Hans Mayer: Zu Günter Kunerts Gedicht „Vom Dorotheenstädtischen Friedhof“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Günter Kunerts Gedicht „Vom Dorotheenstädtischen Friedhof“. –

 

 

 

 

GÜNTER KUNERT

Vom Dorotheenstädtischen Friedhof

Auf den Friedhöfen der toten Dichter
triumphiert die Macht
über die Ohnmacht des Wortes

Selbst schwere Steine
sind nur leichtfertige Lügen
erhaben über wehrlosem Gebein
Barrikaden gegen die Lebenden
damit sie hier einhalten
im Denken und wissen
daß sie anheimfallen
der weiterwährenden Gebrauchsfähigkeit
früher oder später

Besucher wie du
im dunklen Anzug und mit erforderter Miene
vernehmen niemals die Warnung
das erbärmliche Geschrei welker Blätter
unter den Sohlen auf dem Wege
zum zugewiesenen Platz. 

17.3.78

 

In der Sklavensprache

Über „Vom Dorotheenstädtischen Friedhof“

Mit zunehmender Einheitlichkeit von Text und Autor endet des Autors Rolle als Clown oder Oberlehrer…
(Günter Kuriert: Warum schreiben)

Dies Gedicht bedarf der Nachhilfe. Nicht vom Autor, denn der hat gesagt, was zu sagen war. Auch werden Trauer und Hohn selbst dann vernommen, wenn der Leser nicht genau weiß, worum da getrauert, was verhöhnt wird. Allein es handelt sich um einen Text in der Sklavensprache. Die muß man können, um zu verstehen, nicht bloß zu ahnen und zu fühlen.
Der Dorotheenstädtische Friedhof befindet sich in Berlin. Im – heutigen – „Ostteil“ der ungenau halbierten Stadt. Zu den Zeiten der Romantiker und der politisch-ideologischen Restauration im Zeichen Metternichs und Friedrich Wilhelms III. wurden hier, unweit der Charité und nicht allzuweit vom Brandenburger Tor, die bedeutenden Bürger der preußischen Hauptstadt beigesetzt: die namhaften Zivilisten. Johann Gottlieb Fichte liegt hier begraben. Hegel wollte an seiner Seite beerdigt werden. Auch Marie Hegel, geborene Tucher wurde neben ihrem Mann bestattet.
Als sich Bertolt Brecht ein Haus einrichtete neben dem längst geschlossenen Kirchhof, in der Chausseestraße, blickte er vom Fenster des Arbeitszimmers hinab zu den Gräbern. Da lag Hegel. Da wollte er selbst begraben sein: der Begründer, wie er meinte, eines dialektischen Theaters. Man suchte Brecht den Gedanken auszureden. Wie er denn einzuziehen gedenke in den geschlossenen Friedhof? „Durch Schiebung!“ Die ist ihm gelungen. Am 17. August 1956, einem Freitag, wurde Bert Brecht auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beigesetzt. Ohne Grabrede, wie er es verlangt hatte.
Brecht benötigte keinen Grabstein, wie er schrieb. Doch sollte ihm just dieser ganze Friedhof als Grabstein dienen. Von Hegel zu Brecht. So war es geplant, aber daraus ist nichts geworden. Die Macht triumphierte über den toten Dichter.
Hier setzt Günter Kunert ein. Die Macht nämlich verhinderte, daß diese Grabanlage zum Grabstein wurde für jenen großen Einzelnen. Sie sollte „umfunktioniert“ werden zum Pantheon der erwünschten und offenbar vorbildhaften Künstler und Gelehrten. Man schaffte die Urne Heinrich Manns herbei aus Kalifornien; Johannes R. Becher wurde auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beigesetzt, der Musiker Hanns Eisler, mancher andere, den Brecht kaum beachten mochte. Seitdem gehört es zum amtlichen Prestige, wie der Nationalpreis und der Vaterländische Verdienstorden in Gold, eben hier bestattet zu werden. Dorthin wurde man im allgemeinen mit dem Pomp eines Staatsbegräbnisses getragen. überliefert ist der Ausspruch eines Sohnes zum – schwerkranken – Vater bei solcher Gelegenheit:

Da bist du wohl neidisch, Vater, daß du hier nicht beerdigt werden wirst!

Auf dem Friedhof der toten Dichter hat somit die Macht triumphiert über die Ohnmacht eines unbotmäßigen Wortes. Was einstmals bedenklich war, vielleicht staatsgefährlich, wurde nun in doppelter Weise unschädlich gemacht: durch den Tod und durch die amtliche Vereinnahmung. Wehrloses Gebein der Brecht und Heinrich Mann: sie können nicht mehr erklären, daß alles ganz anders gemeint war.
Die Neinsager von gestern werden nachträglich umgedeutet zu Jasagern, mit deren Hilfe die Macht die lebendigen Neinsager einschüchtern und belügen kann, damit sie es sich noch einmal überlegen. Auf daß auch aus ihnen dereinst einmal, mit Hilfe der Macht, die unschädlichen Klassiker werden können, die man auf diesem Friedhof in Ehrengräbern einsargt und gleichfalls gebrauchsfähig macht: gegen die dann fälligen neuen Neinsager. Durchschlagende Wirkungslosigkeit sogenannter Klassiker. So meinte es Max Frisch im Gedenken an den ersten Neuankömmling auf dem Friedhof der einstigen Dorotheenstadt.
Wer als noch Lebender hierher gelangt, aus Anlaß neuer Staatstrauer um einen mit Hilfe leichtfertiger Lügen und schwerer Grabsteine unschädlich gemachten Neinsager von einst, ahnt nichts von der Ohnmacht und Wut der Toten. Der Besucher fühlt sich geehrt, denn er durfte zugegen sein. Der dunkle Anzug ist einwandfrei, die Miene angemessen: wie es die Macht befahl. Wie kann der tote Dichter den noch lebenden warnen? Hört er denn nicht, der noch Lebende: das erbärmliche Geschrei welker Blätter unter seinen Sohlen? Alles sollte ihn warnen. Allein er geht weiter „zum zugewiesenen Platz“. Was zweideutig klingt. Zugewiesen ist der Platz des nunmehr begrabenen, erwünschten Poeten. Zugewiesen hat man, streng nach dem Protokoll, dem Besucher die Stelle, wo er voller Ergriffenheit mitfeiern darf. Zugewiesen ist auch ihm – vielleicht – hier ein Platz auf dem Friedhof der toten und ohnmächtigen Dichter.
Dies Gedicht von Kunert, übersetzt aus der Sklavensprache, ist ein Gegengedicht zu Brechts Versen über den eigenen Nachruhm, auch ein Epitaph über Heinrich Manns Thema des Grundkonflikts zwischen Geist und Macht. Durch sein Vorhandensein beweist es, daß die Warnung, verkündet als erbärmliches Geschrei der welken Blätter, gehört und beherzigt wurde.

Hans Mayer, aus Michael Krüger (Hrsg.): Kunert lesen, Carl Hanser Verlag, 1979

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