Hans-Ulrich Treichel: Zu Bertolt Brechts Gedicht „Vom ertrunkenen Mädchen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Bertolt Brechts Gedicht „Vom ertrunkenen Mädchen“ aus Bertolt Brecht: Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band. –

 

 

 

 

BERTOLT BRECHT

Vom ertrunkenen Mädchen

1
Als sie ertrunken war und hinunterschwamm
Von den Bächen in die größeren Flüsse
Schien der Opal des Himmels sehr wundersam
Als ob er die Leiche begütigen müsse.

2
Tang und Algen hielten sich an ihr ein
So daß sie langsam viel schwerer ward.
Kühl die Fische schwammen an ihrem Bein
Pflanzen und Tiere beschwerten noch ihre letzte Fahrt.

3
Und der Himmel ward abends dunkel wie Rauch
Und hielt nachts mit den Sternen das Licht in Schwebe.
Aber früh ward er hell, daß es auch
Noch für sie Morgen und Abend gebe.

4
Als ihr bleicher Leib im Wasser verfaulet war
Geschah es (sehr langsam), daß Gott sie allmählich vergaß
Erst ihr Gesicht, dann die Hände und ganz zuletzt erst ihr Haar.
Dann ward sie Aas in Flüssen mit vielem Aas.

 

Gesang vom Vergessen

Seit Shakespeares Ophelia ins Wasser ging, treibt ihre Gestalt noch immer durch die imaginären Flußlandschaften der Poesie und der Malerei. Doch anders als in den erotischen und schönheitstrunkenen Ophelienbildern des Symbolismus und des Jugendstils ist Ophelia in Brechts Gedicht nicht mehr die schöne Braut, die unversehrt und einer weißen Lilie gleich in den Armen der Elemente ruht und den Strom der Zeiten hinabtreibt.
Brecht nimmt auf radikale Weise Abschied vom Bild der schönen Toten, und er tut dies auf unmerkliche, sanfte und gleichsam schwebende Weise. „Sehr langsam“ und im Adagio treibt die Tote „von den Bächen in die größeren Flüsse“ und schließlich dorthin, wo alles organische Leben endet, in Verwesung und Fäulnis. Ohne das Pathos des Sterbens, denn gestorben wird in diesem Gedicht nicht mehr, überführt der Autor das tote Mädchen aus dem Reich der Menschen in das der Tiere und Pflanzen, um es schließlich gänzlich der Verwesung preiszugeben und gleichzumachen mit allem, was einmal lebte und nun verdirbt.
Brechts Ballade „Vom ertrunkenen Mädchen“ gehört in den Kontext seines frühen Stückes Baal, dessen erste Fassung 1923 in Leipzig uraufgeführt wurde. Hier ist es der zynische und asoziale Dichter Baal, der in dem Gedicht das Schicksal seiner Geliebten Johanna besingt, die sich, von Baal verführt und entehrt, in den Fluß stürzt und ertränkt. 1927 nahm Brecht das Gedicht in seine Sammlung Hauspostille auf, die bekanntlich in „Lektionen“ gegliedert ist. Doch die Lektion, die Brechts böser Baal uns mit auf den Weg gibt und die lautet, daß die Liebe wie eine Kokosnuß ist, „die gut ist, solange sie frisch ist, und die man ausspeien muß, wenn der Saft ausgequetscht ist“, und daß die Geliebte, „wenn du sie beschlafen hast“, nur noch „ein Haufen Fleisch“ ist, „der kein Gesicht mehr hat“ – diese Lektion aus dem Wörterbuch des Frauenhassers Baal erreicht den Leser der Hauspostille nicht mehr.
Denn die, die einmal Johanna hieß, hat nun keinen Namen mehr, und mit ihrem Namen ist auch die Erinnerung an ihr Schicksal getilgt. Das ertrunkene Mädchen ist nur noch „Leiche“ und ihr Tod nur noch ein Verwesen, eingefügt in den Kreislauf eines unerbittlichen, alle individuellen Lebensformen tilgenden natürlichen Verfalls. Doch damit nicht genug. Auch der letzte Trost wird ihr und uns versagt: mit dem menschlichen Leib zerfällt auch das Gedächtnis Gottes.
Es ist ein doppelter Prozeß der Verwesung, den Brecht hier lyrisch ins Bild setzt. Dem Verfaulen folgt das Vergessen, und ein Gott, der vergißt, ist kein allmächtiger, sondern selbst ein sterbender, zerfallender Gott. So wird das Gedicht vom ertrunkenen Mädchen am Ende zu einem über den Tod dieses Mädchens in Gott, ja über den Tod Gottes selbst. Was bleibt, ist die einfache, schreckliche Wahrheit, daß niemand weiß, daß wir da sind und waren, und daß über den Wolken nichts ist.

Hans-Ulrich Treichelaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebzehnter Band, Insel Verlag, 1994

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