Hans-Ulrich Treichel: Zu Gottfried Benns Gedicht „Gesänge“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Gottfried Benns Gedicht „Gesänge“ aus Gottfried Benn: Sämtliche Gedichte. 

 

 

 

 

GOTTFRIED BENN

Gesänge

1.
Oh, dass wir unsre Ur-ur-ahnen wären.
Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor.
Leben und Tod, Befruchten und Gebären
Glitte aus unseren stummen Säften vor.

Ein Algenblatt oder ein Dünenhügel:
Vom Wind geformtes und nach unten schwer.
Schon ein Libellenkopf, ein Möwenflügel
Wäre zu weit und litte schon zu sehr. –

2.
Verächtlich sind die Liebenden, die Spötter,
Alles Verzweifeln, Sehnsucht und wer hofft.
Wir sind so schmerzliche, durchseuchte Götter. –
Und dennoch denken wir des Gottes oft.

Die weiche Bucht. Die dunklen Wälderträume.
Die Sterne schneeballblütengross und schwer.
Die Panther springen lautlos durch die Bäume.
Alles ist Ufer. Ewig ruft das Meer. –

 

Traum von der Schmerzlosigkeit

„Öffentlich oder geheim / … / Schleim bleibt Schleim“ – mit diesen Zeilen ließ Robert Neumann eine lyrische Benn-Parodie enden. Bertolt Brecht kommentierte 1928 in einer mit „Benn“ betitelten Notiz:

Dieser Schleim legt Wert darauf, mindestens eine halbe Million Jahre alt zu sein. (…) Ein Schleim von höchstem Adel.

Und schließlich warf Klaus Mann 1938 aus bester antifaschistischer Absicht heraus Gottfried Benn „billige Urschleim-Schwärmerei“ vor, die für ihn zugleich ein weiteres Indiz der „Selbstvernichtung eines Intellektuellen“ war.
So viel polemische Aufregung, und alles nur wegen dieses für sich genommen doch eher harmlosen „Klümpchens Schleim in einem warmen Moor“? Doch „für sich“ und bloß wörtlich nehmen wollte Benns Verse eben niemand. Man wollte den Text viel lieber als Bekenntnis zum Antihumanen und Animalisch-Vegetativen lesen, als Reduktion des Menschen auf den Pegelstand der Säfte und als lyrische Feier dessen, was Benn selbst anderswo die „thalassale Regression“ genannt hat.
Über Benns „Gesänge“, die zuerst im Februar 1913 in der Zeitschrift Die Aktion erschienen waren und mit der Aufnahme in Kurt Pinthus’ Menschheitsdämmerung Kanonwürde erhalten hatten, war sogar Theodor W. Adorno mit Georg Lukács in Streit geraten, wobei Lukács dem Gedicht „Verherrlichung des Abnormalen“ und „Antihumanismus“ vorwarf, während Adorno den Text zwar „recht bescheiden“ nannte, ihm aber zugute hielt, daß dessen „Sehnsucht nach der Urzeit“ dem „unerträglichen Druck des Gegenwärtigen“ entspreche.
Von Lukács und Adorno kannte ich allenfalls die Namen, als mir das Gedicht während meiner Schulzeit zum erstenmal begegnet war. Nicht im Deutschunterricht allerdings, und auch ohne daß ich wußte, daß Hans Egon Holthusen den Text als „eines der schönsten Gedichte der Epoche“ gepriesen hatte.
Man konnte das Gedicht ja trotzdem mögen – und ich hatte es gemocht. Besonders die ersten beiden Strophen. Das waren „meine“ Gesänge. Sie drückten einen Wunsch aus, der auch in mir zuweilen aufgestiegen war, wenn die jugendliche Ich-Last zu schwer schien. Benns Verse träumten in vollendeter Reimform den Traum der Empfindungs- und Schmerzlosigkeit, wenn Liebeskummer, Weltschmerz sowie Selbstzweifel jeder Art dem jungen Menschen zugesetzt hatten und er sich in maßloser Selbstüberschätzung verletzlich wie ein Libellenflügel wähnte.
Das Gedicht hatte allerdings noch zwei weitere Strophen, von denen ich die dritte sozusagen durchgehen ließ, auch wenn sie mir zu sehr ins Allgemeine auszuweichen schien, wogegen mir die vierte aber insofern einen weiteren Kummer hinzufügte, als ich darin keine gelungene Lyrik, sondern eine aufdringliche symbolistische Landschaftstapete sah, geeignet allenfalls für den Wintergarten oder das Zoocafé. Den Vogel schoß jedoch, um im Bild zu bleiben, die letzte Zeile ab, die nach Heimatroman und Gulbranssons Und ewig singen die Wälder klang.
Heute glaube ich, auch deren unfreiwillige Botschaft entziffern zu können: daß jede Regression ihren Preis hat und daß der literarische Traum von der Rückkehr ins Schmerzlos-Vorindividuelle zwar nicht immer politisches Unheil anstiften muß, oft genug aber im Regal mit der Saisonware landet.

Hans-Ulrich Treichelaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Achtundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2005

1 Antwort : Hans-Ulrich Treichel: Zu Gottfried Benns Gedicht „Gesänge“”

  1. Johannes Henning sagt:

    Immerhin: „Sagen Sie / Ihm, daß er für die Träume seiner Jugend / soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird… “ (Marquis Posa) – das mag auch für Benns Albtraum an der Ich-Last gelten, auf die er seine entgrenzende, begrenzende Ich-Kathedrale errichtete, den Gegenpol zur Ichfindung qua Icheinpassung in die Internalisierungen der Erwachsenen-Welt von Produktions- und Reproduktionsprozessen – und wohin führt das, wenn das Ich zur Waffe des Anthropozän wird und die Welt als Gewinnmaximierungsprojekt behandelt?
    Ewig singen nicht nur die Wälder, das große Lalelu der Tapetenlandschaft ewigen Fortschritts und Wachstums tut es auch, der Ich-Wahn durchseuchter Götter, die – anders als Benn – ihre Durchseuchung kognitiv dissonant in die Schmerzlosigkeit überführen. Regression? Welche schlimmere lässt sich vorstellen als die Regression der Erde zum unbewohnbaren Planeten?
    Zum Gruß Johannes Henning

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00