Hans-Peter Bayerdörfer: Zu Peter Rühmkorfs Gedicht „Hochseil“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Peter Rühmkorfs Gedicht „Hochseil“ aus Peter Rühmkorf: Gesammelte Gedichte. 

 

 

 

 

PETER RÜHMKORF

Hochseil

Wir turnen in höchsten Höhen herum,
selbstredend und selbstreimend,
von einem Indivdiduum
aus nichts als Worten träumend.

Was uns bewegt – warum? Wozu? –
den Teppich zu verlassen?
Ein nie erforschtes Who-is-who
im Sturzflug zu erfassen.

Wer von so hoch zu Boden blickt,
der sieht nur Verarmtes/Verirrtes.
Ich sage: wer Lyrik schreibt, ist verrückt,
wer sie für wahr nimmt, wird es.

Ich spiel mit meinem Astralleib Klavier,
vierfüßig – vierzigzehig –
Ganz unten am Boden gelten wir
für nicht mehr ganz zurechnungsfähig.

Die Loreley entblößt ihr Haar
am umgekippten Rheine…
Ich schwebe graziös in Lebensgefahr
grad zwischen Freund Hein und Freund Heine.

 

 

 

Loreley wird rehabilitiert

Der Eindruck beim ersten Lesen des Gedichts läßt sich wohl am ehesten in die Worte fassen, die in der vorletzten Zeile die Bewegungsart seines ,Ich‘ charakterisieren: „Schwebend“ und „graziös“. Erst beim zweiten Lesen wird man gewahr, daß man vielleicht über Abgründe ,hinweggeschwebt‘ ist, erst nach wiederholter Lektüre, welche sprach- und verskünstlerische Phantasie nötig ist, damit der Eindruck des Schwebens entsteht. Eine der einfachsten und eingängigsten der deutschen Reimstrophen liegt zugrunde: vierzeilig und „vierfüßig“, mit Kreuzstellung des Reims und Wechsel von männlicher und weiblicher Kadenz – es ist die Strophe zahlloser Volkslieder und romantischer Gedichte, aber auch die Strophe von Heinrich Heines Wintermärchen. Angereichert durch alliterierende oder assonierende Binnenklänge, wie bei Rühmkorf in fast jedem Vers, erreicht diese Strophe eine musikalische Mühelosigkeit, die nicht nur das zugrunde liegende Sprach- und Verstraining überspielt, sondern auch das Artistische der Wortspiele und semantischen Balance-Akte als fast natürlich, fern allem Gesuchten erscheinen läßt. Freilich kann gerade dies Befremden hervorrufen. Müheloser Klangzauber und verbale Artistik könnten Mitte der siebziger Jahre anachronistisch anmuten, es sei denn, man hätte von vornherein das ,Schwebende, als jongleurhaft und das ,Graziöse‘ als schnoddrig empfunden. In der Tat entdeckt man bei näherem Zusehen moderne, und das heißt auf Brechung angelegte Verfahrensweisen. Schon die Reime verraten nicht nur Bennsche Klanglust, die sich besonders auf Fremdwort-Einschlüsse kapriziert, sondern auch Aha-Effekte aus der Schule jenes Autors, dessen Name in der Schlußzeile die Reim-Pointe des ganzen Gedichts bildet.
Die lebenslange Reim-Besessenheit des Verfassers erklärt sich daraus, daß der Reim sowohl den sprachmagischen Einklang in der Zweiheit bilden als auch die Nachäffung des Vorklangs, als Spott und als Unsinn, sein kann, wie der Germanist Rühmkorf erst kürzlich in seiner Studie Zur Naturgeschichte des Reims und der Anklangsnerven (1981) dargelegt hat. Die wortspielerische Wendung „selbstredend und selbstreimend“ (2) ist daher ebensowenig beiläufig wie die Beschwörung Heines, auf den sich der Autor ebenfalls seit den fünfziger Jahren beruft. Hochseil ist also ein poetologisches Gedicht, in das die wichtigsten Bestimmungen des Rühmkorfschen Dichtungsbegriffs direkt eingegangen sind.
Das Grundproblem ist zunächst das sprechende Ich, das formal als Pronomen der ersten Person im Text anwesend ist, und sein Verhältnis zu dem Ich des Autors. Eine Lösung im Sinne des Begriffs „lyrisches Ich“, wie er u.a. von Gottfried Benn in seiner Marburger Rede von 1951 vorgeschlagen und dann in den fünfziger und sechziger Jahren diskutiert worden ist, weist Rühmkorf jedoch im ,Ich‘-Teil von Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich ausdrücklich zurück. Er besteht vielmehr darauf, daß die gesellschaftlichen Bedingungen und die Biographie des Autor-Ich mit in das Gedicht eingehen, da nur unter dieser Voraussetzung die Frage, wie daraus ein authentisches „Individuum aus nichts als Worten“ werden kann, sinnvoll ist. Da auf ein ,lyrisches Ich‘, das für ästhetizistische Verkürzung anfällig ist, nicht zurückgegriffen werden kann, ist es gerade Heine, der für die Identität stiftende Bedeutung des modernen Gedichts die Bürgschaft übernehmen muß. Heine tut es indes nicht alleine; wie er selbst die lyrische Tradition der klassisch-romantischen Dichtung als Halt brauchte, an dem sich in der sprachlichen Gegenbewegung seine eigene Diktion profilierte, so sind Traditionsübernahmen auch für Rühmkorfs Gedicht konstitutiv. „Freund Hein“, der in Matthias Claudius’ sprachlicher Wendung begütigte und vertraulich gewordene Tod, welcher „Freund Heine“ gegenübergestellt wird (20), ist ein solches Traditionselement. Aber schon von Anfang an ist lyrisches Erbe, das in unterschiedlichen Subtilitätsgraden dem Witz und der Ironie des Kontextes ausgesetzt wird, in dem Gedicht präsent.
Für den Eingang genügt es, sich der Bergschluchten-Szene von Faust II zu erinnern, etwa des Chores seliger Knaben „um die höchsten Gipfel kreisend“, um die traditions- und wertgesättigte Aura des Superlativs „höchste Höhen“ zu erkennen. Diese Aura wird zitiert, damit sie im gleichen Atemzug durch das schnodrig-heitere „herumturnen“ desavouiert werden kann. In einer Zelt, in der die ,Schwerkraft‘ des Materiellen und Sinnlichen das Gesetz unseres Daseins und die Basis unseres „irdischen Vergnügens“ ist, haftet dem Hochseil-Akt etwas Zweideutig-Gauklerisches an, von dem die künstlerischen Höhenflüge früherer Jahrhunderte noch frei waren. Immerhin ist auch heute noch diese Tätigkeit so ,selbstverständlich‘, so sehr sprachliche und künstlerische Selbsttätigkeit, daß der Traum von der sprachlich Ereignis werdenden Individuation nicht gar so halluzinatorisch erscheinen mag. Daher gilt auch die Umkehrung des Verhältnisses: mit der Höhenmetapher wird dem Gedicht das Vermächtnis der Gattung zugesprochen, mag auch die moderne Sprach-Welt noch so ungeeigneter Boden für Aufschwünge sein. Die zweite Strophe formuliert daher ein ,Dennoch‘. Obwohl Rühmkorf den „Benn-Epigonen“ früher den parodistischen Prozeß gemacht und auch ein programmatisches „Anti-Ikarus“-Lied geschrieben hat (Irdisches Vergnügen in g, S. 60, 37), kommen nun doch Bennsche Ikarus-Höhenflug-Motive oder – um auf den lyrikgeschichtlichen Ursprung solcher Motivik für die Moderne zu verweisen – Baudelairesche Elevationsmotive ins Spiel. Sie geben sich noch hinter der Folie des heutigen Jargons zu erkennen: man bleibt nicht auf dem Teppich und begnügt sich nicht mit den Steckbriefen der Identität die in einer Zeit der handlichen Nachschlagewerke der Informationsschemata und der ideologischen Etikettierung feilgeboten werden.
Freilich fordern Entzug und Verweigerung ihren Preis. Der Blick aus der Vogelperspektive bewahrt die Kritikfähigkeit, aber er entrückt den Sehenden auch, macht weltfremd. Ein assertorisch redendes Ich, das an Stelle des bisherigen „wir“ die Rede an sich reißt, erhebt mit seinem alltäglich-banalen „verrückt“ (11) Einspruch gegen das Pathos des Ikarus. Auch Baudelaires Albatros-Dichter wirkte am platten Boden „comique et laid“, weil ihn seine riesigen Flügel am Gehen hinderten. Das Abseitig-Versponnene der Identitätssuche, die allen anderen zeitgenössischen Identitätsangeboten hohnspricht, weil sie diese der unbemerkten Entfremdung verdächtigt, wird danach noch einmal besonders kraß gekennzeichnet. Die okkultistisch-theosophische Vorstellung vom Astralleib, einem den physischen Körper durchdringenden und transzendierenden Geistleib, verspricht eine ,höhere‘ ,sternenhafte‘ Identität. Die Höhenmetapher des Eingangs wird weitergeführt und zugleich parodiert. Der Geistleib erhält lächerlicherweise physische Extremitäten; diese enthüllen jedoch mehrfachen metaphorischen Sinn und leiten nicht nur zur Musik, sondern auch zur Metrik über. Der metaphysische Astralleib wird auf die Ästhetik und auf die musikalisch-poetische Gestalt des Gedichtes selbst zurückbezogen:

vierfüßig – vierzigzehig (14). 

Damit beginnt sich auch jener merkwürdige Gegensatz von Ich und Wir, der mit der Formulierung „Ich sage“ (11) einsetzt, aufzuhellen. Möglicherweise stehen sich ein ,empirisches‘ und ein ,poetisches‘ Ich gegenüber. Wie immer man aber diesen Gegensatz weiter erklären mag, mit Rühmkorf selbst im Sinne von „aufklärerisch“ und „anarchistisch-vitalistisch“ (Arnold, S. 119/127), oder mit seinen Interpreten im Sinne von Aufklärung und Artistik, Vernunft und Leidenschaft (Reich-Ranicki) – völlig befriedigend sind die begrifflichen Formulierungen nicht. Jedenfalls handelt es sich um ein plurales Wir, um einen „Wechselbalg von Persönlichkeit, halb der Natur entsprungen, halb ins Kostüm verwickelt“ („Über notwendige neurotische Verkantungen“, in: Haltbar, S. 97). Unter den ,Bodenbedingungen‘ der standardisierten Verhaltens- und Ausdrucksweisen mag ein solches Wir in der Tat als nicht zurechnungsfähig, als schizoid gelten. Die Erinnerung an Rimbauds Satz „Je est un autre“ drängt sich auf, aber auch der Wortsinn des erstrebten ,Individuums‘, das Ungeteilt-Substantielle und daher das Schöne. Der Sehnsucht danach wird in der Schlußstrophe das alte romantische Symbol beigegeben, die Loreley. Die zauberische Felselfe, Inbegriff von Faszination und Betörung, sitzt zwar ,leicht deplaziert‘; denn die reine elementare Natur des Stromes, auf welcher der Schiffer ihr widerstandslos zutreibt, gibt es im Zeitalter der weltweiten ökologischen Gefährdung nicht mehr. Aber auch in der umgekippten heutigen Welt ist die Idee von Schönheit und Einheit unverzichtbar und gefahrbringend.1

Trotz aller ironischen Brechung hat es daher mit dem „Astralleib“ (13), der in anachronistischer Weise die „andere Seite“ des Ich andeutet, seine Richtigkeit: dieses andere Ich bleibt dem Singen der Loreley zugänglich, obwohl das Alltags-Ich, mehr oder weniger gewaltsam, immer wieder sein Verdikt über die Lyrik spricht. Es bleibt ihm aber letztlich nichts anderes übrig, als die gefährliche Lage zu erkennen und anzuerkennen, und zwar in Gestalt eines lyrik- und bewußtseinsgeschichtlichen Resümees. Wenn Kunst nach wie vor ein elementares menschliches Bedürfnis darstellt, wie Rühmkorf in „Kein Apolloprogramm für Lyrik“ ausführt (Walther, Klopstock und ich, S. 188), wenn der „Akrobatikakt“ der Identitätssuche „als Überlebensnummer“ zu verstehen ist (ebd., S. 139), so kann der Lyriker seinem Geschäft nur mit Todesverachtung nachgehen, und das Mißlingen des „Sturzfluges“ (8) würde ihn zutiefst gefährden. Für die Absolutheit dieses Anspruches, der sowohl ein ästhetischer als auch ein existentieller ist, steht die Metapher der Todesbedrohung in der Schlußzeile. Den Gegenpol bildet der Vorläufer Heine, der selbst aus der Position der metaphysischen Ungesichertheit und der persönlichen Zerrissenheit heraus neue Formen lyrischen Sprechens geleistet und der Geschichte der Gattung eine neue Epoche eröffnet hat.

Diese lyrikgeschichtliche Positionsbestimmung klingt nun freilich noch sehr allgemein, und fast mag es so scheinen, als gehe es doch in erster Linie um ein Wiederaufnahmeverfahren in dem Prozeß, der dem lyrischen Ich nach Ablauf der fünfziger Jahre gemacht worden ist. Indessen kann die Zeitansage des Gedichtes wesentlich genauer bestimmt werden, wenn man den Tatbestand näher ins Auge faßt, daß es, fast in der Form einer Reprise, auf programmatische Vorgaben aus Rühmkorfs früheren Jahren zurückgreift. Die eine der rückläufigen Linien führt vom Namen des poetischen Schutzpatrons zu dem „Heinrich-Heine-Gedenk-Lied“ (1959; Gesammelte Gedichte, S. 44), die andere von der Hochseil-Metaphorik zu dem Gedicht „Waschzettel“ (1967; Gesammelte Gedichte, S. 106).
Das „Gedenk-Lied“ spielt auf den politischen Dichter Heine an, der an „Deutschland in der Nacht“ denkt („Nachtgedanken“, in: Neue Gedichte) und der „die Konterbande“ die er „im Kopfe stecken“ hat (Deutschland. Ein Wintermärchen, Caput II), in das von Metternich reglementierte Deutschland schmuggelt. Angesichts der sich staatlich verfestigenden Zweiteilung Deutschlands sowie der das ganze Jahrzehnt bis 1960 prägenden weltpolitischen und deutschlandpolitischen Konfrontation heißt es: 

Was schafft ein einziges Vaterland
nur so viel Dunkelheit?!
Ich hüt mein’ Kopf mit Denkproviant
für noch viel schlimmere Zeit.

Darin steckt ein politisch-aufklärerisches, aber auch ein poetisches Programm. Die Berufung auf den Heine der vormärzlichen politischen Versdichtung bedeutet die Absage an die in den fünfziger Jahren herrschende Lyrikrezeption und Lyrikauffassung, die, abgesehen von Benns Rede, noch einmal 1956 in der Lyrik-Konzeption Hugo Friedrichs eine starke Stütze gefunden hat (Die Struktur der modernen Lyrik). Der Lyriker Heine ist in diesem Zusammenhang eine Randfigur. Aber auch von der kritischen Position Adornos aus wird die Lyrik Heines, bei aller Anerkennung seiner sonstigen Bedeutung, abgewertet und behält gegenüber dem radikalen Neuanfang Baudelaires allenfalls ein historisch-symptomatisches Interesse. In mehr als einem Sinne stellt sich Rühmkorfs „Gedenk-Lied“ gegen die Zeit und nimmt die kommende Wende der sechziger Jahre schon vorweg. Es wendet sich in erster Linie gegen einen emphatischen Lyrik-Begriff, dem eine für Deutschland bezeichnende Auffassung von der Zweiteilung der Welt, in eine kulturell-ästhetische und eine öffentlich-politische, entspricht; nicht weniger aber wehrt es sich gegen einen Kunstbegriff der reinen Negativität, der auf seine Weise eine Trennung der Sphären vollzieht, schließlich aber auch gegen ein Programm von konkreter Poesie, das in Rühmkorfs Augen mit der Betonung des Konstruktiv-Formalen gegenüber dem sprachlichen Inhalt eine Trennung von der Welt vollzieht und in ein experimentelles Séparée ausweicht. Es gibt für ihn keine experimentelle Dichtung ohne Engagement; dies hat Marcel Reich-Ranicki richtig gesehen („Laudatio“).
Aber auch die Umkehrung dieses Satzes gilt: es gibt kein Engagement ohne Experiment, und dies wird knapp ein Jahrzehnt später aktuell, nachdem „Gebrauchslyrik“ im ideologisch-politischen Sinn zur dominierenden Erscheinungsform geworden ist. Auf dem Waschzettel wird dem Leser mitgeteilt, Rühmkorfs pseudonymes Alter ego, Leslie Meier, bekannt aus Akzente, sei „inzwischen natürlich auch aufs Hochseil übergetreten“, zeige sich berührt von der „tragisch verlorenen Einheitlichkeit“ des Individuums und übe sich in der Balance „zwischen Krisen- und Klassenbewußtsein“ (Gesammelte Gedichte, S. 106). Diese Übertrittserklärung bedeutet eine Kampfansage an die politische Lehr- und Agitationslyrik. Sie besagt, daß das Identitätsproblem keineswegs mit ideologisch-theoretischen Positionsbestimmungen zu lösen ist, schon gar nicht, wenn die ideologische Front mit dogmatischen Ansprüchen durchsetzt ist und in ideellem Purismus die reale Lage völlig fehleinschätzt, und wenn das funktional gewordene, Handlungsanweisungen erteilende Gedicht sich so gut „zu Markte“ tragen läßt, wie das im Zeichen von Massen-Veranstaltungen wie „Lyrik und Politik“ möglich geworden ist (Walther, Klopstock und ich, S. 184). Das Gedicht ist somit von der Auflage, Kampfinstrument zu sein, entbunden; es wird zum Austragungsort jener Konflikte des Bewußtseins, die ideologisch gerade nicht zu bereinigen sind, da die Frage nach der Bedeutung von Ideologie für die Identitätsfindung selbst zur Debatte steht. Dieses erste „Hochseil“-Gedicht, noch in der Aufstiegsphase der Studentenbewegung publiziert, nimmt vorweg, was sich nach deren Abbruch als Grundproblem herausstellt und – in Ermangelung einer ästhetisch fundierten Konzeption – zu einer Welle fragwürdiger Katzenjammer- und Bewältigungslyrik führt. Für Rühmkorf stehen Kunst und Poesie nun „stellvertretend für einen riesengroßen Risikobereich“, als Symbol „für eine ganz allgemeine Depressions- und Gefährdungszone“ (Walther, Klopstock und ich, S. 139).
Mitte der siebziger Jahre, als die sogenannte neue Innerlichkeit dem Übertritt Leslie Meiers gefolgt ist, wenn sie ihn auch kaum erreicht hat, steht erneut eine Abgrenzung an. Gegen die billige Innerlichkeit, die noch das prosaischste Lamento für ein Gedicht ausgibt, wird die „Hochseil“-Metaphorik erneut aufgeboten. Ihre ästhetischen und poetologischen Implikationen werden um so stärker hervorgehoben, je höher die allgemeine Gefährdung eingeschätzt wird, welche von totalitär werdenden Kommunikationsansprüchen in allen Bereichen des Lebens von den Massenmedien bis zu den Wissenschaften ausgeht. Das ästhetische Gegenprogramm, im Gedicht mit „vierfüßig, vierzigzehig“ metonymisch angedeutet, wird im Nachwort „Kein Apolloprogramm für Lyrik“ mit Begriffen wie „archaische Mitteilungsform“ der Verskunst und „Sphäre magischer Partizipation“ erläutert. Wie mißverständlich dies auch immer sein mag, deutlich ist jedenfalls, daß Rühmkorf das Gedicht allen einfachen Mechanismen von Kommunikation, die ihrerseits nur Signum extremer Entfremdung sind, entziehen will, in der Einsicht, daß Kommunikation nur in dem Maße bedeutungsvoll für ein Subjekt und seine Ich-Findung sein kann, als diesem Aneignungsarbeit abverlangt und Verständnis- bzw. Selbstverständnishürden im Sinne einer „Ausnahmesituation“ zugemutet werden (Haltbar, S. 98).
Aber noch eine zweite Front öffnet sich in dem Gedicht „Hochseil“: das nach wie vor gängige, nach Rezept herzustellende „epigrammatische Lehrgedicht“ („Kein Apolloprogramm für Lyrik“, in: Walther, Klopstock und ich, S. 186), das sich, bei aller aufklärerischen Absicht, sprachlich und gedanklich oft kaum von der Überredungspointe von Werbeslogans unterscheidet. Die erneute Berufung auf Heine hat gemäß der geschichtlichen Entwicklung einen neuen Sinn. Denn dieser Heine ist selbst in den zwei Jahrzehnten seit dem „Gedenk-Lied“ nicht nur in breitem Maße als politischer Autor und Lyriker rezipiert, sondern auch von jeder sich fortschrittlich gebenden ideologischen Position in Anspruch genommen und eingemeindet worden, nicht selten unter Preisgabe aller Nuancen von Werk und Person. Rühmkorfs Heine-Beschwörungen haben ihre eigene dialektische Konsequenz. Sie tragen der Entwicklung der Lyrik, gerade ihren Wendungen und Brüchen, Rechnung, aber nicht weniger der Zwiespältigkeit im Werk Heines, der „auf der Schneide zweier Zeitalter höchst disparate Positionen bezogen“, aber „alle Antinomien und Widersprüche seines Säkels in ästhetische Sensationen umzumünzen verstanden“ habe (Kunststücke, S. 100). Im Hinblick auf die politisch motivierte Heine-Hausse und das trivial gewordene lyrische Engagement der siebziger Jahre verweist das „Hochseil“-Gedicht daher auf den Dichter der „Loreley“.
Es ist kein Zufall, daß in dem Text, der im Namen Heines die vielfach mißbrauchte und geschmähte Loreley rehabilitiert, sich die literarischen Anspielungen auf die symbolistische Lyriktradition häufen. Die wichtigsten Motive sind genannt worden. Aber selbst noch die schnoddrig formulierten Gegenzeilen gegen diese Tradition, die den Lyriker und seinen Leser der Verrücktheit zeihen, formulieren eine „Wahlverwandtschaft“, die auch Baudelaire bewußt war und die er in seiner an den Leser gerichteten Vorrede zu Les Fleurs du mal in die Apostrophe faßte: „Hypocrite lecteur, – mon semblable, – mon frère!“. Schließlich besteht auch noch Gemeinsamkeit in dem Gesichtspunkt, daß in einer Zeit, in der das Tun des Lyrikers nicht mehr in verbindlicher Weise metaphysisch oder religiös begründet werden kann, die Gestalten der Vorläufer die Rechtfertigung und Beglaubigung darstellen. „Les Phares“ ist Baudelaires Chiffre für eine solche Reihe von künstlerischen Instanzen; Walther, Klopstock und ich lautet sie, wenn der Literaturwissenschaftler Rühmkorf das Wort führt; ist es der Lyriker, so könnte die Reihe abgewandelt lauten:

Heine, Baudelaire und ich. 

Die Frage ist freilich, ob diese Zusammenstellung nicht etwas gewagt ist, zumal Heine und Baudelaire, zumindest nach Adornos Analyse, ja lyrikgeschichtliche Gegenwelten vertreten. Die Antwort wäre mit Rühmkorfs Poetik der Parodie, die ein literaturwissenschaftlich voll entwickeltes Konzept (vgl. Theodor Verweyen: Theorie der Parodie) darstellt, zu geben und an einer Reihe von Gegentexten, vor allem auf Gedichte des 18. Jahrhunderts, zu demonstrieren. Rühmkorf weist der Parodie „die Vermittlerrolle“ zwischen Dichtungstradition und Gegenwart zu, sieht in ihr die Möglichkeit einer „Überlieferung als aktiven Vorgang“ (Arnold, S. 122). Der ,Gegengesang‘, der die erlesenen Zitate des Alten mit den unbereinigten Sprachsedimenten des heutigen Jargons konfrontiert, ist keine einseitig abwertende Verfahrensweise. Zwar hat sich das, was einmal historisch gültig formuliert worden ist, in seiner „Bedenklichkeit“ für das Heute auszuweisen; aber umgekehrt wird auch die heutige Sprachwelt dem ehemaligen Anspruch ausgesetzt. In „Hochseil“ ist das Parodie-Prinzip nur andeutungsweise sichtbar. Dennoch ist der sprachliche Rahmen erkennbar. Sowohl die alte Lyrik als auch der neue Jargon sind im Modus des Zitates oder Quasi-Zitates präsent. Das Gedicht hat keine primär geprägte Sprachsubstanz, sondern gewinnt diese gleichsam aus Geliehenem. „Nichts eratmet, alles angelesen / siehe, das bist du“, formuliert Rühmkorf selbst („Auf was nur einmal ist“, in: Haltbar, S. 65). Die historische Signatur dieser Dichtung besteht darin, daß sie ihre Authentizität paradoxerweise solchen Elementen verdankt, die in ihrem Sprachfluß second hand sind. Dies behindert ihre Aufschwünge nicht im geringsten, vorausgesetzt die ästhetischen Maßstäbe für die Konfrontation des Heterogenen sind hoch genug angesetzt. Allerdings, die Fallhöhe des Ikarus oder die Baudelaireschen Höhen „par delà les confins des sphères étoilées“ („Élévation“) erreicht sie nicht mehr, nur noch die Höhen der Zirkuskuppel, und der Fliegende ist auch nicht mehr „mon esprit“ (Baudelaire), sondern ein schlecht definierbares gespaltenes Wir, für das metaphorisch der Gaukler eintritt. Am künstlerischen und persönlichen Anspruch wird aber deswegen kein Abstrich gemacht. Jeder andere kann sich einmal verrennen, irren, vergreifen; cnur der Gaukler muß unfehlbar sein“ („Zirkus“, in: Walther, Klopstock und ich, S. 179). Dies könnte fast eine Heinesche Formulierung sein, und so nimmt es nicht wunder, daß Heine schon 1962 als „begnadeter Gaukler“ (Kunststücke, S. 100) bezeichnet wird, der sich zwischen allen Ismen seiner Zeit und dabei ständig zwischen „Artistik und Veränderungswillen“ bewege (vgl. Verweyen, S. 86–91). Die Schwebelage des Zwischen erinnert an „Hochseil“ und deutet an, wie stark sich Rühmkorf auch hier in Heine wiedererkennt. Daß er sich letztlich als Statthalter Heines in heutiger Zeit versteht, verrät eine Strophe des Jahres 1979 (Haltbar, S. 44), in der mittels syntaktischer Unbestimmtheit ein schwebender Übergang hervorgerufen wird: 

Ich reise mit Gedichten umher,
paarmal rundumerneuert
seit Achtzehnhundertichweißnichtmehr
Heinrich Heine die Lore beleiert.

2

Hans-Peter Bayerdörfer, aus Walter Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Band 6 Gegenwart, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1982

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