Magnus Enzensberger

 

 

Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger (1961)

 

 

Hans Herbert Westermann Sonntagsgespräch mit Hans Magnus Enzensberger (1988)

 

Aleš Šteger spricht mit Hans Magnus Enzensberger (2012)

 

Steen Bille spricht mit Hans Magnus Enzensberger am 5.9.2012 in der Dänischen Königlichen Bibliothek in Kopenhagen

 

Hans Magnus Enzensberger wurde von Marc-Christoph Wagner im Zusammenhang mit dem Louisiana Literature Festival im Louisiana Museum of Modern Art im August 2015 interviewt.

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Eckhard Ullrich: Von unserem Umgang mit Andersdenkenden
Neue Zeit, 11.11.1989

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Frank Schirrmacher: Eine Legende, ihr Neidhammel!
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.11.1999

Hans-Ulrich Treichel: Startigel und Zieligel
Frankfurter Rundschau, 6.11.1999

Peter von Becker: Der Blick der Katze
Der Tagesspiegel, 11.11.1999

Ralph Dutli: Bestimmt nicht in der Badehose
Die Weltwoche, 11.11.1999

Joachim Kaiser: Übermut und Überschuss
Süddeutsche Zeitung, 11.11.1999

Jörg Lau: Windhund mit Orden
Die Zeit, 11.11.1999

Thomas E. Schmidt: Mehrdeutig aus Lust und Überzeugung
Die Welt, 11.11.1999

Fritz Göttler: homo faber der Sprache
Süddeutsche Zeitung, 12.11.1999

Erhard Schütz: Meine Weisheit ist eine Binse
der Freitag, 12.11.1999

Sebastian Kiefer: 70 Jahre Hans Magnus Enzensberger. Eine Nachlese
Deutsche Bücher, Heft 1, 2000

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Hans-Jürgen Heise: HME, ein Profi des Scharfsinns
die horen, Heft 216, 4. Quartal 2004

Werner Bartens: Der ständige Versuch der Alphabetisierung
Badische Zeitung, 11.11.2004

Frank Dietschreit: Deutscher Diderot und Parade-Intellektueller
Mannheimer Morgen, 11.11.2004

Hans Joachim Müller: Ein intellektueller Wolf
Basler Zeitung, 11.11.2004

Cornelia Niedermeier: Der Kopf ist eine Bibliothek des Anderen
Der Standard, 11.11.2004

Gudrun Norbisrath: Der Verteidiger des Denkens
Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 11.11.2004

Peter Rühmkorf: Lieber Hans Magnus
Frankfurter Rundschau, 11.11.2004

Stephan Schlak: Das Leben – ein Schaum
Der Tagesspiegel, 11.11.2004

Hans-Dieter Schütt: Welt ohne Weltgeist
Neues Deutschland, 11.11.2004

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Matthias Matussek: Dichtung und Klarheit
Der Spiegel, 9.11.2009

Michael Braun: Fliegender Robert der Ironie
Basler Zeitung, 11.11.2009

Harald Jähner: Fliegender Seitenwechsel
Berliner Zeitung, 11.11.2009

Joachim Kaiser: Ein poetisches Naturereignis
Süddeutsche Zeitung, 11.11.2009

Wiebke Porombka: Für immer jung
die tageszeitung, 11.11.2009

Hans-Dieter Schütt: „Ich bin keiner von uns“
Neues Deutschland, 11.11.2009

Markus Schwering: Auf ihn sollte man eher nicht bauen
Kölner Stadt-Anzeiger, 11.11.2009

Rolf Spinnler: Liebhaber der lyrischen Pastorale
Stuttgarter Zeitung, 11.11.2009

Thomas Steinfeld: Schwabinger Verführung
Süddeutsche Zeitung, 11.11.2009

Armin Thurnher: Ein fröhlicher Provokateur wird frische 80
Falter, 11.11.2009

Arno Widmann: Irrlichternd heiter voran
Frankfurter Rundschau, 11.11.2009

Martin Zingg: Die Wasserzeichen der Poesie
Neue Zürcher Zeitung, 11.11.2009

Michael Braun: Rastloser Denknomade
Rheinischer Merkur, 12.11.2009

Ulla Unseld-Berkéwicz: Das Lächeln der Cellistin
Literarische Welt, 14.11.2009

Hanjo Kesting: Meister der Lüfte
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Heft 11, 2009

Zum 85. Geburtstag des Autors:

Arno Widmann: Der begeisterte Animateur
Frankfurter Rundschau, 10.11.2014

Heike Mund: Unruhestand: Enzensberger wird 85
Deutsche Welle, 10.11.2014

Scharfzüngiger Spätaufsteher
Bayerischer Rundfunk, 11.11.2014

Gabi Rüth: Ein heiterer Provokateur
WDR 5, 11.11.2014

Jochen Schimmang: Von Hans Magnus Enzensberger lernen
boell.de, 11.11.2014

 

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Andreas Platthaus: Eine Enzyklopädie namens Enzensberger
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.11.2019

Andreas Platthaus: Der andere Bibliothekar
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.11.2019

Peter von Becker: Kein Talent fürs Unglücklichsein
Der Tagesspiegel, 10.11.2019

Lothar Müller: Zeigen, wo’s langgeht
Süddeutsche Zeitung, 11.11.2019

Florian Illies: Im Zickzack zum 90. Geburtstag
Die Zeit, 6.11.2019

Jörg Später: Hans Magnus Enzensberger wird 90
Badische Zeitung, 8.11.2019

Anna Mertens und Christian Wölfel: Hans Dampf in allen Gassen
domradio.de, 11.11.2019

Ulrike Irrgang: Hans Magnus Enzensberger: ein „katholischer Agnostiker“ wird 90!
feinschwarz.net, 11.11.2019

Richard Kämmerlings: Der universell Inselbegabte
Die Welt, 9.11.2019

Bernd Leukert: Igel und Hasen
faustkultur.de, 7.11.2019

Heike Mund und Verena Greb: Im Unruhestand: Hans Magnus Enzensberger wird 90
dw.com, 10.11.2019

Konrad Hummler: Hans Magnus Enzensberger wird 90: Ein Lob auf den grossen Skeptiker (und lächelnden Tänzer)
Neue Zürcher Zeitung, 11.11.2019

Björn Hayer: Hans Magnus Enzensberger: Lest endlich Fahrpläne!
Wiener Zeitung, 11.11.2019

Wolfgang Hirsch: Enzensberger: „Ich bin keiner von uns“
Thüringer Allgemeine, 11.11.2019

Rudolf Walther: Artistischer Argumentator
taz, 11.11.2019

Kai Köhler: Der Blick von oben
junge Welt, 11.11.2019

Ulf Heise: Geblieben ist der Glaube an die Vernunft
Freie Presse, 10.11.2019

Frank Dietschreit: 90. Geburtstag von Hans Magnus Enzensberger
RBB, 11.11.2019

Anton Thuswaldner: Der Zeitgeist-Jäger und seine Passionen
Die Furche, 13.11.2019

Alexander Kluge und Hans Magnus Enzensberger: „Maulwurf und Storch“
Volltext, Heft 3, 2019

 

 

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Gedenkveranstaltung für Hans Magnus Enzensberger:

Andreas Platthaus: Auf ihn mit Gefühl
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.6.2023

Peter Richter: Schiffbruch mit Zuhörern
Süddeutsche Zeitung, 21.6.2023

Dirk Knipphals: Die verwundete Gitarre
taz, 22.6.2023

Maxim Biller: Bitte mehr Wut
Die Zeit, 29.6.2023

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Höhenenzensberger“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Enzensberger, der“.

 

 

Hans Magnus Enzensberger – Trailer zu Ich bin keiner von uns – Filme, Porträts, Interviews.

 

Hans Magnus Enzensberger Der diskrete Charme des Hans Magnus Enzensberger. Dokumentarfilm aus dem Jahre 1999.

 

Hans Magnus Enzensberger liest auf dem IX. International Poetry Festival von Medellín 1999.

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