Hans Raimund: Auf einem Teppich aus Luft / On a carpet made of air

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Hans Raimund: Auf einem Teppich aus Luft / On a carpet made of air

Raimund-Auf einem Teppich aus Luft / On a carpet made of air

ICH VERSCHWINDE auf dem Teppich aus Luft
Auf dem Teppich aus Luft
An die Reling der Fransen gelehnt … Ich roll
Wann ich will     übern Rand und falle     wie toll

Weit weg – von wo? – auf die Deichsel des Karrens
Auf die Deichsel des Karrens
Ins Wiehern der Pferde     ins Hecheln der Hunde
Ins Lauern der Geier … Und keine Kunde

Von mir dringt mehr durch – zu wem? – … Ich verschwinde
Ohne HüteLüften     KüsseWerfen     Winken … Ich verschwinde
Im Flug gebeutelt von Böen     schwebend
Keine Frage stellend – wem? – keine Antwort gebend

– Auf welche Frage? –

 

 

 

Vorwort

Die Erlauf ist ein Fluss von siebzig Kilometern Länge, der, aus dem Süden kommend, bei Pöchlarn in die Donau mündet. Im niederösterreichischen Petzelsdorf bei Purgstall an der Erlauf ist der Schriftsteller Hans Raimund am 5. April 1945 geboren worden. Die offizielle Web-Seite der Gemeinde, die heute knapp 5.300 Einwohner zählt, führt ihn neben zwei verdienstvollen Bürgermeistern als eine von drei „Persönlichkeiten“ an, auf die Purgstall stolz verweisen kann. Petzelsdorf hat es noch auf keinen eigenen Wikipedia-Eintrag gebracht, aber es scheint mir nicht unpassend zu sein, dass Raimund, der sich später bevorzugt in Grenzregionen ansässig machte und eine randständige Position im Literaturbetrieb einnehmen würde, nicht in der Marktgemeinde Purgstall selbst, sondern in einer von heute 31 zu dieser zählenden Ortschaften das Licht der Welt erblickte.
Welcher Welt? An diesem 5. April tobte in Wien bereits der Straßen- und Häuserkampf zwischen den letzten Einheiten der Wehrmacht und den ersten der Roten Armee, sodass sich eine Woche später die Hauptstadt Österreichs für befreit erklären und sich nach zwei weiteren Wochen die „provisorische Regierung“ mit der „Österreichischen Unabhängigkeitserklärung“ an die Bevölkerung wenden konnte. Bei allen Zufälligkeiten des Lebens haben dieser Zeitpunkt und Ort der Geburt vieles im Voraus bestimmt, was dem Autor später widerfuhr und womit er sich zeitlebens beschäftigte. Mit dem Nationalsozialismus und seinem Fortleben in den Köpfen und Herzen der Menschen hat er sich in Erzählungen, Reflexionen, Gedichten wiederholt auseinandergesetzt, und zwar meist mit Blick auf die Gestalt seines Vaters, der zuerst Polizist, dann Soldat, endlich Markthelfer war und, nach eigenem Bekunden, bis ins hohe Alter Nationalsozialist geblieben ist. In seinem Bericht „Totstellen“, den Erich Hackl als den „ehrlichsten und aufwühlendsten“ aller Vatertexte der letzten Jahrzehnte bezeichnete, hat Raimund mit nüchterner Verzweiflung dargelegt, was diese Herkunft für ihn bedeutete: Stellvertretend musste er jene Scham durchleben, zu der der Vater, einsichtslos bis in den Tod, weder willens noch fähig war.
Die Familie Raimund ist nicht lange in Petzelsdorf geblieben und der Autor in Wien aufgewachsen, in den „Höfen“ des 4. Bezirks, die er in der Erinnerung noch einmal ausschreiten und im Gedichtzyklus topographisch und sozial vermessen würde: Wie nebenhin erschuf er dabei ein atmosphärisch dichtes Bild der ersten Nachkriegsjahre, die noch vom Mangel, nicht von dem nach fünfzehn, zwanzig Jahren erreichten Wohlstand geprägt waren. Obwohl er bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr in Wien wohnte, ist Raimund Petzelsdorf in gewissem Sinne treu geblieben: in der Zuneigung, die er für die abgewiesene, missachtete, für rückständig erklärte Provinz verspürt, für Orte, die abseits der touristischen und literarischen Hauptrouten liegen, aber ebenso in der manchmal geradezu barsch ausgedrückten Abneigung gegen alles Prächtige und Wohlangesehene, handle es sich dabei um Orte und Regionen, künstlerische Strömungen, soziale Bewegungen oder die Persönlichkeiten, die diese repräsentieren. Wohin er sich auch wandte, mit einer gewissen Selbstverständlichkeit ist er immer an einem Rand gelandet: In den siebziger Jahren im Waldviertler Speisendorf nahe der tschechischen und 1997 im burgenländischen Hochstraß nahe der ungarischen Grenze; wie Petzelsdorf zum bedeutenderen Purgstall zählt auch Hochstraß – wo er seit siebzehn Jahren mit seiner Frau Franziska lebt – zu einer größeren Gemeinde, zu dem für sein Festival der Kammermusik berühmten Lockenhaus. Dazwischen, von 1984 bis 1997, lebte er in der Nähe von, aber eben nicht in Triest. Obwohl er sich diese Stadt ausdauernd ergangen und ihre Literatur wie wenige andere erlesen hat, etliche Triestiner Autoren ins Deutsche übersetzte und auf andere respektvoll und kollegial in Büchern und Zeitungsartikeln hinwies, ist er selbst in Triest nie heimisch geworden; die gerne mit ihrer Weltoffenheit renommierende Hafenstadt hat in Wahrheit etwas Abweisendes, Ausschließendes und macht es denen, die aus der Ferne oder, wie die Slowenen, aus dem nahen Hinterland kommen, nicht leicht, gehört, zur Kenntnis genommen zu werden. Raimund lebte in seinen „Triestiner Jahren“ in Duino, dem durch Rilke mythisch gewordenen Städtchen, das „den aus Niederösterreich gebürtigen Schriftsteller“ nun tatsächlich, um noch einmal die zeitgemäße digitale Selbstpräsentation einer Gemeinde zu beachten, zu den gezählten vier bedeutenden „Söhnen und Töchtern der Gemeinde“ rechnet.
In einer autobiografischen Notiz hat Raimund einmal die Straßen der Wiener Vorstadt beschrieben und dabei Glück und Schönheit des Gewöhnlichen gepriesen:

Die herzzerreißenden sonnigen Sonntagnachmittage im Frühsommer: offene Fensterhöhlen, aus denen Kühle strömt, Küchengerüche im Stiegenhaus – Zwiebel, Schweinsbraten, Rindsuppe… im Lichthof ein loses Klofenster, das im Wind hin und her schlägt, das Echo streitender Stimmen.

Es sind nicht die epochalen Ereignisse, denen dieser Autor nachspürt, der das Glück wie das Verhängnis vielmehr in scheinbar nichtigen Begebenheiten erkennt, wie er auch den größeren, den sozialen Zusammenhang der Dinge nicht selbstherrlich behauptet, sondern in den unscheinbaren Gesten, den alltäglichen Riten der Menschen entdeckt und festhält.
Raimund ist kein Verächter der berühmten Städte und ihrer viel gerühmten Plätze und Sehenswürdigkeiten – über das Glück und Befremden, in Amsterdam, Lissabon, Venedig unterwegs zu sein, hat er bezaubernd schöne Gedichte geschrieben –, doch weit häufiger sind es die kleinen Ortschaften und in den größeren die unbeachteten Viertel und Winkel, die er sich erwandert und über die es ihn zu schreiben reizt. Gleich wo er lebt, macht er sich die Fremde als ausdauernder Spaziergänger zu eigen. In einem autobiografischen Text mit dem aufschlussreichen Titel „Landnahme“ – er ist in dem umfangreichen Band Das Raue in mir veröffentlicht, der 2001 Aufsätze und Essays aus zwanzig Jahren sammelte – entrichtet er seinem treuesten Begleiter auf diesen Wegen den Tribut, dem Hund, der ihm als „beispielhafter Repräsentant eines urtümlichen Regionalismus“ lieb ist. Nein, nicht nur lieb, er rühmt die Kreatur gar als den ewigen Lehrmeister, dem der Dichter viel verdanke:

Der Hund, der einen beschränkten Lebensraum, ihn auf seine Weise auszeichnend, markierend, ein für alle Mal absteckt, hat mir als Mensch und Autor einiges beigebracht: die instinktive Bescheidung auf einen überschaubaren Bereich und die tägliche, unermüdliche, nie gelangweilte, nie routinierte, gründliche Auseinandersetzung damit. Das lange geduldige Schnuppern der Hunde lehrte mich den ,langen geduldigen Blick‘ des Lyrikers auf die Objekte…

In dieser wie nebenhin gesprochenen Bemerkung hat Raimund seine eigene Poetik entworfen. Was für ihn wichtig ist: die Konzentration auf einen konkreten Ort, ein bestimmtes Geschehnis und die Bereitschaft, sich mit diesen so lange auseinanderzusetzen, bis die Dinge gewissermaßen von selbst zu sprechen beginnen. Erst der „lange geduldige Blick“, wie der Titel eines frühen, in der poetischen Lakonie besonders geglückten Gedichtbandes aus dem Jahr 1981 lautet, fördert Eigenheiten des Objekts zu Tage, die sonst meist übersehen werden, und dieses Programm der Langsamkeit und Genauigkeit zu erfüllen, braucht es die Bereitschaft zur Wiederholung, die der Autor dem Hund abschaut, der täglich dasselbe Revier mit der gleichen, sich nie erschöpfenden Neugier erkundet. Die Geduld, die der Autor als Voraussetzung für die poetische Neuerschaffung der Welt im Gedicht aufwenden muss, sie ist gewissermaßen eine berufliche Anweisung, die sich der Lyriker selber gibt; weniger als Lebenslehre gemeint, mit der sich Hans Raimund in ruhige Beschaulichkeit schicken würde, ist sie eine Art von Fertigkeit, die man in der poetischen Selbsterziehung zu lernen hat, weil sie zum Handwerk des Schreibens gehört.
Was ist es, das also geduldig erkundet werden muss, damit es in seiner eigenen Sprache zu sprechen beginnen kann?

Ich werde wohl weiterhin über die ,einfachen Dinge‘ Gedichte schreiben, über das Haus, die Bäume, die Tiere… in einer ,einfachen Sprache‘, jedenfalls ohne postmoderne Exkurse.

Die einfachen Dinge, die einfache Sprache: Was Raimund von sich verlangt, ist nicht die Einübung in eine erzwungene Beschaulichkeit, die ihm ohnedies nicht glücken würde. Es ist vielmehr ein poetisches Programm mit sozialen Implikationen: Der Autor wendet seinen Blick von den großen Herrschaften, den vermeintlich wichtigen Ereignissen ab und anderem zu, den Dingen am Rande, den Menschen in ihrem Alltag… Nicht weil er das Einfache mit dem Simplen, Eingängigen, leicht Verständlichen identifizierte, bezieht er sich so emphatisch darauf, sondern weil er überzeugt ist, dass das Einfache noch lange nicht entdeckt und weder in seinem Geheimnis noch mit seiner Schönheit erkannt wurde.
Von den einfachen Dingen und seinem fortgesetzten Versuch, sie literarisch zu würdigen, hat Raimund viel in den zwei Bänden gesprochen, die er bisher aus seinen „Hochstrasser Heften“ veröffentlichte. Ein Band, Trauer träumen, besteht aus langen Poemen und poetischen Prosastücken, der andere, Vexierbilder, vornehmlich aus Aufzeichnungen, tagebuchartigen Notaten, essayistischer Prosa. Offenbar entwickelt Raimund sein Schreiben in den letzten fünfzehn Jahren aus einem journalartigen Projekt, einer Art von permanenter autobiografischer Selbstvergewisserung, zu der ihm das Gedicht genauso taugt wie die chronikalische Aufzeichnung. Als selbstreflexiver Autor, der sich über das, was er tut, beständig Rechenschaft zu geben versucht, macht es sich Raimund nicht leicht mit sich selbst. Oft bilanziert er Enttäuschungen und wirkliche oder halluzinierte Niederlagen, ohne dass er darüber doch ein doppeltes Vertrauen verlieren würde: Dass die Welt es wert ist, im Gedicht, in der Literatur erkundet zu werden, und dass die Literatur, die Sprache geeignet seien, diese Auseinandersetzung zu leisten. Erst dieses doppelte Vertrauen befähigt ihn auch dazu, als Übersetzer in fremde Welten und fremde Sprachen einzutauchen. Raimund übersetzt aus dem Englischen, Französischen, Italienischen und dem „Triestino“, jener Stadtsprache, die in den Versen Virgilio Giottis kein dialektales Phänomen mehr ist, sondern eine eigene artifizielle Hochsprache darstellt, die Raimund zuletzt in dem Band Kleine Töne, meine Töne in einem hochmusikalischen Deutsch zum Klingen brachte.
Alle Dichtungen und Nachdichtungen Raimunds zeugen von diesem doppelten Vertrauen: Dass es sich lohnt, die Welt an jedem beliebigen Ort mit dem langen geduldigen Blick zu betrachten – und dass die Sprache, die Sprachen vor der Aufgabe nicht versagen, Welt abzubilden und Welt neu zu erschaffen. Dieses Vertrauen hat er in den 35, 40 Jahren, die vergangen sind, seit er seine Gedichte, Kurzprosa, Essays zu veröffentlichen begann, nie eingebüßt. Und es überträgt sich sofort auf die Leser, die bei jedem einzelnen Gedicht Hans Raimunds fühlen, dass es in ihm ums Ganze geht und es nicht heißt, ein im Freilauf leierndes artistisches Spiel zu bewundern, sondern sich selbst zu dem, was zu lesen ist, in Beziehung zu setzen, ja, es in der Lektüre erst zu vollenden. In einer knappen poetischen Selbstaussage hat Hans Raimund in den Hochstrasser Heften lapidar den Sachverhalt vermerkt, dass die Literatur den Leser braucht, sogar in dreifachem Sinne braucht:

Der Text: die Partitur. Der Leser: das Instrument, der Spieler und Hörer.

Der Text als Partitur, das trifft auf wenige Autoren so zu wie auf den Musiker unter den österreichischen Lyrikern unserer Zeit. Raimund hat ja nicht nur Germanistik und Anglistik, sondern auch Klavier studiert und zudem Komposition, Tonsatz und Dirigieren. Seine Gedichte, die eine Vielfalt an Strophen- und Versformen erproben, mögen Germanisten reiches Anschauungsmaterial dafür bieten, wie ein Autor der Gegenwart subtil an die Traditionen abendländischer Lyrik anspielt und sich diese, indem er sie zugleich verändert und um neue Formen erweitert, auf bisher ungehörte Weise zu eigen macht. Näher als über die literaturwissenschaftliche Analyse wird man der Eigenart von Raimunds lyrischem Werk aber vielleicht kommen, wenn man sie in ihren musikalischen Zusammenhängen zu hören, zu verstehen versucht. Wenn er einen zugleich strengen und ausschwingenden Zyklus „Choral Variationen“ nennt, dann versucht er in ihm tatsächlich nichts Geringeres, als sich die Form des Bach’schen Choralvorspiels in der sprachlichen Struktur des Gedichts anzuverwandeln. Von Bach zu Eric Satie reichen die musikalischen Verweise auf Orgel- und Klavierstücke, die sich in einzelnen Gedichten und in etlichen Zyklen finden, wobei die Musikalisierung der Sprache nicht auf eingängige Rhythmik oder gar auf rhythmische Rezitierbarkeit zielt. Es ist das Fließende und sich im Fließen stetig Verändernde der Musik, das bei Raimund zur Sprache wird, und zur modernen Musik, wie er sie kennt und sie in seiner Sprache zum Klingen zu bringen versucht, gehört auch der Bruch, ein vorsätzliches Brechen des vertrauten Taktes, der angestimmten Melodie. Der Wohlklang, den der Lyriker Raimund nicht preiszugeben bereit ist, er ist nur zu haben, wenn er das „Raue in mir“ und in der Welt nicht überdeckt.

Karl-Markus Gauß, Vorwort

Vom Reisen wider Willen

– Ein autobiografisches Nachwort. –

L    WIE LISSABON wie London
Ljubljana wie Lofoten…
Wie Lhasa Linz wie Lockenhaus…
Ein Ort wie eben alle Orte
– Mit welchem Buchstaben sie auch beginnen –
Wo ich bin und wo du nicht bist…

(…)

Ich reise sinnlos
Der Leib ist hier
Der Sinn die Sinne
Sind bei dir

………………………………..

L    wie Lissabon… wie Lübeck
Lima Liesing wie Livorno
Wie Leningrad wie Laab im Walde…
Ein Ort wie eben alle Orte…
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaNein

L    wie Liebe
Die ich erst
Getrennt von dir
So richtig spür

Ich bin ein widerwilliger Reisender. Jedenfalls ein miserabler Reisender. Reisend unterwegssein ist ein Ausnahmezustand für mich, also ziemlich unerträglich. Schon einige Zeit, bevor ich mich zu einer Reise aufmachen muss, bricht mein Nervensystem zusammen: der ohnehin heikle Verdauungsapparat streikt gänzlich, eine jähe Verkühlung blockiert die Atemwege, geheime Bänder im Knie springen wieder einmal hin und her, ein Hexenschuss legt mich vollends lahm, Schlaflosigkeit und Alpträume quälen mich…
Das körperliche Unbehagen ist Resultat eines vagen, aber alles durchdringenden Angstgefühls. Es macht sich in Aggressionen gegen Mensch und Tier und Ding in meiner Umgebung brutal Luft. Alles in mir wehrt sich gegen das Neue, das Ungewohnte, Unvertraute, das die Reise mit sich bringt, gegen die Ortsveränderung, die fremden Menschen, das fremde Essen, die Kälte oder die Hitze, den Regen oder die Sonne, gegen die mir so unnötig erscheinende Entfernung von denen, die ständig um mich sind, Frau, Kind, Hund, Freunde, Bekannte… – und sei es auch nur für wenige Stunden:

ES IST NUR EINE FRAGE VON STUNDEN
Sagt dein Auge     Schwester
Im Spiel     Pass auf beim Fahren
Sagt deine Hand     Komm wieder …
Und suchst du mich     so findest du mich
Unterm Apfelbaum     Dort schau ich ein
So lange     bis du meinen Namen rufst

Ich gönn dir gerne diese Atempause
Wohin ich fahre     fahre ich stets heim
Zu dir…

Vor jeder Reise bin ich unleidlich, für alle um mich. Auch für mich selber. Bis zum letzten Augenblick leistet etwas in mir Widerstand. Über die Abreise zu einem Dichtertreffen in Lissabon im Jahr 1996 berichte ich:

Schon vor einem halben Jahr erreichte mich die offizielle Einladung. Ich freute mich: Lissabon, die Stadt Pessoas, der Rossio, das Café Brasileira, das Mosteiro das Jeronimos in Belém! Eine Woche vor der Abreise packte mich aber die gewohnte Reiseunlust. Ich wurde krank. Verärgert, mich derart für den Literaturbetrieb wieder einmal als unbrauchbar zu erweisen, versuchte ich, mich zu disziplinieren. Und am Tag der Abreise war ich auf dem Flughafen von Triest, in Ronchi – eine Stunde  n a c h  dem Abflug der Maschine! Alles umsonst: im Reisebüro in Gorizia stempelte man ein „involuntary rebooking“ auf die Flugkarte. Am nächsten Tag flog ich.

(Ich muss nicht betonen, dass der heutige Prestige-Tourismus in möglichst weit entfernte, exotische Länder per Flugzeug meinem Wesen völlig fremd ist. Für mich, dem mit fortschreitendem Alter das Gehen, der Schritt, als die meinem Wesen gemäßeste Fortbewegung erscheint, bereiten schon allein die durch die großen Entfernungen erzwungenen, unmenschlich schnellen Transportmittel Unbehagen. Ich nehme leichten Herzens davon Abstand, sie zu benützen.)
Und doch bin ich davon überzeugt – und immer mehr, je älter ich werde –, dass ich ein Mensch bin, der den starken, aber unterdrückten Drang in sich hat, immer unterwegs zu sein. Ich habe den Verdacht, ich bin ein durch anerzogene Sesshaftigkeit verdorbener Nomade.
Ich bilde mir ein, ich hätte das von meiner Mutter geerbt. Sie hatte in ihrem Gesicht, besonders als Kind, für eine Wienerin ungewöhnliche, deutlich orientalische Züge. Es gibt alte, auf dicke Pappendeckel aufkaschierte Fotos von ihr, aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, wo sie für ein Faschingsfest als Ägypterin gekleidet ist: olivenhäutig, mit dem nach innen gerichteten leichten Silberblick der dunklen Augen und mit dem breiten Mund und den wulstigen Lippen wirkt sie in ihrem Kostüm gar nicht verkleidet.
Eines der Lieblingswörter meiner Mutter im hohen Alter war das Wort „umfahren“. Sie war fast ihr ganzes Leben zum Verharren an ein und demselben Ort – Wien – gezwungen, vor allem durch die beiden Weltkriege, durch die materielle Not danach, durch die Sorge für eine relativ große Familie… Aber ab dem Alter, in dem materielle Werte immer unwichtiger werden, hielt sie es immer weniger in dem Haus in Wien aus, wo sie Kind und Mutter und Großmutter gewesen war: rasch setzte sich gegen die oktroyierte, erlernte, wider Willen durchgehaltene Sesshaftigkeit eine Art Nomadentum in ihrem Wesen durch. Jahrelang war sie unruhig, rastlos von einem Gasthaus zum andern, von einer Frühstückspension zur andern, von einer Sommerfrische zur andern unterwegs. Es war auch erst im Alter, dass sie eine Zeitlang über ein Auto verfügen konnte. Es gehörte ihrem Lebensgefährten. Damit konnte sie endlich „umfahren“, wie sie wollte. Als das eines Tages nicht mehr möglich war und sie in ein Altersheim gesperrt wurde, zerstörten Arteriosklerose, Depression und verschriebene Psychopharmaka ihr Wesen.
Lange Zeit hoffte ich tatsächlich, durch sie von den Zigeunern abzustammen. Ihre Mutter, meine Großmutter, hatte mehrere Kinder von verschiedenen Vätern. Sie war eine Dienstmagd aus dem Grenzgebiet zwischen der Steiermark und Slowenien. In meiner Kindheit, als ich dort ein paar Sommer lang die Ferien verbrachte, zogen noch regelmäßig die Zigeuner durch diese Gegend. So entstand schon früh in mir die Vorstellung, unter meinen Ahnen Fahrende zu haben: Roma oder Sinti…
Sollte ich tatsächlich die für Zigeuner kennzeichnende Anlage zum rastlosen Umherziehen in mir haben, so wurde sie – wie so viel anderes auch – durch die rigide Erziehung in einer kleinbürgerlichen Familie in Wien nach 1945 fast vollständig verschüttet.
Ich lebte 40 Jahre in Wien: eine lange Zeit, nur unterbrochen durch kurze Auslandsaufenthalte in England und Frankreich. Und doch gehöre ich als ein 1945 Geborener, ab 1965 Studierender zur sogenannten 68er-Generation, die durch die Haltung des Aufbrechens und Ausbrechens charakterisiert ist. Beides manifestierte sich unter anderem auch in einem ständigen Unterwegssein durch die Welt, als Flucht vor den autoritären Strukturen, die wahrscheinlich ein paar Jahrzehnte vorher den Vätern nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs den Neubeginn, das Weiterleben erst ermöglicht hatten.
Heute bedauere ich es, nicht so wie viele meiner Altersgenossen damals neugierig und ungebunden, bedürfnislos und promiskuös, eingeraucht oder bekifft durch die Erdteile „getrampt“ zu sein. Nachzuholen ist das nicht.
Diese autoritären Strukturen, die auf den verschiedensten sozialen, geistigen, weltanschaulichen Ebenen von den entweder durch den Nationalsozialismus oder den Kommunismus geprägten Vätern geschaffen wurden, machten auch mir Probleme. Ihnen zu fliehen, das war auch mir ein Anliegen. Ich sah aber in der Möglichkeit der radikalen räumlichen Distanz keinen Weg für mich. Auf den Gedanken des „Abhauens“ kam ich gar nicht. Ich wählte schließlich die auf Konfrontation gehende Opposition an Ort und Stelle. Das Ergebnis war die Erfahrung der Unterlegenheit. Meine Reaktion darauf war der Rückzug in eine „innere Emigration“.
Ich versuchte, mich vor der Vereinnahmung durch das „System“ zu retten, indem ich mich weigerte, den rigiden Anforderungen dieses Systems gerecht zu werden.
Das brachte mir auf die Dauer viele Nachteile ein. Ich habe aber diese mir selbst auch oft schädliche Haltung der Verweigerung so sehr verinnerlicht, dass sie bis heute ein oder  d e r  integrale Bestandteil meines Wesens ist. Ich habe es nie über mich gebracht, mich für die eine oder die andere Macht-Gruppierung, für das „Establishment“, zu erklären, bis heute nicht. Jene aber, die fliehend, abreisend, verreisend, verschwindend protestierten, arrangierten sich nach ihrer Rückkehr promptest mit dem einst verhassten System, integrierten sich und ließen sich integrieren. Und heute sind sie nicht „Sand“, sondern in der Regel gut geölte, glatt laufende Zahnräder im Getriebe der Gesellschaft.

„Er betrachtete sich nicht als einen Touristen, sondern als einen Reisenden“: so charakterisiert Paul Bowles den Helden seines Romans The sheltering sky.

Während der Tourist sich beeilt, nach ein paar Wochen wieder nach Haus zurückzukehren, bewegt der Reisende sich jahrelang von einem Punkt der Erde zum anderen.

Bowles ist eine der Symbolgestalten der Generation, die nach einer Zeit des „Without Stopping“, der Rastlosigkeit, die Lebensform der Sesshaftigkeit problemlos übernimmt.

In keine der beiden Kategorien Bowles’, weder in die des Reisenden noch in die des Touristen, falle ich, mit meiner widerwilligen, verqueren Art der Ortsveränderung.
Tourismus als Unterwegssein in einer Gruppe oder allein, mit dem Ziel, fremde Länder, fremde Menschen, fremde Bräuche kennenzulernen, als Bildungserlebnis anhand von Kirchen, Museen, Landschaften…, als das Initiationsritual „Grand Tour“, um danach bereichert nach Hause zurückzukehren, das ist nie eine mir angemessene Art des Reisens gewesen. Ich vermeide geflissentlich, immer und überall alles das: Kirchen, Museen, Denkmäler, Geburts- und Sterbehäuser berühmter Künstler, alle die obligaten Sehenswürdigkeiten und Wahrzeichen eines Orts…
In einer meiner Erzählungen „Stippvisite“ drückt sich meine Abscheu vor dem verordneten Besichtigungs-Tourismus beinah flehentlich aus. Der Schauplatz ist Triest:

Bitte nicht wieder die übliche Besichtigungstour (…). Nicht wieder Miramare, die Börse, die Piazza Unità, und hier stand einmal das Haus von Richard Burton, nein, nicht  d e r  Richard Burton, der andere, was, Sie kennen ihn nicht? der Burton, der 1001 Nacht übersetzt hat…, auch nicht San Giusto und Winckelmanns Grab, bitte nicht!

Ich flaniere lieber, ergehe mir einen Ort, ziellos, planlos, tagelang, schaue die Menschen in den Straßen an, schaue ihnen zu beim Leben, beim Essen, beim Trinken, beim Sprechen, beim Schauen, koste, was sie essen und trinken, rede mit ihnen, höre ihnen zu…, kurz: ich versuche, mich – nicht immer mit Erfolg – in das Wesen eines Orts und seiner Bewohner auf meine Art einzufühlen. Ich versuche, mich diskret und eher indirekt an eine mir ungewohnte, wenn auch nicht immer fremde Lebensform einer anderen Kultur anzunähern.
Ein „Reisender“ im Sinne Paul Bowles bin ich ebenfalls nie gewesen. Ich bin nie ein Unsteter, von einem Ort zum anderen Fliehender gewesen. Ich bewege mich von einem Ort weg, hin zu einem anderen – um dort zu bleiben.
Meine wenigen Aufenthalte außerhalb Österreichs waren immer an einen bestimmten Ort gebunden und dauerten stets längere Zeit. In London verbrachte ich jahrelang die ganzen Schulferien im Haus meiner Schwester; in Frankreich lebte ich mit meiner Familie in den Sommermonaten in Häusern, die uns von Bekannten zur Verfügung gestellt wurden… Immer war ich bemüht, mit den Menschen der näheren Umgebung in Kontakt zu treten, ein Vorhaben, das entsprechend der jeweiligen „language skills“, mehr oder weniger glückte. Immer war ich bestrebt, wohin ich auch kam, mich niederzulassen, ein Terrain für mich abzustecken, zu versuchen, metaphorische Wurzeln zu schlagen. In einem autobiografischen Essay fasse ich die idiosynkratische Art und Weise der Ausweitung meines Lebensraums durch das Reisen unter dem soziologischen Begriff „Landnahme“ zusammen.

Am nachdrücklichsten gelang mir diese „Landnahme“ bei meinem 13-jährigen Aufenthalt als sesshafter Nomade in Italien.

Italien war für mich bis zu meinem 30. Lebensjahr ein gänzlich unbekanntes Land. Und auch – zumindest in meiner Familie – ein übel beleumdetes. Zwar war es, wie auch Jugoslawien, in den 1950er- und 1960er-Jahren für die Österreicher  d a s  Urlaubsland. Man fuhr an die Adriaküste, ans Meer nach Caorle, Rimini, Jesolo, Bibione, Grado… In meiner Familie war aber ein Urlaub woanders als in Österreich nicht denkbar. Zum einen aus finanziellen Gründen, zum andern aber, im Hinblick auf Italien, aus weltanschaulichen. Italien war das Land, das in beiden Weltkriegen als Verbündeter auf Seiten Deutschlands und Österreichs gekämpft, sich aber dann, als sich die Niederlage abzuzeichnen begann, prompt auf die Seite der siegreichen Alliierten geschlagen hatte. Dorthin fuhr man nicht auf Urlaub! Und schon gar nicht in das Jugoslawien des Partisanen Tito…

In einem frühen autobiografischen Stimmungsbild „Wien: Spiegelungen“ aus dem Jahr 1982 schreibe ich:

Ich habe Wien nie verlassen. Oft, bei schlechtem Wetter, stelle ich mir vor, wie schön es wäre, irgendwo im Süden zu leben, nicht so weit weg vom Meer, unter einem immer blauen Himmel, unter einer immer wärmenden Sonne, wie einfach alles dann wäre, woanders…

1984 verließ ich Wien. Ich lebte 13 Jahre in Italien, in Duino bei Triest: nicht ganz im Süden, aber ganz nah am Meer, nicht immer unter einem blauen Himmel, unter einer wärmenden Sonne, und einfach war dort auch nicht alles… Aber es war Italien!

1995 wurde mir dann in einem mir gewidmeten „incontro radiofonico con scrittori di lingua tedesca“ im Programm RAIDUE die Frage gestellt:

Duino, der Karst, die Stadt Triest, sind das Fluchtpunkte, Orte längeren Aufenthalts, oder sind sie nur die befristete Unterbrechung einer Reise? Ist dieser Ort ein freiwilliges oder ein zufälliges Exil?

Ich antwortete damals:

Duino, wo ich seit 11 Jahren lebe, ist für mich kein Ort des Exils, weder des freiwilligen noch des zufälligen. (…) Davor unterrichtete ich in einer Schule in Wien, und wir wollten gern einmal eine Zeit unseres Lebens im Ausland verbringen. In Duino fühle ich mich weder als Emigrant noch als Gast, eher als eine Art Langzeit-Sommerfrischler. Daher stimmt es nicht, wenn man von Flucht oder Exil redet.

Auf die 13 Jahre in Italien heute – mit großer Dankbarkeit- zurückschauend, scheint mir die damals im Gespräch gefundene Metapher des „villeggiante a lungo termine“ meine Einstellung zur Daseinsform des Reisenden präzise widerzuspiegeln: der Aufenthalt in Duino war für mich tatsächlich eine 13-jährige Reise, ein 13 Jahre dauerndes Unterwegssein, das zu überstehen mir vor allem das trügerische Gefühl des Verwurzeltseins, des Beheimatetseins, der „residenza“ in Duino ermöglichte.
Dass ich trotz des „festen Wohnsitzes“, der scheinbaren Gewissheit, Wurzeln geschlagen, mir eine Heimat erworben zu haben, in Triest ein Fremder blieb, ist bedeutungslos. Ich war stets – und ich bin es heute wieder – auch in meiner Heimat Wien ein Fremder.
Im selben Gespräch für RAIDUE fasse ich meine Erfahrungen als „ortsansässiger Fremder“ so zusammen:

In Triest bin ich ein Fremder, ich bin es geblieben und will es auch bleiben.
Ich kann nicht verlangen, dass die Triestiner mich mit offenen Armen aufnehmen, nur weil ich ein Österreicher
(…), nur weil ich ein Schriftsteller bin. Ich beklage mich nicht darüber, dass ich wenig Kontakte mit den Triestinern habe, mit Familien oder den hiesigen Schriftstellern. Wenn ich eingeladen werde, etwas über meine Beziehung zu Triest zu sagen, beginne ich zu jammern. Das ist typisch für die „mitteleuropäische“ Mentalität. Aber es gibt tatsächlich Situationen, in denen die Arroganz und der Mangel an Liebenswürdigkeit seitens der Triestiner einen schon irritieren. Die Triestiner interessieren sich nicht für Fremde. Wenn man mich bittet, über Triest zu schreiben, so nicht, weil man sich für mich interessiert, sondern dafür, wie ich, der Fremde, die Stadt sehe, welche Reaktionen sie in mir auslöst, was mir diese Stadt bedeutet… Der Fremde wird nur als Spiegel benützt.

Lyrisch lautet der Befund des „ortsansässigen Fremden“ so:

POSTSCRIPTA DA DUINO

1
Viel Ansprache habe ich hier nicht

Die Vögel fehlen mir

auch die Hasen
Von Rehen ist hier keine Rede mehr
außer auf den Speisekarten und den Straßenschildern im Kar
st

(…)

4
Wasser gibt es hier im Überfluss
Es macht mir Angst
Steht der Wind richtig     rieche ich es bis ins Haus

5
Und die Bora!     Die ganze Nacht
klappern die Fensterläden     liegen
morgens     aus den Scharnieren gerissen     in den Büschen
Wetterseitig blättert der Verputz von den Fassaden

6
Auf den Feldern steht noch der Mais vom Vorjahr
staubig     weiß     raschelt im Wind
Wieder ist es zu spät
die Äcker abzubrennen

Platz zu machen für Neues     Heuriges

Während der 13 Jahre dauernden „Sommerfrische“ in Duino machte ich einige Reisen in Italien. Viel zu wenige, wie mir die, in meinen Augen, reisesüchtigen Zeitgenossen kopfschüttelnd vorwerfen.
Venedig war 1 Autostunde entfernt. In den ersten Jahren verbrachten wir oft einen ganzen Tag dort. Venedig ist für mich ein Geruch, der aus dem Schlamm der Lagunen aufsteigt. Ich hasste die Schuhgeschäfte. Ich liebte die Märkte. Ich liebte die bis oben vollgeräumten Delikatessengeschäfte mit den mühlsteingroßen Käselaiben, mit den Mortadellastangen, dick wie die Schenkel der Frauen von Botero, mit den vielgestaltigen Teigwaren mit den schönen Namen; ich liebte die „ristoranti“ und „trattorie“, die blütenweißen Tischtücher und Servietten, das „antipasto“ aus „frutti di mare“, das „prima“, das ich meist ausließ, die „sogliola“ als „secondo“ und „creme caramel“ als „dolce“, die wässrigen Weißweine, den „amaro amaro“…; ich liebte die mitteleuropäische Erfahrung der von den Kurmusik-Ensembles gespielten Potpourris aus Lehar-Operetten und Verdi-Opern, doppelchörig ineinanderklingend, auf dem Markusplatz, vor den beiden Cafés… mit den pikfeinen Toiletten…
Und doch hatte ich es bald satt, mich jedes Mal inmitten von Touristen – Amerikanern, Deutschen, Japanern, Österreichern – in kurzen Hosen und Unterleibchen – durch die engen Gassen an den Auslagen der Benetton-, Sisley-, Timberland-Läden vorbeizuschieben. In den letzten Jahren in Italien mied ich Venedig, verdrängte ich und vergaß ich es schließlich fast ganz. Unglaublich, aber wahr…

Was mich von längeren Reisen seit jeher – ein willkommener Vorwand – abgehalten hat, das waren die Hunde in meinem Leben. Mich als Rudelführer oder Alpha-Hund fühlend und gebärdend, habe ich mich immer als Hauptverantwortlichen für die Tiere betrachtet. Ich brachte es kaum je über mich, sie jemandem anderen anzuvertrauen, um ohne sie zu verreisen.
Meine intensivste Reisezeit in Italien fiel daher in die Zeit zwischen dem Tod des einen Hundes und der Ankunft des nächsten Hundes, also zwischen November 1991 und März 1995. Ziehe ich die Bilanz dieser dreieinhalb Jahre, so komme ich nicht einmal auf ein halbes Dutzend Reisen: eine in die Marken, eine in die Toskana, eine zu den Brenta-Villen, eine an den Gardasee, eine nach Belgioioso und nach Bergamo…
Sogenannte „literarische“ Reisen, also Vortrags- oder Lese-Tourneen, sind zumeist keine Reisen, sondern längere Aufenthalte in Zügen, auf Bahnhöfen, in Hotels, in Vortragssälen und in Restaurants. Derartige „Reisen“ führten mich nach Milano, Parma, Pavia, Bergamo, Bologna, Faenza…, über die slowenische Grenze nach Vilenica, Bled und Ljubljana…
Eine „literarische“ Reise wollte ich aber in dieser Zeit unbedingt machen: die nach Sizilien. Ein Jahr lang übersetzte ich einen Roman von Gesualdo Bufalino, Qui pro quo. Fünf deutsche Versionen stellte ich von dem italienischen Text her. Während der Arbeit träumte ich davon, nach dem Erscheinen des Buches nach Sizilien zu fahren. Ich bin bis heute nicht in Sizilien gewesen. Mit dem Honorar des Suhrkamp Verlags wäre ich ohnehin nicht sehr weit gekommen.

Wichtiger als die Muss-Reisen, z.B. in die Toskana oder an den Gardasee, und die Hausierer-Fahrten mit der Literatur war das kurzfristige, aber regelmäßige Unterwegssein in der Umgebung von Duino und Triest: die stundenlangen Wanderungen mit dem Hund in den Wäldern des Karst, durch die Dörfer an der Grenze zu Slowenien, von Slivia, wo man mitten im Karstwald auf das Meer sah, bis Rupingrande, in den Lagunenlandschaften entlang der Küste des Golfs von Triest, von Monfalcone und Staranzano bis nach Grado und Aquileia, über die Grenze bei Sezana nach Slowenien, nach Lipica oder zu Kosovels Geburtsort Tomaj und zu den Höhlen von Postojna…

Wenig von dieser auf seltsame Weise symbiotischen Beziehung von mir und der Landschaft um Duino ist im literarischen Text Wort geworden. Ich habe immer davor zurückgeschreckt, Erfahrungen, Erlebnisse, Ereignisse, Begegnungen, die wichtig für mich waren, bedenkenlos zu Literatur zu machen. Nur in einer Handvoll Texte, in den Gedichtbänden seit 1989, ist die Landschaft um Duino, topografisch vage erkennbar, anwesend. Alles, was ich sonst von Italien reisend erlebte, ist „unbeschrieben“ geblieben.
Auffallend ist, dass in den ebenfalls raren Reise-Gedichten anderswohin, nach Amsterdam oder Lissabon, nie die Heimat Wien als Objekt der Nostalgie dargestellt wird – ganz im Gegenteil: mit Wien wird von Italien aus in einer depressiven Tirade unter dem Titel „Wien-Lied“ larmoyant, aber unerbittlich abgerechnet –, sondern Triest, Duino und vor allem der Karst:

ZWEI EICHELN

sacht gepflückt: auf Reisen in der Tasche
einer Weste     Triest-Amsterdam     mit Aufent-
halt in Frankfurt     und retour – allmählich der Zer-
fall: hundshodengroße Rugby-Bällchen rollten

in der Wolle     Fäden knäuelten
um Buben-Pfeifchen – Abstraktionen in konkreter
Asche     Krümeln von Tabak und Keksen     rutschten
schließlich unversehens mit Assonanz und allem

Drumunddran ins Loch des Texts – und
waren doch zu Zeiten Heimweh
nach den blutigroten Hainen an Dolinenrändern

Talismane     Spielzeug vager Nostalgien
zwischen den nervösen Fingern eines Grachten-
läufers ohne Schatten

Hans Raimund, 2001, Nachwort

 

Die Auswahl von Gedichten

aus dem bisherigen lyrischen Werk von Hans Raimund in deutscher und englischer Sprache ist keine Blütenlese, sondern ein umfassender Einblick in die Werkphasen eines Autors, dessen literarisches Schaffen von so scharfsichtiger wie schonungsloser Welt- und Selbstwahrnehmung geprägt ist.
Ein Wagnis vielleicht, doch sicher ein prüfendes Innehalten und Erinnern der melancholischen wie auch lichten Schichten eines Werks, aus dem der Autor selbst das ihm am wichtigsten Erscheinende gewählt und zueinander in miteinander korrespondierende Zyklen gebracht hat – und dabei noch einen Schritt weitergeht: Hans Raimund, dessen Bücher in verschiedenen Sprachen erschienen und der selbst aus dem Italienischen, Französischen und Englischen übersetzt, vertraute die Gedichte in diesem Band der Sorgfalt und sprachlichen Schöpfungskraft mit ihm befreundeter Autoren und Übersetzer aus dem englischen Sprachraum an.
In der Konfrontation zweier Sprachen und ihrer im Englischen auch regionalen Farben vermitteln sich nicht zuletzt die Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzbarkeit von Lyrik.

edition lex liszt 12, Klappentext, 2015

 

Auf einem Teppich aus Luft: Hans Raimunds Lyrik

Gedichte von Hans Raimund aus unterschiedlichen Werkphasen hat die burgenländische edition lex liszt in einem aus mehreren Gründen beachtenswerten Sammelband (Auf einem Teppich aus Luft / On a carpet made of air) vereint. Keine „Best-of“-Blütenlese, sondern eine subjektive, vom Autor selbst getroffene, englischsprachigen Übersetzungen gegenübergestellte und in Zyklen gefasste Auswahl.
Die mühsame und oft unbedankte Praxis des Übersetzens und die Reflexion über Grenzen von Übersetzbarkeit, speziell bei Lyrik, beschäftigen den in Petzelsdorf (Bezirk Scheibbs) geborenen Niederösterreicher seit jeher. Umso reizvoller ist es nun, sorgfältige Mittel und entsprechende Zugänge mit ihm befreundeter Autoren und Übersetzer (Timothy O’Brien, David Chorlton, Robert Dassanowsky, Vera Neuroth und Christopher Whyte) zu erkunden.
Das namensgebende Gedicht spielt auf den orientalisierenden Mythos vom fliegenden Teppich an. Der Flug mit dem Luftteppich jedoch gerät zum Sturz ins Bodenlose, zum Fallen „ins Lauern der Geier“. Dieses Bild erscheint geradezu symptomatisch für den strengen Desillusionisten, der hier am Werk ist, am schonungslosesten sich selbst gegenüber, dabei formal, sprachlich und inhaltlich stets von größter Stringenz. Die scheinbar einfachen Dinge des Lebens und die traumatisierenden Katastrophen, in einer „sklavischen Art zu träumen“ zum „Sakrament des Schauens“ verbunden und verdichtet – ernsthafter und zugleich skrupelhafter können Erfahrung und Literatur nicht kongruieren.
Karl-Markus Gauß hat dem Band ein einfühlsames Vorwort vorangestellt, Raimund erhellt in seinem autobiografischen Nachwort („Vom Reisen wider Willen“) wesentliche Aspekte seines Schaffens. Erhellend wirken auch Leonard Cohens „Anthem“-Anfangszeilen als Motto:

There is a crack in everything
That’s how the light gets in

vienna.at. 23.10.2014

Auf einem Teppich aus Luft von Hans Raimund

Es gibt nicht nur in literarischer Hinsicht kaum eine lohnendere Perspektive auf das scheinbar gewöhnliche Alltägliche als die des zu ehrlichem menschlichen Mitgefühl fähigen, kritischen Randständigen oder vorurteilsfreien Außenstehenden. In einer hochgradig unbewussten, affektgesteuerten Gesellschaft, die dem Einzelnen fast täglich auf geradezu zwanghafte Art und Weise die ohnmächtige Unterwerfung unter einen abstrakten, unausgesprochenen staatsbürgerlichen Konsens abverlangt und ihn so zunehmend in eine ebenso unbewusste, ganz und gar unversöhnliche negative Abgrenzung treibt, droht die heilsam-bereichernde Position des unabhängigen Beobachters, der die zahlreichen wohlfeilen und nützlichen Konventionen des unnötigen und falschen Konsens zu ignorieren wagt, gänzlich erdrückt und er selbst zum Außenseiter abgestempelt zu werden, obwohl wir seiner Sichtweise am dringendsten bedürfen.
Der hochentwickelte Buchmarkt in Deutschland hat zwei segensreiche Werkzeuge hervorgebracht, um die im Handel schwer verkäufliche, aber umso wesentlichere Position des randständigen, unabhängigen Künstlers wirksam zu fördern und zu stützen: erstens, die vom Gesetzgeber offiziell sanktionierte Buchpreisbindung, die den Buchverlagen feste Preise für ihre hart kalkulierten, ästhetisch schönen Produkte garantiert und den in der freien Wirtschaft möglichen und üblichen Preisverfall des „Kulturguts Buch“ nachhaltig unterbindet sowie, zweitens, die sogenannte Mischkalkulation der ambitionierteren Verlagshäuser, mit deren Hilfe Bestsellererlöse die Pflege der schöngeistigen Literatur, insbesondere der schwer verkäuflichen Lyrik, des Essays oder der experimentellen Literatur effektiv mitfinanzieren. Trotzdem ist es in den letzten Jahren immer schwieriger geworden, unabhängige literarische Stimmen zu vernehmen, denn auch die renommiertesten Literaturverlage sind angesichts kontinuierlich rückläufiger Buchabsätze auf ihr ungeliebtes Dasein als Wirtschaftsunternehmen zurückgeworfen worden.

89 WAR ER

Hatte Diabetes
Und ein ProstataGe
Schwür (inoperabel)
Sagt er noch    vor allen

Im Café    zu einer
Langjährigen Freundin:
Nie im Leben werde

Er mit ihrem Freund    dem
Juden da    an einen
Tisch sich setzen… hoffe

Auch    dann nach dem Tode
Möglichst weit entfernt von
Ihm    im Grab zu liegen

Da ein Paradigmenwechsel zugunsten eines neuen privaten und/oder Wirtschaftsmäzenatentums nach amerikanischem Vorbild hierzulande noch nicht stattgefunden hat, es auch vor allem aufgrund der in Deutschland weit verbreiteten Auffassung mittelfristig schwer haben wird sich durchzusetzen: nämlich dass für so etwas der angeblich „unabhängige“ Staat zuständig sei (wieso eigentlich ausgerechnet der?), darf es nicht nur für die österreichische, sondern auch für die deutschsprachige Literatur insgesamt als echter Glücksfall betrachtet werden, dass sowohl die Bundesregierung Österreichs als auch die einzelnen Bundesländer seit vielen Jahren ein wirkungsvolles Fördersystem für unabhängige Verlage etabliert haben, das mit Hilfe von objektiv einsehbaren, fest gestaffelten Subventionen einen erheblichen Kostendruck von den Verlagen nimmt und sie in die begrüßenswerte, komfortable Lage versetzt, auch solche Literatur ohne unwägbares wirtschaftliches Risiko zu veröffentlichen, deren kommerzielle Erfolgsaussichten auf den ersten Blick eher bescheiden scheinen.

Wir wünschen    was wir nicht haben
Was wir haben    wünschen wir nicht
Sobald wir haben    was wir wünschen    erlischt der Wunsch
Jede Erfüllung eines Wunsches ist ein Erkalten
Jede Erfüllung eines Wunsches ist ein Entleeren
Nur unerfüllbare Wünsche erfüllen uns
Nur unerfüllbare Wünsche wärmen uns

Zum Glück jedoch täuscht der kleinliche und beschränkte Blick des Kommerzbuchhalters mit seinen zahlreichen grüblerischen Bedenken oft genug: das wunderbare, vor nicht allzu langer Zeit mit Hilfe von Subventionen des Kanzleramts und weiteren Mitteln der Kunstförderung des Burgenlandes unter dem Titel Auf einem Teppich aus Luft / On a carpet made of air zweisprachig in der edition lex liszt 12 in Oberwart erschienene bisherige poetische Lebenswerk des vielfach ausgezeichneten Wiener Schriftstellers, Dichters und Übersetzers Hans Raimund (geboren 1945) liegt mittlerweile bereits in einer zweiten Auflage vor und darf somit als besonders schönes und geglücktes Beispiel dafür gelten, wie gute, wesentliche Literatur schwerelos-zielsicher dennoch zu seinem verdienten Publikum findet, wenn man es wagt, sich aktiv dafür einzusetzen.
Hans Raimund, geboren in Petzelsdorf in Niederösterreich, aufgewachsen in Wien und nach einem langjährigen Intermezzo im norditalienischen Duino heute mit Zweitwohnsitz in Hochstraß im Burgenland ist nicht nur ein genuiner und hoch origineller Schriftsteller und Lyriker, dessen persönliche literarische (und biografische) Position der Essayist Karl-Markus Gauß in seinem lesenswerten Vorwort zutreffend als grundsätzlich randständig beschreibt, sondern als respektables Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste auch ein wunderbarer, engagierter und kommunikativer Mensch, der sich nicht nur mit seiner ganzen persönlichen Integrität, sondern mitunter sogar mit seinen privaten Mitteln für die Werke anderer Schriftsteller einsetzt: so finanzierte er zuletzt die spektakuläre Erstveröffentlichung der im Triester Dialekt verfassten und von ihm selbst kongenial ins Deutsche übersetzten Gedichte des in Italien bis heute zu Recht verehrten Dichters Virgilio Giotti wesentlich mit.

„DU BIST WIE EINE ROSE…“
Hab einmal mich gemüht    dich samt
Den Wurzeln aus dem Boden auszureißen
Doch drinnen tief    warst du ein umgekehrter Baum

Hans Raimunds langjähriges unermüdliches Engagement als aktiver Teilnehmer an internationalen Literaturübersetzerworkshops ermöglichte es ihm auch, seine gesammelte Lyrik von renommierten befreundeten Übersetzern ins Englische übersetzen zu lassen – zweifellos ein ausgesprochen glücklicher Nebeneffekt seines menschlichen und künstlerischen Schaffens, der nicht nur die vorliegende Ausgabe ungemein bereichert, sondern auch der allgemeinen Verbreitung seines Werks ohne Zweifel ausgesprochen förderlich sein wird. Besonders charakteristisch für Raimunds literarischen Standpunkt, ist sein persönlicher Aufbruch in die Provinz. In der Metropole Wien als Sohn eines bis an sein Lebensende überzeugten Nazis aufgewachsen und bis Ende Dreißig fast ausschließlich dort lebend, übersiedelte er im Jahr 1984 für zwölf Jahre in die kleine Stadt Duino nahe Triest an der italienischen Adriaküste. Heute lebt er, trotz eines weiteren Wohnsitzes in Wien, fast ausschließlich im kleinen Dorf Hochstraß im Burgenland, nahe der ungarischen Grenze.
Hans Raimund ist einer, der das Metropolitane wie selbstverständlich kennt, sich während seiner ersten Lebenshälfte widerwillig darin bewegt hat, und es in dieser Zeit ebenso ausgiebig wie misstrauisch beobachtet, politisch ausgelotet und poetisch analysiert hat, um dann bewusst den Schritt in die Provinz zu wagen. Schon als Heranwachsender hatte er sich angesichts der unverbesserlichen politischen Haltung seines Vaters insgeheim gewünscht, dass die deutlichen orientalischen Gesichtszüge seiner Mutter heimlicher Ausdruck einer nur ihnen beiden gemeinsamen zigeunerischer Abstammung sein mögen: ein möglicher magischer Ausweg aus der eigenen Scham, zu der sein uneinsichtiger Vater lebenslang niemals fähig war. Abseits des „Bedeutenden“ und „Prächtigen“ und fern der abgeschmackten künstlichen Geschäftigkeit alles Etablierten wurde Raimund aber nicht zum unsteten Reisenden, wohl aber – am liebsten mit seinem jeweiligen Hund – zum ausdauernden Spaziergänger an seinen langfristigen Wohnorten.

FÜSSE GLEITEN    SCHLEIFEN
Tragen Leiber weg    von hier nach dort
Halten ein
aaaaaaaaaSchreiten weiter
Durch die Räume
aaaaaaaaaaaaaaaSo behend
Der Pflanze Starre übersteigend

Bewegung ist zu spüren noch im Innehalten
Tief    bis in die Spitzen
aaaaaaaaa aaaaaaaaain des Lichtes Schraffen

Stet der Drang
Nie erlernte    seit jeher gekonnte Schritte
Zu gehen    von hier nach dort

[…]
Eins sind Tier und Pflanze

Nicht nur als kontemplativer Fußgänger, sondern ganz besonders auch in seiner Poesie hat Hans Raimund die wunderbare und nützliche Fähigkeit zu einer erstrebenswerten Kunstform vervollkommnet, an einmal besuchte Orte immer wieder zurückzukehren, mit diesen in einem lebendigen inneren und – wenn möglich – äußeren Dialog zu bleiben und auf diese Weise bis zum eigentlichen Kern ihres jeweiligen Wesens vorzustoßen: durch den so bewusst hervorgerufenen, ebenso andächtigen und genau beobachteten wie reflexiven Kreislauf des sich Näherns, Zurücktretens und Wiederherantretens entsteht eine ausgesprochen reizvolle, mehrdimensionale Perspektive, die durch die warmherzige, empathische und stets zur Versöhnung bereite Grundhaltung des Autors noch intensiviert wird. Raimunds Lyrik vermisst das Leben somit nicht nur mit den Mitteln des logischen Verstandes, sondern auch mit denen des (Mit-)Gefühls. In dieser Hinsicht ist Raimunds unverwechselbares Werk selbst noch im scheinbar Privaten immer auch politisch, indem es sich (aus verfeinerter menschlicher Einsicht) der herrschenden Auffassung verweigert, die Erscheinungsformen des inneren und äußeren Lebens isoliert und unverbunden zu betrachten.
In seinem aufschlussreichen Nachwort offenbart sich der Autor sogar in noch stärkerem Maße als in seiner Lyrik als politisch denkender Mensch, etwa wenn er über sein Scheitern schreibt, sich mit Hilfe der von ihm im Laufe der prägenden Wiener Jahre fest verinnerlichten Verweigerungshaltung vor den rigiden Anforderungen des System zu bewahren. Oder wenn er bekennt, dass er stets davor zurückgeschreckt sei „Erfahrungen, Erlebnisse, Ereignisse, Begegnungen, die wichtig für mich waren, bedenkenlos zu Literatur zu machen“. So müssen uns leider die lebendigen Schilderungen seiner intensiven „auf seltsame Weise symbiotischen Beziehung von mir und der Landschaft um Duino“ endgültig vorenthalten bleiben – eine unerhörte Poesie tatsächlich gelebter individueller Erfahrung, die allein dem Menschen Hans Raimund vorbehalten bleibt. Ein Teppich aus Luft ist nicht nur eine wunderbare, verdiente Würdigung eines intensiven, bewusst gelebten Dichterlebens, das uns mit zahlreichen wertvollen Perspektiven beschenkt, sondern auch ein beherztes, aussagekräftiges Plädoyer für die unbedingte, vorbehaltlose Kunst- und Literaturförderung – von welcher Seite auch immer.

Florian Hunger, Psychosemitischer Buchblog, 14.7.2015

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Rudolf Taschner: Gedichte von bleischwerer Bürde und von einem Teppich aus Luft
Die Presse, 16.10.2014

Friedrich Hahn: Prosa und Lyrik von Hans Raimund
literaturhaus.at, 13.1.2020

„Für die Germanistik habe ich ohnehin nie existiert“

Ewald Baringer: Welchen Stellenwert hat das Übersetzen aus dem Italienischen, Englischen und Französischen in der literarischen Arbeit?

Hans Raimund: Einen wichtigen. Und ebenfalls einen sozialen. Wenn die Autoren, die ich übersetze, am Leben sind, versuche ich einen persönlichen Kontakt herzustellen, wie es z.B. bei Gesualdo Bufalino der Fall war. Wenn jemand Texte von mir übersetzt hat, so zumeist aus Freundschaft. Auch wenn ich als bösartig verschrien bin: Es ist mir unerhört wichtig, Kontakte zu haben. Nur: Ich lasse mir nicht alles gefallen. Und ich habe auch ein entsetzlich blödes, manchmal unbeherrschbares Mundwerk. Das hat mich in den letzten 35 Jahren viel gekostet. Damit hab ich mir vieles verdorben.

Baringer: Zum Beispiel?

Raimund: Seit ich 2001 in der Jury beim Trakl-Preis den Mund aufmachte, weil ich als Juror und der Dichter, den ich vorgeschlagen hatte, vorsätzlich ungerecht behandelt wurden, sind die Germanisten auf mich bös. Für die Germanistik habe ich ohnehin nie existiert. Und die österreichische Gegenwartsliteratur ist, in meinen Augen, eben ein Produkt der Germanistik. Aber irgendwann kommt man ohnehin in ein Alter, in dem man Preise und Stipendien weder erhält noch erwartet. Nach meinem Trakl-Skandal hab ich noch fünf, sechs Jahre für Staats- und Projektstipendien eingereicht – nichts! Denn in diesen Jurys dominieren die Germanisten. Und wenn man mit denen nicht gut ist, dann geht halt nichts. Mit literarischer Qualität hat das Förderungssystem hierzulande recht wenig zu tun.

Baringer: Karl-Markus Gauß hat einmal von Raimund als „Musiker unter den österreichischen Lyrikern“ gesprochen…

Raimund: Ja, die Musik war zuerst da. Mit 16 habe ich gewusst, dass aus mir ein großer Dirigent und Komponist werden würde, ich habe auch Musik studiert und abgeschlossen, Konzertfach Klavier, Komposition, Kontrapunkt, Dirigierklasse und so weiter. Ich bin aber dann krank geworden und hatte das dringende Bedürfnis, doch etwas Kreatives weiterzumachen. 1966 habe ich zu schreiben begonnen. Die Musik ist aber weiterhin und bis heute als spontaner Ausdruck meines Wesens präsent. Ein Werk der Kammermusik zu lernen und aufzuführen, bringt unvergleichlich mehr Befriedigung als ein gelungenes Gedicht, weil Musizieren in einer Gemeinschaftsarbeit entsteht, bei der man einander zuhört, Impulse gibt, aufnimmt – auch hier wieder der soziale Aspekt, der mir wichtig ist.

Baringer: Wie musikalisch wird dadurch die Sprache?

Raimund: Ich bin draufgekommen, dass die einzelnen künstlerischen Disziplinen grundsätzlich miteinander nichts zu tun haben und, miteinander in Beziehung gebracht, einander auch nicht fördern. Ein Schubertlied ist etwas Wunderbares. Die Texte sind sehr schön, gekoppelt mit der Musik sind sie aber in den Hintergrund verbannt. Ich verwehre mich auch dagegen, dass die von mir verwendete Sprache eine vor allem musikalische sei. Ich aktiviere beim Schreiben nicht vorsätzlich meine „Musikdrüsen“. Vielleicht ergibt sich das. Es kann aber schon sein, dass man sich zu sehr auf den Klang verlässt, der einen dann dorthin verführt, wo man gar nicht hin will und hin soll. Das kann passieren…

Baringer: Ein früherer Gedichtband trägt den Titel Der lange geduldige Blick. Was fördert dieser Blick nach Jahrzehnten zutage, sofern ein Zwischenergebnis konstatierbar ist?

Raimund: Es gibt eine Meditationsübung, die darin besteht, immer wieder die gleichen Wege zu gehen und jeden Tag minutiös die Veränderungen wahrzunehmen und festzuhalten. Das Ergebnis des langen geduldigen Blicks ist eine gewisse Erkenntnis, was das Wesen der Dinge und ihre Veränderung angeht. Wirklichkeit geduldig „anschauen“ und die richtige sprachliche Formulierung dafür finden: für beides braucht man Geduld – übrigens etwas, wozu ich mich, als Widder, immer wieder zwingen muss. Aber es kann ja sein, dass ich einmal aufhöre, mich um sprachliche Gestaltung zu bemühen. Ich werde aber dann noch immer gern einen Hund streicheln oder mit meiner Frau streiten oder das Ziehen der Wolken verfolgen. Komisch für mich: Manche können nicht aufhören mit dem, was sie ein Leben lang gemacht haben. Ein Siebzigjähriger, der noch Gedichte schreibt – ist das nicht absurd?

Baringer: Mayröcker oder Kundera sind immer noch aktiv. Warum macht man doch weiter?

Raimund: Ein Faszinosum der Lyrik besteht für mich darin, dass sie nutzlos ist. Diese sprachlichen Gebilde braucht niemand, will niemand… Es ist ein gewisses wollüstiges masochistisches Vergnügen, wenn einem zehn Zeilen, die man schön findet, gelungen sind. Aber es gibt dann immer wieder auch Texte, die man selbst gar nicht so gut findet, über die jemand sagt, sie hätten ihn besonders berührt. Vielleicht genügt es einfach, die Nichtbeachtung der Lyrik stoisch „auszusitzen“.

Tiroler Tageszeitung, 10.3.2015

 

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

David Axmann: Wider-Klang der Welt-Betrachtung
Wiener Zeitung, 3.4.2015

Fakten und Vermutungen zum Autor + Archiv
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Hans Raimund im Interview mit Gerhard Winkler für die Literatur-Edition-Niederösterreich am 13.4.1999 in Hochstraß.

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