Hans Thill: Ratgeber für Zeugleute

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Hans Thill: Ratgeber für Zeugleute

Thill-Ratgeber für Zeugleute

DAS GELD DER ABGESTORBENEN

1
Geld oder Geduld? Nominell. Es wächst
auf den Lichtungen. Wilde Münzen mit gezackten
aaaaaRändern,
Kletten an einem Hosenbein. Das grüne Flaschenglas
in Scherben auf den Wegen zum Heiligen Sand

2
in ihren Gräbern liegen die Gelder und arbeiten.
Sie nehmen es sich von den Abgestorbenen, bemalen
kostbares Papier.

3
Die Zahl ist ein runder, rasender Gedanke.
Eine Flüssigkeit zwischen fernen Ufern. Wo die
langhalsigen Leichtkräne ihren Durst stillen.
Wo die Tage kalt sind und dunkel.

4
Was sind das für Wasserflächen in den Gedanken
der kleinen Leute? Die Nachbarn haben seit Jahren
keine Landschaft geschmeckt, sie kennen
sich selbst schon zu gut (Bo).

5
Kleine Entfernungen, gemessen mit einem lächerlichen
Schuh. Das Geld ist kurz, seine Zeit rascher
als ein Schmerz.

6
Die Namen der Abgestorbenen, binäre Konstrukte
aus viel Fisch und wenig Honig. Algorithmen auf einen
allgemeinen Durst. Musik für ferne Lüfte usw. Fischart,
genannt Menzer. Das Wort erschrickt, wird
Schrift

7
Wer zu viel über den Knöpfen sitzt und sich prüft, hat bald
Risse im Haus und Wasser auf dem Acker. Mein Feld
ist die Welt (Wichner). Ich hacke und schneide
die Hecke in Sibiu, ich esse Bananen aus
dem Banat.

8
Ich trinke das Wasser der Unterwelt, ich fahre mit der
Geschwndigkeit eines Regentropfens in mein
Haus.

 

 

 

Wandern

Hans Thill, der Dichter, Übersetzer und Herausgeber, hat in den letzten zwanzig Jahren unermüdlich fremde Stimmen und Bildreiche in den hiesigen Sprachraum eingespeist: Gedichte aus Polen, Slowenien, Schweden, England, Ukraine, Belgien und der Türkei. Soeben ist mit Ratgeber für Zeugleute sein neuer Gedicht-Band erschienen. Einen Eintrag „Zeugleute“ gibt es nicht im Grimmschen Wörterbuch, dafür findet man das Wort in den Fantasie(vogel)welten eines August Klett, dessen Manuskripte sich in der Prinzhorn-Sammlung befinden.
Verse sind Übersetzungen – in Worte und Klänge übersetzte Erlebnisse, Einfälle und Erinnerungen („Ich sage das Wort, das seine Flügel faltet“), die Thill wieder und wieder dreht und wendet („Surensammler, Sammelsurium“), kollagiert und miteinander kollidierend ins Glühen bringt. Dabei entstehen beflügelte Zeilen

Von den Wäldern haben wir noch
Die Buchstaben. Der ruhige Schritt einer Eiche,
Reisig, das sich öffnet und schließt wie ein Herz,
eine Glastür am Flughafen

Jedes Gedicht trägt eine Schönheit mit sich, die es nicht gleich vorweist, sagt Ulf Stolterfoht, Hans Thills Verleger, und tatsächlich speist sich die Schönheit nicht zuletzt aus dem Eindruck des Nicht-Verstehens. Denn Schreiben kann Welten imaginieren, die „nichts sind als Luft“ (Paavo Haavikko).

Marie Luise Knott, perlentaucher.de, 3.8.2015

Diffuse Schönheit der Sprache

Liest man die neuen Gedichte des Heidelberger Lyrikers und Übersetzers Hans Thill, versammelt im Band Ratgeber für Zeugleute, hat man das Gefühl, eine rätselhafte Landschaft zu betreten. Surreal konfrontieren sie uns mit dem scheinbar Unerklärlichen:

Sprich nicht in diesem Ton
zu Fischen. Sei flüssigen Fußes
an Land und in Stürmen ein fester Schuh.
Fass dich gestikuliere. Nimm die Hände
vom Brot iss den Essig schluck das Wunder
in dein Kleid auf Beinen
(…).

Szenen wie diese im Gedicht „Fischpredigt“ weisen auf die Flüchtigkeit fester Gefüge von Körper und Sprache hin.
Der erste der sieben Zyklen, „Aus dem Babylonischen“, ist noch der Ästhetik eines Hans Arps und Hugo Balls verpflichtet. Die Bilder kommen auf den Leser zu wie Ausschnitte, entrissen aus einem größeren Zusammenhang menschlicher Urmythen. Spielerisch erkundet er zudem die Baupläne der Wörter, mit denen er seine Possen treibt:

… wir quirlten das Wolkenmaterial
quakten Küstenschwäbisch und ein
Gemisch aus
Kopfschütteln und Suaheli
(…)

Neue Möglichkeiten
In den folgenden Zyklen, die „Die Beamten des Himmels“, „Die kleinen Tagzeiten der Abgestorbenen“ sowie „Von den Wäldern“ heißen und denen Zitate von Edmond Jabès, Tristan Tzara oder Henri Michaux vorangestellt sind, hebt er allmählich die selbst auferlegten Regeln auf und klopft die poetische Sprache nach neuen Möglichkeiten ab. Immer mehr dient sie ihm zur Reflexion über die Vergänglichkeit und das eigene Ich:

Ich liege neben meinem Körper,
der sich übt in Schlaflosigkeit.
Er ist ein leuchtendes Boot, seine Organe
verschwinden, indem sie die Form
des Lichts annehmen.

Bildstark evoziert er Streifzüge durch Mannheim und Ludwigshafen und die hereinbrechende Dämmerung beim Überqueren des Rheins, dunkel die Vision im titelgebenden Gedicht „Ratgeber für Zeugleute“. Die Wortfügung „Zeugleute“ stammt vom schizophrenen Künstler Heinrich Klett aus der Heidelberger Prinzhorn-Sammlung. Auch die aktuelle Lyrik Hans Thills, Jahrgang 1954, bezieht ihre Schönheit aus dem Diffusen, Prekären, die viel Raum lassen, eigene Welten zu imaginieren.

Maria Herlo, Mannheimer Morgen, 28.10.2015

 

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Michael Braun:  Das heiße Fleisch der Wörter
signaturen-magazin.de

 

JOGGEN IN EDENKOBEN

heut schon so früh? das schwitzt und rennt durch den weinberg
die rheinebene ein dampfender see – damals im cambrium die trilobiten –
aus morgenglast, durchstochn von kirchturmspitzen, starkes
frühlingswetter, bin hier nur en passant, ihr lieben reben, kon
vergenzen in der zeitsituation, zufall, ihr wisst schon, auch wenn
ihr mono-kulti seid und winters ausschaut wie endlose soldaten
friedhöfe, ich ziehe die spaßbremse, schon steigt der saft in
mumifizierte ranken am wegrand, schwarz wie geringeltes schamhaar

den weinberg, wie gesagt, durchrannt, will auch ich auf der
anderen seite der scheibe stehen, die ungeheure gewölbte
leere dazwischen und spargelschutzfolien fern glitzernd
wie seen, so orientierungspunkte, schon aufgesogen
vom licht, an der weinberg-kreuzung aber lacht christus
am kreuz traubengeschmückt, später eine alle gesten
probierende grablegung dazu die an die glasscheibe ge
drückten hände, meine hand am glas, wer saugt an wem

aber stimmt das? zu hören das klappern der scheren im
wingert, auch latein, so sachen aus der heiligen messe eben
die stangen der reben stehen im nebel wie bürstenhaarschnitt
harren im zustand des es-gibt, aufgereiht und immer anders
betont von hang zu hang, noch gestern von voll-erntern durchpflügt
die ihren putz hackten und häckselten bis ein glazialer frühling
sie wieder ins blaue reißt, fortgesetzt, in die saftige nachtluft

Für Arthur Schütt und Hans Thill

Michael Speier

 

 

DIE FÜNF. Fragen an Hans Thill

Claudia Gabler: „Das Ölfass friert nicht“. Laudatio auf Hans Thill zum Basler Lyrikpreis 2021

Stefan Hölscher im Gespräch mit Hans Thill am 3.2.2021 bei TEN-4-POETRTY

Fakten und Vermutungen zum Autor + Facebook
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Galerie Foto Gezett +
Dirk Skiba Autorenporträts
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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Hans Thill

 

Hans Thill liest sein Gedicht „Kühle Religionen“.

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