Harald Gerlach: Sprung ins Hafermeer

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Harald Gerlach: Sprung ins Hafermeer

Gerlach-Sprung ins Hafermeer

WETTERBERICHT

Der Berg ist unzuverlässig
geworden – die Wetter
übergehen seine Behauptungen.

Das Herbstlaub verblättert
die Lesezeichen im
Hundertjährigen.

Unsere Verse haben wir
winterfest gemacht und
die Offenställe
zu den Akten gelegt.

Trotz schwieriger Jahreszeiten
gelingt uns
jährlich ein Frühling.

 

 

 

Barfuß über die Alpen oder Die Landnahme

1969 veröffentlichte die Neue Deutsche Literatur acht Gedichte Harald Gerlachs. „Noch einer, der auf gut bobrowskisch in die Literatur eintritt?“ konnte man sich fragen. Zweifellos ist er zunächst dem Vorbild dicht auf den Fersen. Aber Bobrowski, dessen Lyrik und Prosa neben Babels Reitergeschichten zu seinem ersten nachhaltigen Leseerlebnis zählt, hat ihm die Zunge gelöst. Der Sprache einmal mächtig geworden, vermag er sich mehr und mehr von seinem Leitbild abzustoßen und seinen Gedichten eigenen Klang zu geben.
Schlesien als biographischer Ursprung und das südthüringische Grabfeld sind die beiden ergiebigsten Quellen für Gerlachs Poesie. Das eng begrenzte Gebiet um die Gleichberge stellt dabei so etwas wie einen ruhenden Pol in dem dreiteiligen Zyklus dar. Wie ein ruhender Pol nimmt sich auch die Grabfeldzeit in der an schwungvollen Kurven reichen Lebenslinie aus. Die vielen Abenteuer, die auf seinen verschlungenen Wegen zu bestehen waren, sind ihm nicht anzusehen. Nach dem Abitur, das er 1958 in Meiningen ablegte, und einer bald abgebrochenen Schriftsetzerlehre arbeitet er – mit dem Ziel, Journalistik zu studieren – ein Jahr im Römhilder Basaltsteinbruch. Anschließend volontiert er in der Landwirtschaftsredaktion einer Zeitung. Auf den Reporterfahrten von Dorf zu Dorf erschließt sich ihm die südthüringische Landschaft komplex in ihrer sozialen und topographischen Struktur. Das Studium bricht er noch vor Ende des ersten Semesters ab. Er sieht unüberwindliche Schwierigkeiten, fühlt sich fremd und fehl am Platze. Enttäuscht und ratlos springt er Hals über Kopf ins Abenteuer: zieht als Tramp von Westdeutschland aus über die Alpen. Sein spontaner Römerzug führt vom Brenner zum Gardasee. Zu Fuß durchquert er die Poebene, erreicht über Verona, Mantua, Parma Genua, läuft dann am Mittelmeer entlang bis Cannes, Da sich kein Auto via Paris findet, entschließt er sich zu einer Kursänderung. Er geht per pedes apostolorum auf menschenleeren Gebirgsstraßen durch die winterliche Provence und Dauphiné. Abgebrannt, abgerissen und ausgehungert kommt er von Grenoble nach Genf. Aber die Schweizer in ihrem spießigen Wohlstand zeigen dem völlig Mittellosen die kalte Schulter. Das romantische Abenteuer hatte ihn bis an die Grenzen der Existenzmöglichkeit geführt. Ernüchtert tritt er auf kürzestem Weg den Rückmarsch nach Thüringen an. Von Lörrach aus schlägt er sich von Obdachlosenasyl zu Obdachlosenasyl bis zur Grenze durch. Nach seiner Rückkehr in die DDR arbeitet er vorübergehend in einer Kiesgrube, versieht dann für ein Jahr das Amt eines Totengräbers, ehe er, frühere, abgerissene Kontakte aufnehmend, zum Theater überwechselt, wo er Bühnenhandwerker wird, später Theatermeister. Nachdem er einmal vor sich selbst davongelaufen war, führt ihn nun in diesem Metier der Weg stetig zu sich selbst. Der häufige Szenenwechsel in der eigenen Biographie hat ihn erst verhältnismäßig spät an Literatur denken lassen. Es hat lange gedauert, bis er zum Schreiben kam, bis er begann, sich Rechenschaft zu geben über sein kurvenreiches Leben. Sich selbst gestaltend, gab er nun seinem Leben eine Richtung. Die Landschaft, in der er aufgewachsen war, wurde zum Fundament, auf das er bauen konnte. Von hier aus vermochte er weiter auszugreifen und den Konnex mit der Welt herzustellen.
Im Grabfeld, das mit seinen ausdrucksreichen volkskünstlerischen Fachwerkbauten schon deutlich fränkischen Einschlag aufweist, lebte Gerlach bis 1960. Zunächst in Haina, seit 1950 im dörflich-kleinstädtischen Römhild, wo sein Vater, der sich zuvor als Schuhmacher und Drechsler durchgeschlagen hatte, Erzieher in einem Jugendwerkhof geworden war. Von dieser an Geschichte überreichen Bauernlandschaft, in der keltische Siedler zahlreiche Spuren hinterließen, in der jedes Schulkind annähernd über Hallstatt- und La-Tène-Zeit Bescheid weiß, ergreift Gerlach poetisch Besitz. Die Landnahme vollzieht sich als menschlicher Aufstieg, als ein Prozeß der Bewußtwerdung. Ihm, der sich in vielen Berufen versucht hat, fällt es nun nicht schwer, Bilder tätiger Menschen zu entwerfen. In dem Maße, in dem es ihm gelingt, soziale Strukturen freizulegen, trifft er auch das unverwechselbare Gepräge der Landschaft. Einst hatte ihm ein passionierter Volkskundler die Lokalgeschichte nahegebracht. Ein emeritierter Oberförster, der in idyllischer Abgeschiedenheit an einem der beiden Gleichberge als Einsiedler in einem Blockhause lebte, hatte ihm im Laufe von drei Jahren auf den „Vogelwegen“ die heimische Flora und Fauna erschlossen.
Diese Anregungen kommen ihm bei der literarischen Gestaltung seines Themas zustatten. Vom Grabfeld aus als Ort heimatlicher Geborgenheit, als Mittelpunkt der Welt, kann er zurückblicken.
Als er im Frühjahr 1945 nach zahllosen Kreuz- und Querfahrten, zuletzt zu Fuß aus der Lausitz kommend, in einem der südlichsten Zipfel Thüringens anlangte, lag eine Odyssee hinter ihm. Er hatte den Untergang Dresdens miterlebt, war wochenlang mit dem Vater auf einem Lastkraftwagen unterwegs, der zwischen Karlsbad und Görlitz, zwischen Görlitz und Bischofswerda herumirrte. Auf den mit Trecks und zurückflutenden Heeresteilen der Hitlerwehrmacht verstopften Straßen boten sich überall nur Bilder des Schreckens und Grauens, die das Fassungsvermögen des Kindes weit überstiegen. Die Kriegs- und Nachkriegswirren hatten ihn gründlich ausgebeutelt, von einer ehemals „behüteten“ Kindheit hatte sich jede Spur verloren. Die Gedichte deuten diesen ersten Lebensumbruch nur an. Stärker akzentuiert wird die Zeit davor und danach. Im „Hof aus Kinderjahren“ erinnert er sich der frühen Jahre, die er zum großen Teil in Kittlitztreben am Bober in der Niederschlesischen Heide (Bory Dolnošlaskie) bei den Großeltern verbrachte. Sein „Mann Heinrich“, um mit Helga Schütz zu reden, lebte dort als ackerbautreibender Dorfschuster, die Großmutter arbeitete als Kernmacherin in einer Stahlgießerei. Die Liebe zum Glas muß ihm der andere Großvater vererbt haben, der als Eierhändler im Land umherzog und auf seinen Streifzügen schöne Gläser sammelte.
Um das Verhältnis der Deutschen zu den östlichen Nachbarvölkern, das im autobiographischen Bezug nur anklingen kann, deutlicher sichtbar zu machen, greift Gerlach in die Geschichte zurück. Dabei wird die Herkunftslandschaft bis ins oberschlesische Kohlenrevier beziehungsweise bis ins oberschlesisch-mährische Grenzgebiet ausgedehnt, aus letzterem stammen Janáček, Bezruč und Łysohorsky, zu denen eine teils geheime, teils offene Korrespondenz besteht.
Auf einer Winterreise durch Polen, die bis Katowice und Bytom führt, kehrt Gerlach nach fünfundzwanzig Jahren erstmals an den Ort der frühen Kindheit zurück. Der Besucher kommt mit offenen Händen als Freund zu Freunden. Im Gegensatz zu jenen, die die historische Realität ignorieren und über Jahrzehnte hin einen revanchistischen Heimwehkult treiben, ist Gerlachs Polenbild frei von Vorurteilen und über jeden Verdacht des Ressentiments erhaben. Sein Blick ist unverstellt. In der Auseinandersetzung mit der Polen-Thematik bestimmt er seinen Standort. Im dialektischen Wechselspiel, das in der Dreiteilung angelegt ist, entfaltet sich das lyrische Ich von Stufe zu Stufe, so daß sich die Weltaneignung als schöpferischer Prozeß abzeichnet. Die geographischen Pole, die zu Beginn und am Ende markiert werden, decken sich zwar nominell, zeigen aber gleichzeitig mit Hilfe der historischen Dimension den gravierenden Unterschied: vom Grabfeld als „prägnantem Punkt“ führt eine Achse nach Polen, die eine Achse zur Welt ist.

Wulf Kirsten, Nachwort

 

Harald Gerlach

redet dem Dorf das Wort. Er zählt Korn- und Kleejahre auf, sagt die Melkzeit an, zieht Saatfurchen, hält „gebündeltes Licht“ feil. Ihm, der selbst viele Berufe ausprobiert hat, fällt es nicht schwer, tätige Menschen zu porträtieren. Jeder Handgriff ist genau studiert. Die Detailtreue und der Sprachreichtum, der ein exaktes Benennen möglich macht, geben seinen Bauern und Bergleuten, seinen Glasbläsern und Steinbrechern anschauliche Lebensechtheit. Gerlachs lyrische Landnahme vollzieht sich als ein Prozeß menschlichen Aufstiegs. Mit einem vitalen „Sprung ins Hafermeer“ verursacht er, sich und der Welt, soweit er sie aus eigener Anschauung kennt, auf den Grund zu kommen. Forschend und fragend „tritt er in die Erinnerung ein“. In eindringlichen Bildern läßt er die Stationen seiner Kindheit vorüberziehen. Er schlägt in der Geschichte nach und zeigt mit exemplarischen Beispielen aus den „Zeiten der Verschuldung“ den kontrastreichen gesellschaftlichen Hintergrund. Vergangenheit und Gegenwart durchdringen sich so zu einem vielgestaltigen poetischen Lebensbericht und lassen seine Landschaftsgedichte zu einem glaubwürdigen Beitrag zum Weltverständnis werden.

Aufbau Verlag, Klappentext, 1972

 

Beitrag zu diesem Buch:

Jürgen Engler: Landschaft und Biographie
Neue Deutsche Literatur, Heft 4, 1975

 

Die Toten haben den längsten Atem

Seine Worte kommen von weit her und träumen sich an den verborgenen Daseinsgrund heran. „Die Toten haben den längsten Atem“, wußte er schon früh, und er setzte auf sie, gab ihnen sein Wort. Außenseitern, wie den Dichtern Johann Christian Günther und Johann Peter Uz, den Mystikern Quirinus Kuhlmann, Hans Hut und Jakob Böhme mit seiner „Morgenröthe im Aufgang“, in der eine Liebe die andere rühret und ein Geist im anderen wirket. Der Atem seiner Toten trug Harald Gerlach durch die DDR. Mit ihrem Pneuma widerstand er ideologischer Verführ- und Verfügbarkeit. Harald Gerlachs Vaterland ist Schlesien, sein Mutterland Thüringen, seine Lebenslandschaft seit 1992 die Kurpfalz. Alle drei Gegenden sind weniger als Deutschland und doch mehr. In dieser Dreifaltigkeit könnte sein Leben aufgehen. Das frühe Bild der Kindheit, das in der Flucht von 1945 endet, und das späte Bild der Ankunft in der frühen Kindheit der Eichendorff-Töne, zusammengehalten von Gerlachs Jugenderfahrung mit der mütterlichen Gegend unter dem Zwillingspaar der Gleichberge, auf dessen einem Gipfel der 24jährige Hofmeister Hölderlin 1794 sein Schwaben erblickt haben will. Eine Weitsicht des Herzens, die Harald Gerlach zu seinem literarischen Prinzip erhob.
In Leimen an der südlichen Bergstraße, wo Gerlach heute wohnt, hatte vor wenigen Jahrzehnten noch jeder seinen Weingarten. Nun sind sie mit Eigenheimen bebaut. Mitten in der Stadt an der einstigen Römerstraße ist nur einer übriggeblieben. Wie ein Stück Erinnerung wirkt er und zugleich wie das Zeichen einer Sehnsucht, daß nicht ausgelöscht wird, was einmal begonnen wurde. Aus solchem Sehnsuchtsholz sind die Geschichten des Dichters Gerlach, der Handwerk immer wieder als Kunstausübung beschreibt. Der 68jährige Norbert Schleidt, dem die 400 Quadratmeter Weingarten vor seinem Haus gehören, ist kein großer Bücherleser. Aber er weiß eines ganz sicher: Der Fremde ist ein Einheimischer.
Norbert Schleidt und Harald Gerlach stehen zwischen den Weinstöcken, biegen die Ruten, beschneiden sie, düngen, lesen die Trauben, trennen die Trauben vom Stiel, raspeln und pressen sie, keltern und füllen den Wein in Flaschen ab. Vereint sind sie in der Leidenschaft für summa summarum 600 Liter Wein. „Harald, du kannst jetzt alles“, sagt der Rentner Schleidt.

Du übernimmst den Weingarten, und ich werde dein Berater.

Metaphorisch gesagt: Die Arche Gerlach mit Mann, Frau, drei Kindern, drei Katzen, fünf Meerschweinchen und einem Kanarienvogel geht vor Anker. Weinbau wie am Ararat. Harald Gerlach wohnt mit seiner Familie drei Häuser weit entfernt von Norbert Schleidt – in einem Abbruchhaus, das jetzt unter Denkmalschutz gestellt wurde. Nun wird es bleiben, und Harald Gerlach kann auch bleiben. Der Mietvertrag, bisher von Jahr zu Jahr verlängert, wird langfristig umgestellt. Oberbürgermeister Herbert Ehrbar will den Dichter in diesem Haus halten, sagt er. Es ist ein altes Winzerhaus über einem Weinkeller von 1610. Auch hier ist Harald Gerlach in seiner Geschichte angekommen, die er tief in die Jahrhunderte in seinen Büchern zurückverfolgt hat.
Zufälle, die wie lauter Fügungen daherkommen. Nach der Wende von 1989 mußte er in Thüringen damit rechnen, daß ein westdeutscher Alteigentümer ihm kündigen würde. Er ging, bevor er vertrieben wurde. Ein einjähriges Stipendium in Heinrich Vogelers und Paula Modersohns Worpswede gab ihm eine Verschnaufpause. Ein Redakteur des Süddeutschen Rundfunks in Heidelberg, für den er Hörfolgen schrieb, machte ihn auf ein leerstehendes Haus aufmerksam. Gerlach ging zur Bürgersprechstunde Herbert Ehrbars, und der reagierte spontan:

Ich habe soviel Ausländer unterzubringen, warum nicht einmal einen deutschen Dichter.

Der deutsche Dichter Harald Gerlach hat in der DDR ein Dutzend Bücher geschrieben: Erzählungen, Gedichte und Theaterstücke. Allem ideologischen Denken fern, ist Gerlach in der DDR nie ein akzeptierter Autor geworden. Perspektivlosigkeit und Geschichtspessimismus ist ihm immer wieder vorgeworfen worden. Wahr daran ist, daß er die Diktatur des Ideals durchschaute und den Weg des SED-Systems als eine Höllenfahrt ins Unverzeihliche erkannte. In seiner Literatur beharrte er auf Differenz, Widerspruch und Anderssein und verteidigte alle Fremdheiten gegen Aneignung und Zerstörung. In der Dimension des Scheiterns entdeckte er den Motor des Glücksmoments.
So gelangen Harald Gerlach Bücher des Entrinnens im Gefangensein. Aber im Wissen um die Kluft zwischen dem, der wir gestern nicht gewesen sind, und dem, der wir morgen nicht sein werden, weiß er, daß weder die Katastrophe befreit noch, daß es einen späteren Ausgleich für Unglück gibt. Die Versuchung des Eingreifenwollens erledigt sich bei solch einer Haltung, aber nicht das Leben als ein Mitleben im Widerstand. Solch Widerstand nimmt die Leiden auch der Verführten wahr. „Die Geschichten reden“, schreibt Gerlach.

Sie wollen nicht erklären.

Schon das war in der DDR verdächtig genug. Ganz konnte Harald Gerlach sein Wort gegenüber seinen Toten erst nach dem Fall der DDR einlösen. Im Poesiealbum 56 und dem Gedichtband Sprung ins Hafermeer, seinen Erstlingswerken, ist er den „verlorenen Pfaden“ Schlesiens nachgegangen. Doch der Weg aus dem Gedicht in die Prosa war, was das Vertreibungsthema anbelangte, immer nur partiell möglich. So als Hintergrund in seiner Erzählung Das Graupenhaus, das die Erziehung verwahrloster Kriegskinder zum Inhalt hat.
Der kompromißlose Rückgriff auf die eigene Subjektivität, mit der Flucht und Vertreibung in Beziehung gesetzt werden zu einem rasanten Verlust von Lebenswelten, geschuldet einem ideologieübergreifenden Fortschrittsdenken, war erst im Bruch der Geschichte von 1989 möglich. Der Bruch war notwendig, um jene Geschichte der Vorfahren Gerlachs über Generationen und Jahrhunderte hinweg bis heute zu erzählen, die damit beginnt, daß der Silberbergbau im Erzgebirge zu Anfang des 17. Jahrhunderts dem Ende entgegengeht und sich einer aufmacht, in Niederschlesien sein Glück zu suchen. Windstimmen heißt der Roman aus dem Jahre 1997.
„Immer, wenn etwas anfängt, hoffen die Leute: jetzt wird alles besser. Jedoch müssen sie feststellen, daß diese Hoffnung trügerisch war“, schreibt Harald Gerlach und zieht mit den schlesischen Mythen und Märchen auch den philosophierenden Schuster Jakob Böhme (1575–1624) aus Görlitz zu Rate. Jenseits und Diesseits – eine Einheit, lautet dessen Botschaft, die noch der kleine Benjamin als Nachfahre hört, wundergesättigt und wundersüchtig nach der Flucht von 1945, in eine neue Welt eintretend, die sich Sozialismus nennt. In eine Wunderzerstörungswelt.
Der Reduzierung des Menschen setzt dieser Benjamin seinen alten menschenbildenden, menschlichkeitserweiternden schlesischen Blick entgegen. Er sieht diese Menschen in der Erfahrung zweier Ausgeburten der Aufklärung – ärmlich und erbärmlich zugerichtet, sich nach der Fülle des Lebens verzehrend, in einer Sehnsucht, die sie 1989 ausgezehrt zurückläßt in der Unaufholbarkeit des Jetzt. Das Dilemma: Der Schmerz, der sich dabei einstellt, löst nicht ab. Die Wut über ein verfehltes Dasein, die sich blindlings ihren Gegner sucht, wird von Gerlach zurückgeführt auf Hilflosigkeit, die man an sich merkt und nicht eingestehen will.
Gerlachs Benjamin, der DDR-Bürger, ist keine selbstmörderische Figur, und doch setzt er sein Leben aufs Spiel, indem er es als sein eigenes behauptet. „In Schlesien hat man gelernt, mit dem Schmerz zu leben“, weiß Benjamin.

Schlesien ist Grenzland, seine Geschichte ist von Grausamkeit gezeichnet und mit Blut ausgemalt. Im Dunkel der Vergangenheit werden Säuglinge in siedendes Öl geworfen, Ungehorsame in Stroh gehüllt und zu lebenden Fackeln entzündet. Martini 1293 überfällt der Glogauer Herzog am Oderufer seinen Vetter Heinrich V. im Bade. Er schleppt ihn nach Burg Sandewalde bei Guhrau, später nach Glogau. Sperrt ihn in einen hölzernen Käfig, in dem der Gefangene weder stehen noch sitzen noch liegen kann und bei lebendigem Leib ein Fraß der Würmer wird.

Nischte asunste is schwar wies Labn.

Mit diesem banal klingenden Satz der Alten ist Benjamin aufgewachsen.

Eine Lilie blühet über Berg und Tal, an allen Enden der Welt. Wer suchet, der findet.

Benjamin kann nicht sagen, wie oft er das schon gelesen hat. Jakob Böhme, den der Anblick des in einem dunklen Zinngerät sich spiegelnden und dadurch erst hell erscheinenden Sonnenlichts auf die Idee bringt, daß das Gute des Bösen bedarf und daß erst beider Zusammenwirken die Welt bewegt.

Wir leben bloß in dem Moment, in dem wir begreifen, daß es das Leben nicht geben wird, auf das wir gewartet haben.

Wer von Benjamins Vorfahren hat das gesagt?
Harald Gerlach, der Dichter, hat die nachbarliche Stimme Franz Kafkas im Ohr:

Wenn auch keine Erlösung kommt, so will ich doch in jedem Augenblick meines Lebens ihrer würdig sein.

Und er hört aus der Provence die Stimme René Chars:

Vor allem dann, wenn es Gott nicht gibt, darf man ihn nicht aus dem Auge verlieren.

Abendländisches Denken der Kontinuität im Zerstückelungsprozeß der Moderne. Geschichtsmächtiges Denken als Voraussetzung für eigenmächtiges Leben. Mit diesem Denken stattet Gerlach seinen Benjamin aus. Und mit der Ahnung: Niemand hört mit seinem Tode in sich selbst auf.
In einem Furor des Erzählens und Phantasierens öffnet Gerlach die moderne Welt des Selbstgemachten hin zu einem Außerhalb. In die Landschaft seiner gestalthaften Sprache schickt er seinem Benjamin dessen schlesische Vorfahren als leibhaftige Begleiter, Wiedergänger in johanneischem Sinne: In der Welt, aber nicht von der Welt. Der Ablauf der Zeit, verwandelt in Bleiben, im Bleiben der Erlösungsbedürftigkeit.
„Erlösen kann die Figuren nur das Erzählen“, sagt Harald Gerlach.

Sie müssen die alten Geschichten noch einmal befragen, um die neueren genauer erzählen zu können. In diesem Nicht-zur-Ruhe-Kommen sehe ich nicht nur einen Fluch, sondern auch eine offene, wache Haltung gegenüber der Welt.

Gerlach beschreibt seine Toten mit dem langen Atem hinreißend lebendig in ihrer kantigen Art, in ihrem Glauben und Aberglauben, in Liebe, Haß und Schuld, in ihrem Beharren auf Bodenständigkeit als Grund des Lebens, in ihrem Wissen, daß alle Siege davongetragen werden.
„Die Normalität ist das Scheitern“, schreibt Harald Gerlach. Seine Schlesier sind Gescheiterte. Gescheitert im Kern immer in und an der Liebe. Die Wahrheit, die nichts mit der Liebe zu tun hat, ist allzu sterblich, stirbt zuerst. Und dort, wo sich einer wappnet mit Jakob Böhme, in dem Liebe und Wahrheit zusammenfallen, stirbt er im KZ. Wo jemand in der Erinnerung an die Lieder der Jugendbewegung lebt und sich aufmacht zum Hohen Meißner, zu seinem „Ölberg“, wird er an der Zonengrenze erschossen.
Der Rückblick Gerlachs auf die schlesische Geschichte ist kein Versuch künstlicher Mythenschöpfung. Doch die Werterfahrungen der Alten werden nicht zum alten Eisen geworfen. Die Naturhaftigkeit, die Gerlach entfaltet, spielt mit keiner Überhöhung des Gesunden und Starken. Was die Moderne einseitig verfolgte, wie das Elementarsinnliche von Wedekind bis Henry Miller, wie die Rohheit der Natur mit Blut, Kot, Gestank und Fäulnis bei Gottfried Benn, wie das Vorlogische, Primitive bei Ernst Ludwig Kirchner und seinen Freunden, das führt Gerlach wieder zurück ins Gebundene, in die Vielschichtigkeit.
Harald Gerlach bleibt in der Tradition alter Erzählweisen, nutzt Legende, Märchen und Moritat zu einem Ton, der seine Geschichte bis ins Ende des 20. Jahrhunderts trägt. Er schöpft aus einem Sprachschatz, als seien die Vorfahren Buchstaben eines lebendigen Wortes. Das Wahrheitsmoment erzählten Daseins ist allein die Liebe als unsere einzige Freiheit. Die Liebe als das Jenseits von: Es muß sein. Die Liebe, die unberechenbar ist und jeder Aufklärung trotzt. Sie ist für Gerlach auch logisch nicht ableitbare Heimsuchung.
„Wer in der Liebe den Mund auftut, dem wischt ein blaues Wölkchen heraus – das ist der Verstand“, läßt er seine langlebigen Toten spintisieren.

Aber wer bringt es schon fertig, dabei bis zum Ende die Lippen verschlossen zu halten? Und darum ist Liebe eben dumm.

Oder:

Erst wenn du gar nichts mehr erwartest, kannst du auf die Welt gucken, ohne daß es gleich weh tut. Und dann ist sie manchmal sogar schön.

Oder:

Die Erinnerung ist ein einziger Betrug. Sie gaukelt uns vor, es hätte mal ein Maß gegeben, nach dem sich alles zu richten hat. Aber wahrscheinlich gab es das nie. Und woran wir uns erinnern, das ist bloß unsere Sehnsucht, daß es sowas geben möchte.

Mit einer Chronik des Gewinns von Verlusten geht Gerlachs Benjamin durch das Jahr 1989 hindurch – in die „neue Zeit“, berührt von den Hoffnungen der Leute, das abgewirtschaftete System ließe sich umwandeln in ein gerechtes Gemeinwesen.

Die Idee der Aufklärung hebt auf ihre alten Tage noch einmal den wackligen Kopf, der kleine Mann erklärt sich bedenkenlos zum mündigen Bürger und ruft nach Demokratie. Zeit wie Ewigkeit, denkt Benjamin.

Und er denkt an Böhme:

Wem Zeit wie Ewigkeit
Und Ewigkeit wie Zeit,
Der ist befreit
Von allem Streit.

Der Schmerz löst sich. Wer in der Geschichte bleibt, geht. Er ist ein Wanderer auf der Straße des Lebens. Er wartet nicht auf eine verheißene „güldene Zeit“. Er findet sie in der Bewegung als einen Moment, der gelebt werden will und nicht bedacht. Als der 49jährige Schriftsteller erblindete, lehnte das DDR-System jegliche Hilfe ab. Eine Transplantation in Westberlin 1989 rettete ihn.
In Leimen fand er die Distanz und Nähe, auch die Ruhe, um seinen Roman zu schreiben: die Saga Niederschlesiens als gelungener Rettungsversuch der Geschichte und seiner Geschichte in der DDR. Ein Buch wie die zwei von Günter Grass: Blechtrommel und Ein weites Feld. Nur, daß Harald Gerlach das Doppel in einem Buch, Windstimmen, gelang und Grass mit Ein weites Feld gescheitert ist.
Im Gegensatz zum späten Grass greift Harald Gerlach in seinem Roman weder an, noch verteidigt er, er will nichts beweisen und verurteilt nichts. Er erlöst Geschichte mit Geschichten in spielerischem Ernst. Er hat die Heiterkeit ein Leben lang gesucht, in Leimen ist sie ihm zugefallen, weiß er sich mit Goethe, zu dem er ewig ein schwieriges Verhältnis hatte, einig:

Ich will alles, was ich kann, spielend betreiben.

Näher hat dem Flüchtlingsjungen Harald Gerlach immer Schiller gestanden, der im „bloßen Spiel“ der ästhetischen Erfahrung ebenfalls die wahre Wesensäußerung des Menschen gesehen hat: Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. Schiller ist Verwurzelung für Gerlach – in der zweiten Heimat an der Grenze zur alten Bundesrepublik, in Römhild unter den Gleichbergen. Schiller blieb erreichbar an der Gruft der von ihm geliebten Charlotte von Wolzogen im nahen Bedheim.
Bereits in seiner ersten Prosa taucht bei Gerlach diese Beziehung auf und der Satz:

Keine Zukunft hat, wer ohne Vergangenheit kommt.

In der „Ackerprovinz am Rand des Vergessens“ sucht Gerlach nach der Flucht aus Schlesien Orte, die Vergangenheit aufweisen können, als sei der Garant historischer Beständigkeit auch die Beständigkeit, die er fürs eigene Leben braucht. 1988 erweckt Gerlach den Anakreontiker Johann Peter Uz aus Ansbach, der 1752 in Römhild „Arkadien, du Land beglückter Hirten“ entdeckt haben wollte. Über den Wiedertäufer Hans Hut aus dem benachbarten Dorf Haina, in dem seine Mutter geboren ist, schreibt Gerlach ein Theaterstück, das in der DDR nicht gespielt werden darf. Das eigene Fluchttrauma aufgefangen in den Taufvorstellungen Huts zur Tilgung der Erbschuld: Wiedergeburt aus dem Wasser und Geist zur Heilung des Geburtstraumas. Gedächtnis:

Sag Stein. Und leg die Hand
aufs Vergehende. Letztmals: du kamst,
die Zeit hatte ihr Maß verloren,
jeder Schritt und das Schweigen
mehrten die Fremdheit.

Und der Wandel auch in den
Verkleidungen! Auf der Klippe
der Windflüchter, an Müdigkeit
sterbend, gewinnt seine Träume
zurück, bleibt wurzelecht. Den Ruinen
gehört die Zukunft.

Verzweifelt schlug Fleisch
sich zu Fleisch. Baumhoch im warmen
Mittag wuchs auf die Einsamkeit.
Wir wüteten gegen das Hilflose
in uns.

Leg die Hand auf den Stein. Nichts
stirbt mit Ehrfurcht
wie der blaue Basalt.

Das Gedicht, das in Harald Gerlachs 1989 erschienenem Gedichtband Wüstungen enthalten ist, zeigt ihn in einer Aussichtslosigkeit gefangen, in der sein „Spielraum des Verlorenen“ zum Teufelskreis geworden ist. Auch wenn der Grundgestus seiner Dichtung von der illusionslosen Anthropologie des Alten Testaments bestimmt wird, so ist in diesem Band der Tod als der Feind jeglichen Weges allgegenwärtig. „Es wäre mein letztes Buch gewesen“, sagt Harald Gerlach in Leimen.

Danach hätte ich in der DDR nicht mehr schreiben können.

Die Sehnsucht, nach innen und außen zu leben, eine Sehnsucht, von der Harald Gerlachs Bücher leben, in Leimen hat sie sich für den Schriftsteller erfüllt. Der Roman Windstimmen, sein Opus magnum, ist ihm hier gelungen; ein Gedichtband, der den Bogen von der Kindheit zum Alter schlägt, also die neue Landschaft aufnimmt; und eine Erzählung entsteht, die den Rhein überquert und tief hineingeht nach Frankreich. Die Dinge fließen in einer Weise, daß die tägliche „Brotarbeit“ für den Rundfunk, die Arbeit an Heinrich Heine für die Umsetzung auf CD-ROM, nicht als Last empfunden wird.
Wesentlich: Harald Gerlach kann hier leben in seiner Geschichte. Sinnfällig wird das, wenn Norbert Schleidt von seinem Elternhaus im benachbarten Rohrbach erzählt, wo nicht nur er zur Welt kam, sondern auch Eichendorffs Jugendliebe Katharina Barbara Förster.

In einem kühlen Grunde, da geht ein Mühlenrad.

Jeder kennt das Lied von der gebrochenen Treue. Doch wie reagiert der Dichter Eichendorff darauf?

Ich möchte’ als Spielmann reisen
Weit in die Welt hinaus,
Und singen meine Weisen,
Und gehn von Haus zu Haus.

„Die nicht aushaltbaren Konflikte werden im Spielvorgang zum Material“, schreibt Harald Gerlach.

Spielend nehmen wir den Schmerz aus uns heraus, stellen ihn vor uns hin und vollführen damit Kunststücke.

Ein Schlesier sieht auf den anderen und spielt dessen Spiel weiter.

Das Fenster klirrt, wenn die Tür
sich öffnet. Dieser Laut hat
den brüchigen Kitt ersetzt. Ein Zimmer
auf Abruf; wenn wir gehen,
wird es für immer geräumt.

Die Legenden wiederholen sich: das
Erstarren der Jungfrau zu Stein.
Unschuld ist ein Zustand, der
sich erst spät einstellt.

Erwartungen schmelzen ab, tropfende
Leuchterkerzen. Zeit ist
eine bräche Krücke.

Was bleibt: der Ort
an dem es

geschah.

Also Leimen mit dem Winzerhaus in der Nußlocher Straße: Harald Gerlach, noch im Wissen um den provisorischen Charakter seiner Bleibe. Aber da ist endlich wieder jemand, der die Jahrhunderte dieser Heimstatt lebt. Endlich kann er Spielmann sein. Im Transitorischen den Ort gewinnen, der ungeahnte Spielräume eröffnet. „Leimen hat mich erlöst“, sagt Harald Gerlach und ist froh, der Entwirklichung der DDR durch den Terror der Ideologiesprache entkommen zu sein, ohne die Entwirklichungsmechanismen der westlichen Konsumwelt zu übersehen.
„Und nun deine Lippen, rissig vom langen / Schweigen; Burlam, sagst du. Es ist / ein Wort Sesam“, so heißt es im neuen Gedichtband.

Die Finger schmecken den Handlauf, begriffenes Holz,
treppauf zum Laubengang, umkreisend den Winkelhof.
Lebenswelt aus Erinnern, rüchig
wie rottender Mist. Dies meine Zukunft:
überalterte Worte, greisenhaft störrisch, die
den Wettlauf mit der rasenden Uhr nicht
mehr suchen…

Fünf Wochen vor dem fünften Geburtstag Harald Gerlachs, der am 7. März 1940 im niederschlesischen Bunzlau zur Welt kam, erscheint der Großvater in der Tür und sagt:

Wir nehmen nur das Nötigste mit, in wenigen Tagen sind wir zurück. Sie können uns alles nehmen, aber nicht die Heimat.

Harald Gerlach schreibt:

Es ist ungewöhnlich, daß der Großvater die Küche betritt. Die bleibt sonst den Frauen vorbehalten: der Mutter, der Großmutter, dem Mädchen Trudel. Auf dem breiten Fensterbrett dieser Retirade hüte ich mein liebstes Spielzeug: eine Sammlung hölzerner Zwirnröllchen. Sie trösten mich in meinen kindlichen Bedürfnissen. Geschwisterlich teilen wir Omas Kandiszucker und meine Influenza unter uns auf.

Am nächsten Morgen verläßt die Familie in einem Lastwagen Schlesien:

Für immer. Die Erwachsenen sagen: wir haben die Heimat verloren. Das bedeutet mir nichts. Ich habe meine hölzernen Zwirnröllchen auf dem Fensterbrett zurücklassen müssen. Das ist mein Verlust. Er schmerzt. Nie mehr danach werde ich mich so geborgen wissen wie in Großmutters Küche.

Bilder tauchen auf und verschwinden. Ein sowjetischer Tieffliegerangriff auf den Treck. Das Erschießen zweier Deserteure. Das brennende Dresden, von Tharandt aus beobachtet, wo man Zuflucht gefunden hatte. Der Einatz des Vaters mit seinem Lastwagen beim Zusammenfahren von Leichen, bei dem der Sohn dabei war. Nach Kriegsende fährt die Familie an die Neiße nach Görlitz. „Jeden Morgen bin ich mit meiner Mutter zur Neißebrücke gegangen, um zu gucken, ob die wieder auf ist“, erinnert sich Gerlach.

Das werde ich nie vergessen: Heute muß es doch sein, heute war es noch nicht, dann bitte morgen. Von Mai bis August täglich.

Schließlich der Entschluß, die neue Heimat in der alten der Mutter zu suchen. Die äußerste Südostecke Thüringens um die Stadt Römhild, von der später immer wieder gemunkelt wird, daß sie im Austausch für Westberlin an die Bundesrepublik kommt. Helene Stötzel, die Großmutter, war von hier weggelaufen, die einzige der alteingesessenen Familie, die sich mit der Provinzsituation nicht hatte abfinden wollen. Nur zur Niederkunft ihrer Tochter, Gerlachs Mutter, war sie noch einmal in das 210-Seelen-Dorf Haina gekommen.
Nun ist sie wieder da – mit der Bunzlauer Verwandtschaft. Der Ehemann hatte in Bunzlau einen Eierhandel en gros, der Schwiegersohn ein Fuhrunternehmen. Nun haben sie nichts. Gerlachs Vater hatte in der Jugend eine Schusterlehre absolviert. Nun hilft er beim Dorfschuster aus. Eine mühselige Arbeit. Der Vater hat einen verkrüppelten linken Arm, Folge einer schweren Schußverletzung aus dem Krieg. Über dem Eingang zur Schule in Haina steht die Inschrift:

Lasset die Kinder zu mir kommen.

Das Kind Harald wird im ersten Schuljahr von seinen Mitschülern jeden Tag verprügelt. Er ist für sie der „Polacke“.
Er nimmt sein Anderssein an, sucht nach den Bedeutungen geheimnisvoller Worte, die in der Sprache der Alten in der Stube hin- und hergehen. In seinem Roman Windstimmen werden sie alle wieder auftauchen die geliebten Mysterien der Kindheit. Die Walen zum Beispiel, Venetier, die nach Schlesien kamen, Gold und Edelsteine suchten und die Fundstellen aufzeichneten. Doch wer später mit Hilfe der Walenbücher gesucht hatte, fand sich getäuscht. Das Geheimnis war mit den Walen über das Bober-Katzbach-Gebirge gekommen und mit ihnen gegangen.
Der Flüchtlingsjunge lebt in seinen Traumwelten und trifft auf einen, den die neue Zeit als Sonderling, als Außenseiter wegschiebt. Der zieht sich gerade zurück aus Haina, baut sich unter den Gleichbergen ein Holzhaus und läßt an dieser Stelle Schwabhausen wieder auferstehen, das vor 500 Jahren unterging und nun ihn, den einstigen Förster, zum einzigen Bewohner hat. Gundelwein, ein wunderbarer Erzähler, weiht den Jungen in die uralten Geschichten der Gegend ein, die den Namen Grabfeld trägt.
Bikourgien nannten die Griechen diesen Ort in der Keltike. Für die Karolinger war das Gleichberggebiet ein Teil der Buchonia. Das Buchenland ist zwar längst gerodet, aber der Name hielt sich. Das griechische „grape“ (Buche) steckt in der Bezeichnung Grabfeld. Gundelwein fütterte die Phantasie des Jungen nicht nur mit seinem beseelten Blick auf die Dinge, sondern auch mit der nüchternen Sicht auf die Natur. Gundelweins Zucht von Nadelbaumsamen wird zum Exportartikel der DDR. Gundelwein ersetzt dem lernbegierigen Jugendlichen ein ganzes Biologiestudium. Der Junge lernt die Zeichensetzung des Himmels nicht nur als Meteorologie, sondern erfährt andere Luftschichten des Erkennens.
Das hat Folgen. Der Junge wird beliebt unter seinen Mitschülern. Er weiß sein Wissen umzusetzen in abenteuerliche Spiele. Die Schüler scharen sich um ihn. Seit 1950 wohnt er mit seinen Eltern und seiner Schwester in der Kleinstadt Römhild. Der Vater ist Heimerzieher geworden und leitet einen neu eingerichteten Jugendwerkhof, eine Institution, in der verwahrloste Jugendliche leben.
Sohn Harald ist Torwart im Fußballclub und der Narr, der dem Karnevalszug voranschreitet. Im Schwimmbad ist er der Bademeister. Die in Römhild gebliebene Brigitte Böhmert, die die Zahnarztpraxis ihres Vaters übernommen hat, erinnert sich:

So voller Kinder war die Stadt niemals mehr. Wir haben gespielt, gespielt, gespielt.

Dieter Mai, der Klassenkamerad von einst, sagt:

Harald hat einen Spleen für alles gehabt.

Er erinnert sich daran, wie Harald die Freunde geködert hat, nach Polen aufzubrechen, um aus Bunzlau die zurückgelassenen Autos seines Vaters zu holen. Der Plan wurde von einem Mitschüler verpfiffen. Auch die Weltreise vom Löschteich, die über die Milz und die Fränkische Saale letztendlich im Meer enden sollte, wurde im nächsten Dorf gestoppt.
Aus den Fenstern der elterlichen Turmwohnung im Römhilder Schloß, in dem auch der Jugendwerkhof untergebracht ist, kann Sohn Harald in den durch die Zonengrenze versperrten Westen, ins Fränkische schauen. Die Kirchturmspitze von Breitensee sieht er in der hügeligen Landschaft, das ebenso nahe Waltershausen, in dessen Schloß Hölderlin bei Charlotte von Kalb Hofmeister war und die Anfänge des Hyperion entstanden, sieht er nicht. Doch dank Gundelwein ist er geübt, sein Leben in Beziehung zum Alten zu setzen.

Vergangenheit auswiegen
mit der Handwaage,
granweise zusammentragen
die Wurzeln menschlicher Landschaft.

Schon in diesen Zeilen eines frühen Gedichtes ist der Dichter Harald Gerlach in dem, was ihn vorantreibt, ganz enthalten.

Römhild. Ein Ort in fränkischem Fachwerk, die Altstadt zwischen Ober- und Untertor gedrängt um Stiftskirche und Residenzschloß, zwei kleine Vorstädte, das alles geschmiegt unter ein Zwillingspaar von Bergen.

Späte Gotik die Kirche, in der sich die beiden berühmten bronzenen Grabdenkmäler für das Geschlecht der Hennebergs von Peter Vischer d.Ä. befinden. Späte Gotik das Schloß, das Glücksburg genannt wird. Einmal wurde die Gegend unter den vulkanischen Gleichbergen ihres milden Klimas wegen „Fränkisches Nizza“ genannt.
Der Sohn des Heimleiters im Schloß geht in die Brüche und Risse seiner Lebenswelt und wird sie eines Tages als Fugen nehmen, in die sich seine Texte einschreiben. Auf diesem Wege in die Vergangenheit und zurück spricht noch jeder seine eigene Sprache, hat eigene Gewohnheiten und eigene Gebräuche, die er zu wahren versucht – als Selbstvergewisserung. Schnell findet er heraus, daß ausgerechnet der eigene Vater die eigene Sprache verraten und aufgegeben hat. Da gab es aus der väterlichen Linie den Urgroßvater, der Schmied im Dorf Treben bei Bunzlau war. „Schlesisches Urgestein“, wie Harald Gerlach sagt. Der Urgroßvater zog als Schmiedegeselle durch Europa. In Oberitalien blieb er, bis er mit seiner Arbeit ein kleines Vermögen angesammelt hatte. Nach der Rückkehr kaufte er sich die Schmiede in Treben bei Bunzlau und Land, das er mit Kiefernwäldern bepflanzte. Der Großvater, der im Ersten Weltkrieg fiel, hatte die Schmiede aufgegeben und war Gießmeister in einer Eisenhütte geworden. Der Vater kaufte sich von seinem Erbe einen gebrauchten Autobus und eröffnete ein Fuhrunternehmen. Er trat in die NSDAP ein und auch in die SS, als die ihn mit Reiseaufträgen versorgte. „Sein großes Glück war, bei Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion kriegsuntauglich geschossen worden zu sein“, sagt der Sohn über den Vater.

Er wurde siebenmal operiert, und es wurde immer schlimmer. Sein linker Arm blieb verkrüppelt. Für mich ist und bleibt die Versehrtheit meines Vaters das Urerlebnis von Beschädigung eines Menschen. 1946 ist mein Vater in die SED eingetreten und ist Verdienter Lehrer des Volkes geworden.

Als der Sohn 1969 seine erste Ehe eingeht, legt er den väterlichen Nachnamen Schnieper ab und nimmt den Nachnamen seiner Frau Marlot Gerlach an. Harald Gerlach erinnert sich, wie ihn, den Sechzehnjährigen, inzwischen Oberschüler in Meiningen, zwei Stasi-Männer als Spitzel werben wollten. „Wenn wir uns die Biographie ihres Vaters anschauen“, sagte der eine, „gehen wir davon aus, daß Sie sich bereitfinden, mit uns zusammenzuarbeiten.“ Der Sechzehnjährige lehnte ab. „Danach hatte ich nur noch Begegnungen mit Spitzeln, die auf mich angesetzt waren“, sagt Gerlach.
Im Jahre 1958 steuert er auf den ersten großen Konflikt mit dem SED-System zu. Alle Schüler seiner Abiturklasse in Meiningen sind sich einig, nicht zur Volksarmee zu gehen. Zwar wird der allgemeine Wehrdienst erst 1962 eingeführt, aber die Aufforderung, sich freiwillig zu melden, kommt einem Zwang gleich. Nach Einzelgesprächen werden fünfzehn Schüler weich. Der Sohn des SED-Mannes Schnieper wehrt sich mit seinen Kriegserlebnissen als Flüchtlingskind und verweist auf die Spruchbänder der ersten Nachkriegsjahre:

Nie wieder ein Gewehr in die Hand

Er bleibt beim Nein.
„Das hat mein Vater akzeptiert“, sagt Harald Gerlach. „Das muß ich meinem Vater hoch anrechnen. Er hat mit keinem Wort versucht, mich zu agitieren, daß es für seine und meine Karriere gut wäre, sich zu beugen. Er sagte:

Ich bin als Krüppel aus dem Krieg gekommen.

Das Regime reagiert auf die Unbotmäßigkeit des Abiturienten: Er bekommt keinen Studienplatz. Er beginnt eine Schriftsetzerlehre in Meinigen. „Da gab es einen alten Mann, man würde abfällig sagen: Stehkragenproletarier. Er trug alle Reinheit der Welt“, erinnert sich Gerlach und wird später schreiben:

Kein Evangelist und keine Schrift überliefern die Geschichte des mausgesichtigen Setzers, der jahrelang willfährig hantiert mit Winkelhaken und Kolumnenschnur, still und ohne Bedenken, der sich fügt, wie die Welt ihn braucht, wohl wissend, daß kein noch so langer Disput den Menschen vor Fehltritten bewahrt. Der am Rande des Krieges dahinlebt mit reinem Herzen und der um so unerwarteter eines Freitags im April zwischen Vesper und Meßläuten die Arbeit verweigert. Nicht mit Worten tut er das, die ihm kaum schlüssig einkommen würden. Er läßt einen Stapel Gießblei auf die Hände stürzen, um nicht einen Kriegsaufruf in letzter Stunde, einen hysterischen Befehl zum Massenselbstmord absetzen zu müssen. Stumm und mit blutigen Fleischklumpen steht er im Setzsaal…

Noch ehe die Druckmaschinen anlaufen können, marschieren die Amerikaner in Thüringen ein. Überflüssig die ehrliche Aktion. Und doch: So tritt jemand „in die Freiheit seines Ichs“. Auf der anderen Seite Harald Gerlachs Vater. „Als ich nicht zum Studium zugelassen wurde, kam mein Vater zum erstenmal in Konflikt mit seinem neuen Gott“, sagt der Sohn. Er hat nie darüber gesprochen, aber der Vater tut etwas. Sohn Harald muß sich ein Jahr als Arbeiter im Römhilder Steinbruch bewähren. Danach darf er noch immer nicht, wie er will, Germanistik studieren, statt dessen Journalistik im „roten Kloster“ Leipzig. Er sieht sehr schnell, daß ihn das Regime auf andere Art einfangen will. „Dieses Studium lief auf eine Erziehung zum Parteifunktionär hinaus“, sagt er und bricht es nach dreieinhalb Monaten ab.
Eine Freundin, die davon träumt, in Österreich Skilehrerin zu werden, gibt ihm 250 Mark, um rauszukommen aus der DDR. Der Zwanzigjährige, der Dichter werden will, fährt nach Ostberlin, wechselt mit der S-Bahn in den Westen der Stadt, kauft sich ein Nachtflugticket nach Hannover, geht für zehn Tage ins Lager Friedland, wo er einen Paß der Bundesrepublik Deutschland bekommt, läßt sich eine Einweisung nach Erlangen geben, arbeitet dort in einem Kaufhaus und verschwindet nach zehn Tagen.
Mit Goethes Italienischer Reise in der Hand macht er sich im Dezember 1960 auf den Weg über den Brenner. „Ich mache diese wunderbare Reise nicht, um mich selbst zu betrügen, sondern um mich an den Gegenständen kennen zu lernen“, liest er und weiß später:

Ich wollte schreiben und mußte mich erst freimachen, um über das Schreiben ernsthaft nachdenken zu können.

Auf dem Brennerpaß steht er mit seinen Halbschuhen und seiner dünnen Jacke in zwei Metern Schnee und hat natürlich nicht nur Goethes Italienische Reise im Kopf, sondern auch die Geschichte seines schlesischen Urgroßvaters, von dem er weiß, daß der geliebte „Glücksritter“ am Gardasee an einem Elektrizitätswerk mitgebaut hatte. Dahin treibt es ihn zuerst. Die Veilchen blühen schon, nur nicht die italienischen Sprachkenntnisse. Wie sein Urgroßvater bleibt er in Oberitalien, kommt nach Verona, Parma und Genua, sucht Arbeit und findet keine. So rutscht er langsam in eine Landstreichersituation hinein, schläft in Obdachlosenasylen.
Die Vorstellung, in Frankreich Fuß fassen zu können, erweist sich ebenfalls als Irrtum. Aber die literarischen Orte und Plätze der Maler in der Provence läßt er nicht aus, bevor er zu Fuß über die Alpen zurück nach Deutschland gelangt, um per Anhalter nach Fulda zu fahren. Den Rest wieder zu Fuß – nach Wiesenfeld, wo der Heimkehrer eine Freundin hat. „Ich war schon fast am Ort“, erinnert sich Gerlach, „da kamen zwei Grenzer gerannt mit der Maschinenpistole im Anschlag, zogen mich halb aus und brachten mich am Dorf vorbei in die Stasihochburg Dermbach. Da haben sie mich einige Nächte verhört.“
Es ist Juni 1961. Der angehende Dichter Gerlach ist rechtzeitig zur Einmauerung der Republik zurück. Er wird in das Stasi-Gefängnis nach Meiningen gebracht und muß Fragebogen mit Antworten füllen:

Die dachten, die Bundesrepublik habe mich als Spion zurück in die DDR geschickt.

Nächster Aufenthaltsort ist ein Lager in Eisenach. Zehn Tage bleibt er hier zur Quarantäne. Dann wird ihm Erfurt als Wohnort zugewiesen. Er hat Bewährungsarbeit zu leisten, zuerst in einer Kiesgrube, dann auf dem Friedhof als Totengräber. Seine Eltern besuchen darf er nicht mehr. Römhild gehört seit Mitte der fünfziger Jahre zur Fünf-Kilometer-Sperrzone, für die man einen Passierschein braucht. Er ist nun ein unsicheres Element. Statt eines Personalausweises bekommt er ein provisorisches Papier. Er muß sich regelmäßig bei der Polizei melden. Um die Mutter zu ihrem Geburtstag in Römhild zu besuchen, kriecht er am Kontrollpunkt vorbei durch Kartoffeläcker. Genosse Schnieper, der den Sohn mit dem Dienstwagen holt, setzt ihn rechtzeitig aus und nimmt ihn später wieder auf.
Über seine Italienreise und die Konsequenzen sagt Harald Gerlach heute:

Ohne dieses Grunderlebnis wäre ich nie Schriftsteller geworden. Nach dieser Reise ist meine Biographie viel freier geworden. Und ich hätte sie nicht so durchgestanden, wie es geschehen ist. Ich war plötzlich in der Lage, meine Gleichberg-Provinz in ein richtiges Verhältnis zu setzen. Nun war mir klar. Die DDR oder die Existenz der DDR ist kein zulänglicher Gegenstand für Kunst. Dazu war der Entwurf zu klein, zu kurz, zu banal.

Daß er überhaupt in die DDR zurückgekehrt ist, erklärt sich Gerlach so:

Es war keine Rückkehr zur Familie, sondern an einen Ort, an dem ich mich aufgehoben fühlte. Ich wollte mir keinen zweiten Heimatverlust zuziehen. Ich wollte ihn nicht gewaltsam herbeiführen. Daß ich trotzdem heimatlos geblieben bin, ist ein ganz anderes Thema.

Nach seiner Bewährungsarbeit hat Gerlach seinen Anschluß an die Literatur im Erfurter Theater gesucht – mit einem einfachen Anruf, er wolle dort arbeiten. „Was wollen Sie machen?“ fragt die Kaderleiterin. „Ist egal.“ „Wir brauchen Hofarbeiter.“ Er fängt als Hofarbeiter an, transportiert Kulissen, schlachtet Kulissen aus. Dann kommt er in die Tischlerei, von dort in den Malsaal, schließlich in die Bühnentechnik. Nebenher macht er ein Fernstudium am Institut für Technologie kultureller Einrichtungen und schließt es 1968 mit der Qualifikation zum Theatermeister ab. In dieser Funktion arbeitet er am Erfurter Theater weiter.
Seit seiner Italienreise sind sieben Jahre vergangen. Nicht ganz so lange braucht er, um als Dichter eine literarische Balance zu finden. Das Grunderlebnis, das dazu führt, ist Johannes Bobrowski. Im Norddeutschen Rundfunk hört Harald Schnieper 1962 eine Übertragung von der Tagung der Gruppe 47 in Westberlin, auf der Bobrowski seine Gedichte „Kalmus“, „Der lettische Herbst“, „Schattenland“, „Im Strom“, „Erfahrung“, „Begegnung“ und die „Wolgastädte“ liest. „Das war für mich wie ein Rausch“, erinnert sich Harald Gerlach.

In dieser Nacht bin ich nicht zu Bett gegangen. Etwas später kam noch Isaak Babel dazu. Damit waren meine Dichterbilder besetzt. So wollte ich schreiben. Nein, so wollte ich leben, in solchen Sprachen wollte ich leben, in solchen Lebenswelten zu Hause sein. Noch einmal eine Revolution war der späte Günter Eich für mich.

Bobrowskis altmodische Haltung, Vertrauen zum poetischen Wort zu haben, Babels unzerstörbare Zuversicht, dem Bösen widerstehen zu können, das sich am Bösen steigert, und Eichs Anarchismus, der eine Sprache bewahrt, die sich der Lenkung entzieht – deren Eigenart weckt die Gerlachs.
Sarmatien beginnt östlich der Weichsel und der Karpaten. Der in Tilsit geborene Bobrowski hat „sein“ Land östlich der Memel so genannt, und für Harald Gerlach beginnt dieses Sarmatien jenseits von Oder und Neiße. Schlesien – das meint Deutsche, Polen und Tschechen, das meint eine Kulturleistung durch Zusammenleben jenseits nationalstaatlicher Definitionen. Geschichtsträchtiges Erinnerungsland, gleichermaßen real und fiktiv, über alle Zerstörungsprozesse hinweg. Haus unter Bäumen:

Den Anschein des Neuen
lang aus dem Holz gewaschen,
gegürtet mit dem Laubengang
rundum, der Aufgang verwahrt
mit spruchweisem Siegel.

Stufen, die wir
schon einmal begangen,
begegnen uns
hinter immer neuen Türen.
Unterm Spiegellicht die Schwalben
leben doppelt; denen
trau ich, sie geben nichts drauf,
wenn zu Lichtmeß
die Sonne über den Taufstein ging.
Kommen, wie Zeit ist.
Und brauchen keine Worte.

Ankommen, warten, ohne zu klopfen,
welche Kammer sich öffnet.
Vergessen
die überschrittenen Schwellen
die aufgestoßenen Tore.
Abendhoffnung liegt
an der Nacht, dem Morgen.

Den Bäumen
waren Krähen aufgesteckt, nachts,
wie der Mond so still hielt.
Wir haben kein Wort gefunden
für die Art, uns zu umarmen.
Liebe wird nicht benannt.

Reiner Kunze aus Greiz setzt sich für Harald Gerlach ein und gewinnt Bernd Jentzsch, den 32jährigen 1972 in der Reihe Poesiealbum mit achtzehn Gedichten vorzustellen. Ein Jahr später erscheint im Aufbau-Verlag der Gedichtband Sprung ins Hafermeer, in dem das Thema Heimatverlust und neuer Heimatgewinn fortgeführt wird. Heimatgewinn als der Traum vom heiligen Land als Land der Heimatlosen. Alle Paradiese werden im Herzschlag des Augen-Blicks gewonnen und verloren. Gerlachs Erfahrung mit der Erinnerung: Er sucht nicht, um zu finden, sondern er findet, erfindet, um zu suchen. „Ich habe mir mein Schlesien selbst erschaffen“, sagt er und sucht weiter.
Die schlesische Kindheitserfahrung ist das Herausreißen von Menschen aus einer Landschaft, und die thüringische Jugenderfahrung ist das Herausreißen einer Landschaft aus der Geschichte.
Die thüringische Gegend unter den Gleichbergen darf nach 1945 als DDR-Grenzregion nicht mehr sein, was sie gewesen ist. Schlesien, seit 1945 von Polen auf dem Vergessen der Deutschen gebaut, kann seit 1989 wieder sein, was es gewesen ist. Harald Gerlach hat die Rückkehr deutscher Geschichte nach Schlesien in seiner Dichtung vorweggenommen. Das Grabfeld, seit 1990 nicht mehr geteilt und in der Mitte Mitteleuropas liegend, hat noch immer nicht seine Zukunft erkannt, die ihr Gerlachs literarische Weltverwandlung eröffnet hat.

Zu durchmessen den Kornschlag
nach Armlängen und
Schrittweiten, Wohnstatt
suchend in der Flucht
falber Strohsäulen,

überkommener Ritus alljährlicher
Kindheit, der zerschellt
am Strand des Hafermeers,
endlos, verheißend
den Anbruch der neuen
Erdformation: Kornzeit.

Schatten lösen vom Ufer sich,
das Feld steigt entgegen.
Der Fisch pflügt die schwappenden
Körnerwellen, trinkend weichen Hafer,
grünlich, mit aufgerissenen Kiemen.

Über den Wassern
zählt der Himmel doppelt.

Hier ist der Weg Gerlachs beschrieben von der einen Landschaft in die andere, von der einen Liebe aufgefangen in der anderen, in der Metapher einer anspruchslosen Getreideart, die mit kargem Boden zu leben weiß. Wenn sich in der Stille der Wind bewegt, dann summt hier unverkennbar Bobrowskis Strandhafer mit, und diese Windstimmen haben einen Text, den Gerlach so entschlüsselt: Sarmatien ist die Heimat, die uns zur Welt bringt, wenn wir sie zur Welt bringen.
Harald Gerlach bekennt, daß für ihn die 1945 aus dem Exil zurückgekehrten und in der DDR lebenden Schriftsteller von Anna Seghers bis Stephan Hermlin ohne jegliche Bedeutung für sein eigenes literarisches Werk geblieben sind. „Sie gaben mit ihrem Widerstand gegen die eine Diktatur der anderen eine Legitimation, die einem Selbstverrat gleichkam“, sagt Gerlach.

Man spürte doch, daß sie eine Rolle zu spielen hatten. Die staatliche Vorstellung von Literatur war mit denen besetzt. Sie spielten in dem System ja mit. Da konnte man sich nicht draufeinlassen.

Gewiß, Erich Arendt hat er „bewundert und geschätzt“, auch Brecht mit seiner Lyrik der späten Jahre, mehr noch dessen Baal mit seinen vier frühen Fassungen. Gerlach nutzt sie zu einer DDR-Erstaufführung (Regie: Friedo Solter) am Erfurter Theater. „Da ist noch nicht das Modelldenken“, sagt Gerlach.

Brecht ist noch – frei von Ideologie – mit den existentiellen Fragen beschäftigt.

Theater ist für Gerlach Überlebensstrategie. Man inszeniert, um dem Ernstfall zu entkommen. Der Ernstfall erreicht ihn genau zu dem Zeitpunkt, als er zu schreiben anfängt, als ihm Schreiben gelingt. Beispielgebend ist für ihn die Haltung Reiner Kunzes, der die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ mit dem Austritt aus der SED beantwortet. Gerlach hat Kunze durch den Dichter Wulf Kirsten, Außenlektor des Aufbau-Verlags in Weimar, kennengelernt. „Wie sich da jemand nicht hat beugen lassen, wie er standgehalten hat dem Druck bis in die Todesgefahr hinein, das hat mich in meinem Weg bestärkt und geholfen“, sagt Gerlach über Kunze.
Auf Kunzes Vertreibung aus Greiz im Jahre 1977 reagiert Gerlach mit einem Rückgriff in die Geschichte. Er schreibt unter dem Titel Die Straße ein Theaterstück über einen anderen Dichter, der sich nicht beugen ließ: über den 1695 im schlesischen Striegau geborenen und 1723 in Jena gestorbenen Lyriker Johann Christian Günther. In einem kleinen Kreis diskutiert Gerlach über das Stück, und die Stasi schreibt mit:

Hierzu erklärte G., daß dieses Stück die kulturpolitische Szene in der DDR der Jahre 1977/78 widerspiegeln würde. Aus Gründen der Sicherheit hätte er die Fabel des Stückes in die Zeit der Frühaufklärung zurückverlegt. Es wird hierin die Geschichte eines jungen Dichters behandelt, den die gesellschaftlichen Verhältnisse zwingen, das Land zu verlassen. G. nannte hierzu als Parallelen Biermann und Kunze. Weiterhin ist er der Auffassung, daß jeder kritisch denkende Theaterbesucher die gesellschaftspolitische Aktualität seines Schauspiels erkennen könne. G. erklärte, daß er mit seinem Stück das Ziel verfolge, dem einfachen Bürger verständlich zu machen, daß ein DDR-Schriftsteller nur die Wahl hätte, sich den hiesigen politischen Verhältnissen unterzuordnen oder sich ausbürgern zu lassen…

Die Uraufführung des Stückes am Erfurter Theater wurde am 22. April 1979 verboten. „Dann ist etwas Merkwürdiges passiert“, erinnert sich Gerlach.

Da hat sich der Intendant an die Öffentlichkeit gewandt mit der Erklärung, die Uraufführung habe nicht stattfinden können, weil nicht alle 36 Knöpfe an die Barockkostüme hatten genäht werden können. Es ginge doch darum zu beweisen, daß es sich um einen historischen und nicht um einen aktuellen Stoff handele. Mit jeweils sechs Knöpfen hätte man das Stück nicht herausbringen können.

Und so wurde Die Straße ein Dreivierteljahr später mit 36 Knöpfen uraufgeführt.

Ein Dutzend Theaterstücke hat Harald Gerlach zu Zeiten der DDR geschrieben. Seit 1970 ist er auf der Position eines Dramaturgen zugleich festangestellter Hausautor am Erfurter Theater. Seine Frau Marlot Gerlach, von der er sich in den achtziger Jahren trennt, ist Primaballerina an der Erfurter Oper. Er hat aus dieser Ehe eine Tochter und einen Sohn. Seit Ende der sechziger Jahre darf er wieder reisen, aber nur in den Osten. Er besucht seinen Geburtsort Bunzlau, recherchiert im polnisch gewordenen Schlesien. Jedes Jahr stellt er den Antrag, seine Italienreise zu wiederholen, um in solcher Überlagerung des Jugenderlebnisses ein Buch zu schreiben. Jedes Jahr wird der Antrag abgelehnt, auch dann noch, als er 1984 endlich der Aufforderung nachkommt, Mitglied des Schriftstellerverbandes zu werden. SED-Mitglied ist er nie gewesen.
Die Eingriffe, die das System an Gerlachs Texten vornehmen läßt, sind störend, zerstören aber nicht. In den Gedichten müssen die deutschen Namen schlesischer Orte polonisiert werden. Hier und da muß er auf ein Gedicht verzichten. Man druckt sogar mit vierjähriger Verspätung sein Günther-Szenarium Die Straße. Das Regime läßt sich Zeit mit der Zermürbung dieses Dichters, der beschreibt, wie die wachsende Isolierung den Menschen den Atem nimmt, mit seiner „Flaschenpost“:

Die Nachricht, hieß es, sei
wichtig. Wir richten uns ein
auf lange Fahrt in der verkorkten
Flasche: mit der knappen Luft,
der unruhigen Lage. Ab ging die Post.

Wir würden, hieß es, ankommen
an einem Ufer. Wann sollte das sein?
Niemand bricht der Flasche den Hals.
Keine Küste, der wir zutreiben. Kein
Schiff, dem wir begegnen.

Wer äußerte den Verdacht, wir
seien keine Botschaft mehr?
Dann die Gewißheit: die Flasche
wird enger mit den Gezeiten,
das Glas kommt auf uns zu.

In die Wüste geschickt
aus Wasser, wir fahnden
nach einer Klippe, daran
zu zerschellen.

Das Wort ist die ganze Sprache, die nicht zerstört werden kann. In dieser Zuversicht spielt sich der Lyriker Gerlach von Königsberg nach Bordeaux:

Gehen. Zu keinem Zweck
als:
unterwegs sein. Ruhe ist nur
in der Bewegung…

Schreibend sucht er sie auf: O’Casey und Dylan Thomas, Eich und die Bachmann, Jakob van Hoddis und Pavese. Er weiß sich mit Petrarca auf dem Mont Ventoux einig:

Der Mensch beginnt hinter
den Grenzen des Erlaubten.

Im Widerspiel die DDR innerhalb der Grenzen des Erlaubten:

Meine Flucht um die Welt,
heillos, für kurze Zeit
verharrt auf der Stelle,
die Trittspur wächst
in die Tiefe…

Gerlach sieht sich „irgendwo unterwegs zwischen Leibniz / und Schopenhauer. In einem / Mittelgebirgstunnel. Seit Jahren kein / Ausgang. Gelegentlich ein Schatten, der / an Hölderlin erinnert. Grün ein Seidenband / Diotima? Die verjährte Illustrierte / mit Katastrophen aus Griechenland…“ Das „Labyrinth“ DDR sieht er so:

Ein Irrtum zu glauben, wir
in den Irrgängen Behausten
eilten verzweifelt von Grenze
zu Grenze. Man weiß doch:
der Minotaurus! Das reicht.
Wir haben uns abgefunden.

Und für Zweifler gibt es
die Rauchwölkchen, abends,
wenn der Himmel klar und
die Sicht erfolgversprechend ist,
aus seinen Nüstern.

Nur tief in der Nacht, in den
finstersten Träumen bewegt
uns die Frage, täglich verdrängt,
wer es denn jemals gesehn hat,
das Ungeheuer, von dem es heißt,
es würde Feuer schnauben und
uns bewachen.

Aber der Rauch!

Anspielungen sind bereits die Titel seiner Gedichtbände: Mauerstücke (1979), „Nachricht aus Grimmelshausen (1984) und Wüstungen (1989). „Wo du auch angespielt wirst / es ist immer hier“, schreibt er und weiß:

Dort, in der Steine Sterben
von Welt betroffen, ausgesetzt
den wendischen Wettern, bleibe ich seßhaft.

Also:

Mein Land
im Regenschatten von Rhön,
Spessart und Odenwald…

Also „Inter Montes“, wie ein weiteres Gedicht über sein Mutterland heißt, im vulkanischen Gestein der Gleichberge, in den Steinen des Schlosses von Römhild, der Glücksburg.
Harald Gerlach schreibt unter dem Titel Das Graupenhaus die Geschichte des Umbruchs von 1945 am Beispiel der Stadt Römhild, gesehen aus der Perspektive der Insassen des Jugendwerkhofes, die mit Graupensuppe gefüttert werden, bis sie Wege finden, den raffgierigen Einheimischen zu nehmen, was diese an Nahrung gehortet haben. Meisegeier, der alle Schliche ausgleichender Gerechtigkeit von einem Vagabunden gelernt hat, ehe er ins Graupenhaus kam, führt die Heiminsassen an.
Und Harald Gerlach schreibt:

Die Geschichten edler Räuber sind Vogelruten, jede neue Generation geht ihnen dankbar auf den Leim. Durch langen Gebrauch sind sie biegsam und handlich geworden. Und wer, wie die Kinder im Graupenhaus, ihres Trostes bedarf, zu dem finden sie trotz Schloß und Riegel.

Wir befinden uns in einer Gegend, in der im 18. Jahrhundert Krummfinger-Balthasar mit seiner vierhundertköpfigen Bande von Libertinern, Chiliasten, Böhmischen Brüdern, Herrnhutern und Wiedertäufern in den Wäldern ein eigenes System des Nehmens und Gebens praktizierten. Rotwelsch war ihre Sprache, den Uneingeweihten nicht verständlich. Eine Sprache der Außenseiter, die zum erstenmal dokumentiert ist im Hildburghauser Protokoll. Ergebnis eines Verhörs nach der Festnahme eines Bandenmitglieds. Hildburghausen liegt fünfzehn Kilometer von Römhild entfernt.
„Über das Rotwelsch“, sagt Gerlach, „wurde für mich das Graupenhaus erzählbar. Der soziale Gestus dieser Sprache hat für mich den Reiz ausgemacht, mit ihr in der Erzählung umzugehen. Ich muß das Rotwelsch nicht überanstrengt herbeizitieren. Rotwelsch lag mit dem Hildburghauser Protokoll in meiner Landschaft.“ Und in dieser Landschaft liegt auch das Vorbild für Schillers Räuber. Es ist ebenfalls die Bande des Krummfinger-Balthasar.
Im Graupenhaus suchen die Halbwüchsigen, mit ihrer Vergangenheit umzugehen, sie, die es am härtesten getroffen hat: ohne Eltern, monatelang nach dem Ende des Krieges hin- und hergeschoben, mir dem Kriegsgrauen im Gedächtnis. Und sie treffen auf Ampf, der sich die Hand mit Gießblei verstümmelt hat, um den Abdruck eines Kriegsaufrufs zu verhindern. Ampf, den Schriftsetzer, der nun Heimleiter ist, aber nicht lang.
Ampfs „Blicke streicheln hungernde Kinder, und in seinen Träumen heilt er die Wunden der Welt“. Für die Einrichtung des Heimes holt er sich von den Bürgern der Stadt zurück, was sie bei Kriegsende aus dem Schloß gestohlen haben, und bringt die Bevölkerung gegen sich auf. Die SED setzt einen anderen Heimleiter ein, der mit Makarenkos Worten von der Kollektiverziehung auf den Lippen für Ruhe und Ordnung hergebrachter Art sorgt. Daß er Menschen zerbricht, schert die Genossen nicht. Proteste der Heiminsassen werden abgewiesen. Erst mit einem Foto, das den Nachfolger Ampfs als KZ-Schergen zeigt, wird die Ablösung erreicht. Zufrieden sind die Jugendlichen nicht:

Abgelöst habt ihr ihn wegen seiner Vergangenheit, aber für uns war seine Gegenwart schlimmer.

Römhild nach der nationalsozialistischen Diktatur in den Zeiten der Verwahrlosung: Es sind ja nicht nur die Jugendlichen im Graupenhaus verwahrlost. Eine ganze Stadt verharrt im Zustand der verlorenen Würde und wird sie nicht zurückgewinnen in der Diktatur, die bis 1989 dauert. Harald Gerlach erzählt die Geschichte des Jugendwerkhofes bis zu dessen Auflösung, bis zum Zeitpunkt, als die Grenze 1961 dicht gemacht wird und Soldaten in das Schloß einrücken.
„Der Lebenswert einer Region läßt sich nur erfahrbar machen, wenn ihre Existenz anhand extremer Schicksale problematisiert wird“, sagt Gerlach.

In einer solchen Nagelprobe kommt man der Landschaft auf den Grund. Die außerordentlichen Gestalten sind das Beste, was sie zu bieten hat. Erträgt sie diese, so hat sie bestanden.

Als die Erzählung Das Graupenhaus 1976 erscheint, herrscht in Römhild eine Aufregung wie einst in Lübeck, als Thomas Mann seine Buddenbrooks veröffentlichte. Lynchstimmung wird spürbar, als der 36jährige Autor zur Lesung in die Stadt seiner Jugendjahre kommt. Leute aus der Stadt fühlten sich erkannt und verkannt. Diejenigen, die 1945 etwas hatten mitgehen lassen aus dem Schloß, zetern, sie hätten sich nichts vorzuwerfen. „Kein Mensch wäre darauf gekommen, daß sie es waren, wenn sie sich nicht offenbart hätten“, erinnert sich Gerlach und hört sie noch alle, wie sie eins zu eins ihr Römhild auf seines legen und alles, was Gerlach geschrieben hat, als einzige „Nestbeschmutzung“ sehen.
„Es war ein Abend, den ich nie vergessen werde“, sagt Gerlach.

Ich habe Blut und Wasser geschwitzt. Da hatten einige wirklich das Messer in der Tasche.

Nur einer verteidigt Harald Gerlach geradezu mit Engelszungen und verhindert, daß es zu Tätlichkeiten kommt: Harry Felsch, Jahrgang 1936, selbst Zögling im Jugendwerkhof, dann dort Sporterzieher mit einer Leidenschaft fürs Weibliche im Schloß, verurteilt zu neun Monaten Haft, abgearbeitet unter Tage in einem Kalibergwerk, seit 1972 einer der Direktoren des Römhilder Keramikunternehmens VEB Töpferhof.
Harry Felsch weiß, warum er um seinen einstigen Fußballkameraden kämpft: Er ist in die Literatur eingegangen, wie es schöner gar nicht sein kann. Er ist der Tausendsassa Meisegeier in Harald Gerlachs Graupenhaus, und er ist es natürlich nicht, weil Meisegeier eine Kunstfigur ist. Aber so, wie ihn der Dichter geschaffen hat, möchte man sein. Und so, wie ihn der Dichter geschaffen hat, wird er unsterblich bleiben. Keine später geleistete Verpflichtungserklärung für die Stasi wird daran etwas ändern. Harry Felsch, Sohn eines Antikommunisten und einer Kommunistin. Die Mutter blieb, der Vater ging am 17. Juni 1953 in den Westen. 1989 fliegt er aus der SED und aus seinem Betrieb und steigt nach der Wende als Gründer des thüringischen Fußballverbandes zum Vizepräsidenten auf und nach Bekanntwerden der IM-Unterschrift ab.
Felsch haben sie in Römhild gemocht, Felsch mögen sie noch immer. Felsch lebt heute in Suhl und hat im Kongreßzentrum einen Zeitungs- und Tabakladen, schreibt für einige Zeitungen Sportreportagen. „Meisegeier fährt am Regenrohr in die Nacht“, heißt es über seinen Abschied im Graupenhaus.

Der Gleichberge Schattenfeld ist noch ausgelegt mit angegangenem Harsch. Meisegeier läuft, allein zwischen Himmel und Erde, über Keuperkuppen der Frankenschwelle zu. Verliert sich… Auf der Schneezunge zergeht, eine Hostie, sein Fußtritt. Waji b’rach, also floh er, sagt Moses von Jacob, der nach dem Berge Gilead zog. Meisegeier wird uns fehlen. Jeder fehlt, der so verlorengeht.

Harald Gerlach sagt heute:

Ohne Altes Testament hätte ich keine Zeile meines Werkes schreiben können. Das Alte Testament ist so vielschichtig, daß es mit meiner Lebenssehnsucht zu tun hat.

Im Gedicht heißt es:

Viele Hirten
waren bei dem Dornbusch, aber
nur Moses hat die Stimme gehört.

Hier ist sie offenbar die geheinmnisvolle Dialektik von Landschaft und Geschichte. Gerlach erzählt davon in seinem Geschichtenband Vermutungen eines Landstreichers (1978), die vom Grabfeld zurück nach Schlesien reichen und mit der Frage enden:

Woher kommt diese Freiheit, den Tod weniger zu fürchten als einen nicht mehr aufgeschriebenen Vers?

„Wie weit müssen sich die Dinge verwirren, bis Klarheit wird, wie dunkel soll es werden, bis ich sehen kann, wie eng meine Welt, daß Raum zum Leben ist, wie stumm der Mund, bis endlich die Botschaft hörbar, die von nirgends ausgeht, die keiner empfängt, die nichts übermittelt“, heißt es in dem Roman Gehversuche (1985), eine Geschichte, in der ein Vorwärts keinen Ausweg mehr bietet und der Gedanke an ein Rückwärts nur den Selbstmord zuläßt.
In der Novelle mit dem knalligen Titel Jungfernhaut (1987) nimmt Gerlach noch einmal die Schlußsätze aus dem Graupenhaus thematisch auf:

Nehmen wir Rückkehr als eine Spielart des Abschieds. Die Antworten sind geschmolzen, die Worte aufgebraucht. Mit den Jahren rückt die Vergangenheit näher. Dann erfinden wir Orte, die uns erinnerlich sind.

Seine Flüchtlingskinder, nun Ende Dreißig, die sich treffen, um die Orte von einst zu finden, haben sie längst verstellt mit ihren Lebenslügen. „Neue Menschen“, die ihre Geschichte verschüttet haben.
Gescheiterte Lebensentwürfe, hier und da.

Wie muß die Welt beschaffen sein, damit der Mensch, also ich, sich als das entfalten kann, was er seiner natürlichen Bestimmung nach ist: ein kreatives Wesen?

So fragt Gerlach und geht in seiner Novelle Abschied von Arkadien (1988) ins Römhild des 18. Jahrhunderts zurück, erzählt die unglückliche Liebe des Dichters Uz zur jüngsten Tochter des Römhilder Amtsmanns Grötzner, die eine sichere Partie macht. Die Climene der Gedichte des Johann Peter Uz geht verloren wie auch Römhild als gesehenes Arkadien. Aber nur in der Zeitlichkeit seines kurzen Aufenthalts in Römhild. Die Realität, die sich erhält, ist seine Dichtung, die als Ewigkeit von Gerlach entdeckt wird – „Dichtkunst als kreative Urhandlung, die Zivilisation stiftet“, wie Harald Gerlach im Nachwort seiner Novelle schreibt.
Von Westen her schaut Helga Novak, 1966 von der DDR ausgebürgert, über die Grenze auf den Ort, der den Dichter Gerlach nicht losläßt, dem er immer neue Facetten abewinnt. Helga Novak sieht die uralte Ansiedlung auf dem Gleichberg als die „Mitte“ der keltischen Welt:

eine Landschaft selbst von den Römern gemieden
und die keltische Fliehburg
gesichert vor meinem Fuß durch Eisenzäune
der Bergkegel hat lange ausgedient
es steht keine Fliehburg mehr offen

doch an Sommerabenden gegen Acht
die Stunde der Fledermäuse
bilde ich mir ein aus dem Gleichberg
Flüche zu hören Beschwörungen unterbrochen
von gallischen Liedern aus Galle…

Es steht keine Fliehburg mehr offen: Harald Gerlach nutzt die Bühne, um seine Ablehnung des Systems sichtbar zu machen. Dessen Parteinahme für die bäuerlich-plebejischen Ziele gegen die „herrschende Klasse“ im 16. Jahrhundert enthüllt er als heuchlerisch. Am Beispiel einer Randgestalt im Bauernkrieg stellt er im historischen Kostüm die Verhältnisse in der DDR dar. In dem Stück Der Pfahl, das er 1979 schreibt, zeigt er den Wiedertäufer Hans Hut, geboren in Haina, in den letzten Stunden seines Lebens im Kerker von Augsburg:

Die Ruhe, der die Großen sich jetzt rühmen, ist die Ruhe vor erneutem Sturm – der kommt, wird nicht geringer sein, als der, der war.

Wenn Hans Hut den Pfahl, an dem er im Kerker gekettet ist, in Brand steckt und sterbend spricht: „Ein Zeichen setzen durch uns selbst. In diesem Land der toten Rebellen geschehen Aufstände unter der Erde“, dann ist in dieser Szene die Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz 1976 in Zeitz präsent. Wie die evangelische Kirche im Fall Brüsewitz unternimmt Gerlachs Bischof alles, um den Mythos der Selbstaufopferung gar nicht erst aufkommen zu lassen. Der Bischof ist sich sicher:

Der Geist ist käuflich. Seht Luthern an.

Und sollte er doch nicht verhindern können, daß sich die Ideen Huts durchsetzen, dann wird es für ihn nicht tödlich sein, aber für den kleinen Handlanger:

Hund, wenn ich falle, du fällst tiefer!

Der Dichter Harald Gerlach setzt dazu an, sich aus der DDR heraus zu „spielen“. Und das Regime reagiert. Nach außen hin wird der Schein gewahrt: Das Stück Der Pfahl darf 1983 innerhalb des Stücke-Bandes Spiele von Gerlach erscheinen. Die geplante Uraufführung in Dresden 1984 wird verboten. Das Spielverbot gilt für die gesamte DDR. Doch das System kann nicht verhindern, daß Der Pfahl 1984 in Marseille uraufgeführt wird. In der alten Bundesrepublik muß es nichts verhindern: Da schaut keiner hin, oder alle schauen weg.
Der zweite Anschlag des Regimes gegen Gerlach im Jahre 1984 läuft auf dessen Ende am Erfurter Theater hinaus. Das Stück Die Schicht, ebenfalls im Spiele-Band enthalten, wird zur Uraufführung in Erfurt vorbereitet. Gerlach bekommt keine Erlaubnis, die Proben zu besuchen. Das Stück ist die Demontage einer Heldenlegende, die Geschichte des Adolf Hennecke, der als Grubenarbeiter 1948 seine Tagesnorm auf 387 Prozent steigerte, nach sowjetischem Vorbild zum Begründer der Aktivistenbewegung wurde und zum Spitzenfunktionär aufstieg.
Gerlach hat das Stück als Komödie konzipiert:

Am Übermaß verendet jedes Leben.

Gerlach zeigt wie diese Art der Leistungssteigerung von den Arbeitskollegen Henneckes als Arbeiterverrat gesehen wird und wie sie ihn ausschließen aus ihrer Solidarität. Der käufliche Hennecke aber kommt oben ebensowenig an wie unten. Gerlach offenbart, wie der DDR-Held am Alkohol („Ich spül mir meine Not kehlab.“) verreckt. Eine Tatsache, die das Regime kaschierte. In Gerlachs Stücken besingt nur eine Hure das Vorbild Hennecke:

Kein Freier, der sich meinem Reiz verweigert,
seit ich wie du die Leistung hab gesteigert.

„Modelle haben die Eigenart, daß sie schiefgehen, wenn man sie sich ausdenkt“, sagt Harald Gerlach und erinnert sich an seine Arbeitszeit im Basaltsteinbruch:

Der Sozialismus wollte das alles effektiver machen. Kammersprengung war die Idee. In den Berg wurde ein Stollen getrieben, dann im Berg eine riesige Kammer ausgebaut und mit Dynamit vollgestopft und dann das Ganze gesprengt. Dann hatten wir 50 Tonnen Basalt und 120 Tonnen Dreck. Alle Maschinen zur Grobzerkleinerung verstopften. Das war die Produktionssteigerung im Sozialismus.

Römhilder Erfahrung, umgesetzt am exemplarischen Fall Hennecke: Die Schicht wird zur Uraufführung angenommen. Doch man hat das Stück zu einem harmlosen Spiel zusammengestrichen. Der Hauptdarsteller Manfred Heine läuft während der Proben zum Autor:

Du mußt etwas unternehmen, sie zerstören dir dein Stück.

Harald Gerlach schreibt einen Brief an die Theaterleitung und verbietet die Uraufführung. Das Stück wird dennoch aufgeführt. Harald Gerlach kündigt seine Position am Erfurter Theater.
Einen Bewunderer der Komödie hat er: Heiner Müller, der sofort sieht, daß hier ein herrliches Stück über die Käuflichkeit des Menschen entstanden ist, das weit über den Fall Hennecke hinausgeht. „Jetzt hast du mich kalt erwischt“, sagt er zu Gerlach.

Ich habe nämlich eine Sehnsucht, eine DDR-Komödie zu schreiben, die nicht DDR-Komödie ist.

Die Insel sinkt. Im Aufwind
westwärts: ich. Zum Feind
des Königs, der mein Feind ist.
Der Übel kleinstes: unser Vorteil.
Selbsterhebung, Sohn, ist
Fall.
Tragt, Flügel, mich nicht
über mich hinaus.

So schreibt der Lyriker Gerlach über Daidalos. Nun stellt er Ikaros, den Sohn, in den Mittelpunkt, der den Anstoß gibt, daß Daidalos mit ihm flieht. Der Vater mit seiner schuldbeladenen Vergangenheit fliegt von einer Abhängigkeit in die andere, während Ikaros ausbricht – der Sonne entgegen. Gerlach schreibt sein erstes Hörspiel. Flug und Absturz des Ikaros: In diesem Bild sucht sich einer selbst.

Erst seit ich fliege, weiß ich, wer ich sein kann. Ich hab den Himmel, kein Verbot.

Ikaros, kehr um! Du fliegst zu nahe an die Sonne. Das Wachs wird schmelzen, das die Federn hält. Komm her zu mir. Da vorn liegt Sizilien. Wir brauchen nur zu landen und sind schon in Sicherheit. Hörst du nicht, mein Sohn, kehr um, Ikaros.

Und wenn das Wachs schmilzt, die Sonne ist meine Schwester. Ich bin ein Vogel. Die Erde bringt mich nicht zurück.

Harald Gerlach sagt über seinen Ikaros:

Er sucht die Befreiung aus der Enge des Labyrinths. Er rechnet nicht damit, was daraus wird. Er sucht die Erfüllung des Lebens in diesem Augenblick. Und er fällt. Aber er hat mindestens in diesem Augenblick total und ganz bei sich angekommen, gelebt.

Gerlach setzt den Augenblick vollkommen gelebten Glücks gegen die Rechenhaftigkeit des Lebens, in dem nichts riskiert ist. „Man muß sich täglich riskieren“, sagt er, „nur so geht Leben wirklich.“
Harald Gerlach erinnert sich, wie ihm „wohlwollende Menschen beim Berliner Rundfunk“ empfohlen hatten, die Ikaros-Geschichte als Kinderhörspiel laufen zu lassen. Da würde es todsicher durchkommen. Das Manuskript wird angekauft. Es wird produziert. Es kommt auch als Kinderhörspiel nicht durch. Es wird im Dezember 1984 aus dem Sendeplan genommen. Nach der Wende wird es im Januar 1990 gesendet und erhält den Internationalen Kinderhörspielpreis von Terre des hommes.
Im Jahre 1985 wird Manfred Heine, der Hennecke-Darsteller aus Gerlachs Die Schicht, in Rudolstadt Theaterintendant und engagiert aus Solidarität Gerlach. Das Spielprogramm, das der Dichter vorlegt, wird von der SED-Kreisleitung nicht abgesegnet. Die für Februar 1987 angesetzte Leseaufführung eines neuen Gerlach-Stückes mit dem Titel Vergewaltigung fällt aus. Der Einakter räumt mit der Legende des antifaschistischen Widerstands in der DDR auf. Nun räumen andere auf: Gerlach muß gehen. Ende desselben Jahres ereilt den Intendanten das gleiche Schicksal.
Noch in jenem Jahr soll zum erstenmal ein Buch von Gerlach in der alten Bundesrepublik erscheinen: die Novelle Jungfernhaut in dem inzwischen untergegangenen DKP- und auch sonst dem DDR-System nahen Pahl-Rugenstein-Verlag. Harald Gerlach lehnt ab. Ein Vertreter des Verlages aus Köln taucht beim Autor auf mit der Argumentation:

Sie wissen doch, daß Sie keine Chance haben, die Lizenzerteilung zu verhindern. Ich mache Ihnen ein Angebot. Sie durften bisher nicht reisen. Ich kann aber dafür sorgen, daß Sie zum erstenmal reisen dürfen. Ich fahre heute nach Köln zurück. Ich nehme ihre Entscheidung mit. Entweder Sie reisen und das Buch kommt oder Sie reisen nicht und das Buch kommt trotzdem.

Gerlach ist gereist, 27 Jahre nach dem Italienausflug – zu 33 Lesungen an 27 Tagen in der Bundesrepublik.
Nach seiner Rückkehr inszeniert er in Weimar Majakowskis Schwitzbad. „Guten Morgen“, sagt der Theaterportier zu Gerlach.

Sie wollen den Majakowski machen. Der ist bei uns schon vor fünfzehn Jahren bloß bis zur Generalprobe gekommen!

Diesmal geht es schneller. Die Proben zu Gerlachs Neubearbeitung des Stücke ruft die Stasi auf den Plan. Sie erzwingt die Einstellung.
Harald Gerlach machen Sehstörungen zu schaffen. An seiner Seite ist die Dramaturgin Bettina Olbrich, die er am Rudolstädter Theater kennengelernt hat und die er liebt. Er ist in dem Zustand, daß er über Straßen geführt werden muß und nur noch mit der Lupe lesen kann. Durch Vermittlung eines Freundes bekommt er einen Termin in der Augenklinik Jena – bei Professor Jütte. Die Diagnose: Grauer Star. Der Arzt sagt:

Es muß sofort operiert werden. Die Sache entwickelt sich mit rasender Geschwindigkeit.

Gerlach hört die Worte des Professors heute noch wie damals:

Es kommt für sie nur ein Implantat aus dem NSW in Frage.

NSW – das meint Nichtsozialistisches Währungssystem.

In Bulgarien wird das Implantat ebenfalls hergestellt. Es taugt nichts. Operationen mißlingen in acht von zehn Fällen. Wenn sie doch gelungen sind, stößt der Körper das Implantat nach einiger Zeit ab. Das kann man nur bei ganz alten Leuten verantworten.

Gerlach hat kein Westgeld, um das westliche Implantat einzukaufen. Der Professor stellt einen Antrag beim DDR-Gesundheitsministerium, das Implantat aus dem Westen zu genehmigen. Es ist Januar 1989.
Gerlach ruft mehrmals in der Klinik an. Kein Bescheid. Im März schreibt ihm der Professor, daß der Antrag vom Ministerium abgelehnt worden ist, und macht ihn außerdem darauf aufmerksam, daß zur Zeit auch keine bulgarischen Implantate zur Verfügung stehen. Gerlach sagt:

Das war ein eisiger Brief.

Der Schriftsteller sieht nichts mehr. Er wendet sich an den Schriftstellerverband, bittet um eine Vortragsreise im Westen, um sich das Geld für die Operation zu verdienen. Der Verband lehnt ab. Der Aufbau-Verlag verwendet sich als Interessenvertreter Gerlachs beim Kulturministerium und bekommt ebenfalls eine Abfuhr. Es ist Mai 1989.
Am 13. Mai, dem Pfingstsamstag, erhält Gerlach ein Telegramm von Christa Wolf mit den Worten:

Ihre Operation findet am 30. Mai in Berlin-Charlottenburg statt. Bitte Visaangelegenheiten mit dem Kulturministerium klären.

„Es gibt nicht die geringste freundschaftliche Bindung zu Christa Wolf“, sagt Gerlach.

Ich hatte sie nicht gebeten, etwas für mich zu tun.

Aber Angela Drescher vom Aufbau-Verlag, Gerlachs Lektorin die auch die Christa Wolfs war. Ein Zufall schuf die Verbindung zum Klinikum Berlin-Charlottenburg. Ein Enkelkind der Schriftstellerin war dort in der Augenklinik ein Jahr zuvor operiert worden. Christa Wolf ruft in Berlin-Charlottenburg Professor Wollensack – und fragt, ob dieser die Operation macht. Als das klar ist, weist sie ihren Lizenzverlag Luchterhand an, aus ihrem Guthaben die Kosten für die Operation Gerlachs an die Augenklinik zu überweisen. Nach Pfingsten ruft Gerlach das Kulturministerium an, fragt was er zu machen habe. Man teilt ihm mit, daß er zurückgerufen werde. Dann erhält er die telefonische Anweisung, daß ein Mann des Ministeriums zu einem bestimmten Zeitpunkt vor der Stadtkirche in Jena zu einem Treffen zur Verfügung stehe: Erkennungszeichen das Neue Deutschland. Bettina Olbrich fährt von Rudolstadt zu dem Treffen, übergibt beider Ausweise und erhält eine Telefonnummer für Gerlach. Am Telefon wird ihm mitgeteilt, am Freitag, dem 26. Mai, mit seiner Lebensgefährten in Berlin zu sein. Vom Berliner Aufbau-Verlag ruft Gerlach beim Kulturministerium an. Antwort:

Heute wird es nichts mehr.

Er soll am Samstag anrufen. Am Samstag wird es auch nichts. Angela Drescher, die Lektorin, ruft Christa Wolf an. Die ist irritiert über das, was da abläuft. Für den Sonntag hat Gerlach eine andere Telefonnummer. Der Teilnehmer am anderen Ende der Leitung vertröstet ihn auf Montag. Am Montag früh um sieben Uhr ruft Gerlach im Ministerium jede Stunde an, ohne Erfolg. „Bettina war einem Zusammenbruch nahe, und Angela Drescher weinte“, erinnert sich Gerlach. „Bringt mich zum Ministerium“, sagt er den beiden.

Ich setze mich vor die Tür, bis sie mich reinlassen.

Die drei kommen hinein und müssen noch einmal stundenlang warten. Dann bekommt Gerlach seinen Reisepaß, aber Bettina Olbrich, die ihn in die Klinik fahren soll, erhält ihren nicht. Noch einmal Warten auf den nächsten Kurier. Dann kann die Fahrt nach West-Berlin beginnen. Mit der Transplantation gewinnt Gerlach sein Augenlicht zurück. Harald Gerlach in Leimen:

Mit Dankbarkeit und Respekt denke ich an Christa Wolf.

Harald Gerlach ist aus der Todesschwere des eigenen Vaters herausgekommen und hat im Graupenhaus dessen Leben verwandelt in die Möglichkeit jenes Lebens, das Ampf, der einstige Schriftsetzer, führt, im Scheitern sich vollendend. Und Harald Gerlach ist aus der Todesschwere der DDR herausgekommen. Die Gewißheit des Absturzes, wie sein neuester Gedichtband heißt, wird aufrechtgehalten und denunziert nicht die gewonnene Heiterkeit. Das vermag Literatur: die Erfahrung des Abgrunds in den Himmel zu heben. Und doch zu wissen:

Welch Niemandsort mir: zwischen
nie ankommen und noch nicht
fortgehn. Gut, sag ich, leicht
ist das Schwere auf mir. So
jedenfalls will ich es nehmen…

In seinem Roman Windstimmen erinnert sich Gerlach an einen Wunschvater, der noch so gewesen ist wie die väterlichen Vorfahren:

Der Vater nahm, wenn er morgens zur Werkstatt ging, zehn Stumpen mit, legte sie aufs Fensterbrett, entzündete den ersten vor dem ersten Handschlag. Wenn der letzte erlosch, war das Tagwerk beendet. Kam der Junge nach der Uhrzeit fragen, wurden die verbleibenden Stumpen gezählt? Also was ist Zeit? Eine Handvoll gerauchter Stumpen oder ein Augenblick der Liebe…

Es gab einmal eine Grundgröße: das Tagwerk. So viel, wie ein Bauer mit dem Pferd unter dem Joch an einem Tag ackern konnte. Der Dichter behält für seinen „Vater“ diese Maßeinheit bei. Schreibend erfährt er in Leimen, daß sie lebenswert geblieben ist. Mehr noch: daß sie sich am neuen Ort leben läßt. Richard Pietraß, der Berliner Lyriker und Begleiter so vieler verkannter Dichter im Osten, sitzt im überdachten Hof Gerlachs. Ein langer, schmaler Tisch mit zwei Bänken: das ist der Platz, an dem gegessen, getrunken, gesprochen wird.
Richard Pietraß erlebt die Lust Gerlachs zu kulinarischer Inszenierung. Regie führen, auf der Bühne stehen und sich zusehen, wie es den anderen schmeckt. Und dann erzählen: von der Geschichte dieser Kulturlandschaft, die so alt ist wie der Weinbau mit seinen zweitausend Jahren. Von einer Geschichte, die Gerlach auflöst in poetische Bilder.

Ein Zehnliterfaß,
Brentano, langt hin, Unsterblickeit
zu stillen. Ach, Suleika! Tief im Glas
laß uns nach Klarheit suchen, bis daß ich
eins und doppelt bin.

Selbst Kurt Drawert, den es genauso weit nach Westen getrieben hat wie Gerlach, nach Darmstadt, verliert als Gast alle sonstige Anspannung, gerät in heitere Melancholie an diesem Zaubertisch.
„Hier will Deutschland Italien werden“, hat Joseph II. bei der Durchfahrt über Leimen gesagt. Hier ist Harald Gerlachs Assisi-Gedicht entstanden.

Der Stein ist Zeit, er atmet
noch, wenn die Uhren anhalten
und die Brunnen versiegen.

Die steinernen Wege, gestuft,
durch den Hang ändern fortwährend
ihr Ziel. Wo immer du aufbrichst,
du endest bei dir.

Harald Gerlach sagt:

Wir sind in Leimen auf erstaunlich konfliktlose Weise angenommen worden. Es gibt hier Leute, die vor zwanzig Jahren aus Nordrhein-Westfalen hier hergezogen sind und sich noch immer in der Fremde fühlen.

Mit Bettina Olbrich, mit der er seit 1992 verheiratet ist, dem Sohn Josef, der sechs Wochen nach der Augenoperation zur Welt kam, dem ein Jahr jüngeren Justus und dem fünfzehnjährigen Jakob, den die Frau mit in die Ehe gebracht hat, hat sich die Familie die Gegend erwandert: den Odenwald und den Pfälzer Wald. Nach Frankreich zieht es die fünf immer wieder. Boris Becker, der in Leimen zur Welt kam und dessen Eltern dort wohnen, haben sie bisher nur im Fernsehen gesehen.
Ob es richtig war, Thüringen zu verlassen, diese Frage hat sich Harald Gerlach immer wieder gestellt und Antworten in seinen Windstimmen hin- und herbewegt. Da heißt es:

Wer geht, wird schuldig. Hinter diesem Urteil steckt die Angst der Zurückbleibenden, sie könnten verantwortlich gemacht werden für das Scheitern.

An anderer Stelle des Romans sagt jemand:

Alles hört auf, wenn einer weggeht.

Für den Dichter Harald Gerlach hat der Satz keine Geltung. „Wir sind noch nicht miteinander fertig, das Grabfeld und ich“, sagt er.

Was hat es mit dieser Landschaft auf sich, daß sie für mich soviele Texte hergegeben hat und noch immer hergibt. Es laufen die Grabfeldgeschichten weiter.

Harald Gerlach denkt an seinen Großvater mütterlicherseits. Eierhändler en gros, unehelicher Sproß eines Rechtsanwalts und seiner Haushälterin. Dieser Sohn hatte das Haus des Rechtsanwalts in Bunzlau geerbt, eine ehemalige Produktionsstätte für Bunzlauer Ton. „Die Küche war der alte Brennofen, und in dieser Küche bin ich aufgewachsen“, sagt Harald Gerlach.
Mehrmals im Jahr ist dieser Großvater in andere Städte gefahren, hat Konzerte und das Theater besucht und auch Frauen, die ihm zugetan waren:

Er hat es geschafft, sie alle nach Breslau einzuladen, hat sie an einer Tafel vereint und war so bezaubernd, daß sie hinnahmen, wie es und wie er ist.

… Um diesen Großvater ist etwas ganz Eigenartiges. Als er 1945 in die Heimat meiner Großmutter nach Haina kam, haben sie alle einen Bogen um ihn gemacht. Als er tot war, haben alle gesagt, was er ihnen bedeutet hat. Dieser Mann, der die heimlichen Sehnsüchte der anderen verkörperte, die sie sich nicht erfüllt haben. Alle bedauerten seinen Verlust. Die Großmutter, die bisher der Bezugspunkt war, wurde unwichtig. Da wußte sie, jetzt kann ich sterben. Und sie nahm sich einen Schlaganfall. Ihr Herzasthma war immer nur eine Botschaft gewesen, aber nie etwas Richtiges.

Das ist er, der Erzähler Gerlach. Wir stehen vor dem Haus der Großmutter in Haina, und Gerlach erinnert sich:

Nach dem Tod der Großmutter blieb eine Katze zurück. Eigentlich sollte sie 1945 an die Stallwand geklatscht werden wie die anderen Katzen aus dem ganzen überzähligen Wurf. Ich war gerade angekommen in Haina, schrie so fürchterlich, daß ich das letzte Katzenkind retten konnte. Diese Katze war dann der tollste Rattenfänger im Dorf. Alle ihre Abkömmlinge waren begehrt. Nach dem Tode meiner Großmutter zog eine Frau in die Wohnung, die wir die Jungfrau Elise nannten. So war die Katze die Königin des Hauses.

Es gibt andere Geschichten. Geschichten, um die in Römhild die Mauern des Schweigens undurchdringlich gewesen sind. Eine dieser Geschichten, die Gerlach nicht losläßt, ist so in der DDR beschrieben worden:

Die Faschisten richteten am Großen Gleichberg eine Außenstelle des KZ Buchenwald ein, in der bis März 1945 etwa 600 Häftlinge schwerste Steinbrucharbeiten verrichten mußten, 239 wurden zu Tode geschunden. 70 von ihnen hatte die SS im März vor Kriegsende in einen Stollen getrieben und durch Zusprengen des Eingangs bestialisch umgebracht.

„Was heißt hier die SS? Wird auf diese Weise nicht das Verbrechen ins Unfaßbare abgeschoben?“ So fragt Gerlach und fügt hinzu:

Sicher haben SS-Offiziere die Sprengung angeordnet. Da müssen dann aber Techniker die Sprengung vorbereitet und den Sandstollen mit Bohlen abgedichtet haben. Und dann gibt es ja noch die Zeit vor dem Verbrechen, die auch eine Zeit des Verbrechens war. Die Häftlinge sind zu Arbeiten in die Stadt getrieben worden, auch in die umliegenden Orte.

Von der Mutter eines Freundes hat er ein einziges Erlebnis im Umgang mit den Häftlingen erfahren. Sie hatte Häftlingen, die vorbeigeführt wurden, Brot über den Zaun gereicht und bekam die Peitsche des Aufsehers über die Finger geschlagen.

Da ist mir klargeworden, daß hier Ungeheuerliches passiert sein muß. Ungeheuerliches, das die meisten im Bier ersäuft haben. Abends traf man sich in der Gastwirtschaft und hat die Erinnerung totgetrunken.

Harald Gerlachs „Buchonia“ aus der Nachwendeperspektive, enthalten im neuen Gedichtband:

Fremd, ein Film, dessen Fabel wir nicht
kennen, hasten vorm Kneipenfenster bizarre
Fragmente vorüber. Lokale Betriebsamkeit – alles
ist bei der Sache, nicht bei sich. Vergebens
suchst du den Glanz, der die oftmals erzählten
Geschichten verklärt hat. Das Erinnerte ist
nirgends auffindbar; wir hätten nicht
herkommen sollen.

Alle Wege sind Staub. Daß wir sie zweimal
gehen, ist reiner Zufall. Der sich wiederholt.
Zweimal täglich tritt der pensionierte
Bahnbeamte an den demontierten Schienenstrang.
Die lebenslangen Verspätungen haben ihm
eine frühe Müdigkeit eingebracht. Die überwintert
in ausgebeulten Manteltaschen zwischen
Schnürsenkeln und abgenagten Kopierstiften.

Fremd liegt dein bloßer Arm auf dem
rissigen Tischholz. Der Fuß des Weinglases
zeichnet feuchte Jahreringe in unsere
Vergeßlichkeit. Der gequälten Sprache muten
wir nichts mehr zu, das verbindet uns mit
dem Aufpasser im Provinzialmuseum, der
schmatzend sein Vesperbrot aß, während
die Turmglocke zum Kirchgang rief
auf querfeld längst verschwundenen Wegen.

Leiter des Museums im Schloß von Römhild ist nach 1989 ein ehemaliger Major der Grenztruppen geworden. Römhild ist ausgewandert in die Dichtung Harald Gerlachs. Römhild lebt in Leimen. Eine Erfindung wie Schlesien, offen für die Zukunft.

Jürgen Serke, aus Jürgen Serke: Zu Hause im Exil. Dichter, die eigenmächtig blieben in der DDR, Piper Verlag, 1998

 

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Henryk Goldberg: Harald Gerlach und die Geister seiner Thüringer Geschichten
Thüringer Allgemeine, 7.3.2015

Zum 20. Todestag des Autors:

Henryk Goldberg: Heimatkunde, poetisch: Erinnerungen an den Dichter Harald Gerlach
Thüringer Allgemeine, 19.6.2021

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