Harald Hartung: Zu Eugen Gomringers Gedicht „vielleicht“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Eugen Gomringers Gedicht „vielleicht“ aus Eugen Gomringer: worte sind schatten. die konstellationen 1951–1968. 

 

 

 

 

EUGEN GOMRINGER

vielleicht 

vielleicht baum
baum vielleicht

vielleicht vogel
vogel vielleicht

vielleicht frühling
frühling vielleicht

vielleicht worte
worte vielleicht

 

„vielleicht“ – Eine Konstellation Eugen Gomringers 

„knappheit im positiven sinne – konzentration und einfachheit – sind das wesen der dichtung“, so lautet ein Satz in Eugen Gomringers erstem Manifest „vom vers zur konstellation aus dem Jahr 1954“ (worte sind schatten, S. 277f.). Einfachheit zumindest kennzeichnet den vorstehenden Text auf den ersten Blick; eine Einfachheit in Vokabular und Struktur, die sich dem Leser, um nicht zu sagen dem Betrachter (denn Gomringers Konstellationen wollen ebenso betrachtet und meditiert wie gelesen werden) sogleich mitteilt.
Einfachheit im Vokabular: Es gibt nur fünf Wörter, welche, die Überschrift eingeschlossen, insgesamt siebzehnmal vorkommen. Deutlicher noch wird die Einfachheit und Symmetrie des Textes, wenn man nach Wortarten teilt. Die vier Substantive (man könnte durchaus ,Dingwörter‘ sagen) erscheinen je zweimal, also insgesamt achtmal; und zwar die ersten drei im Singular und nur das vierte im Plural. Das Modaladverb „vielleicht“ erscheint ebenfalls achtmal, hält also den Substantiven die Waage oder, rechnet man sein Vorkommen als Überschrift hinzu, gibt ganz knapp den Ausschlag zu seinen Gunsten. Der Begriff ,Adverb‘ lenkt den Blick auf die Tatsache, daß es in Gomringers Konstellation kein einziges Verbum gibt.
Einfachheit der Struktur: Der Text folgt dem Prinzip der Reihung und dem der Umkehrung. Das Modaladverb „vielleicht“ wird jeweils einem Substantiv zugeordnet, und anschließend in der Folgezeile werden beide Worte in umgekehrter Folge wiederholt. So entsteht eine rudimentäre Syntax; man könnte von Zwei-Wort-Sätzen reden. Jeder Verbund zweier Worte kann als Satz gelesen werden. Seine Wiederholung in Form eines Chiasmus kann als Antwort im Sinne des Aufgreifens, der Erweiterung oder der Einschränkung begriffen werden. Und schließlich ergibt die Folge der diversen Reihungen und Verkehrungen (graphisch wie ,Strophen‘ abgesetzt) eine Abfolge strukturell fast gleicher Elemente. Lediglich der Plural „worte“ im vierten Abschnitt markiert eine Differenz. Die Deutung muß deshalb – und nicht hier allein – die semantischen Gehalte in die strukturelle Abfolge einbeziehen.
Jede Deskription, wie sie hier ansatzweise auf der Ebene von Vokabular und Struktur versucht wurde, muß gegenüber der augenfälligen Simplizität des Textes (bei gleichzeitiger Komplexheit) pedantisch und komplizierend wirken. Und jeder Leser, der einigermaßen unvoreingenommen an diese Konstellation herangegangen ist, wird keine sonderliche Mühe gehabt haben, den Text als Gedicht zu lesen; als ein ungemein reduziertes, aber in seinen Bezügen durchaus vollständiges oder im Lesen komplettierbares Gedicht. Lesegewohnheit und graphische ,gedichthafte‘ Präsentation treten zusammen. Die Frage ist, wie weit eine Interpretation reicht, die sich nicht ausdrücklich auf die Theorie der konkreten Poesie bezieht, der die Konstellationen Gomringers zugerechnet werden. Eine solche ,theorielose‘, wenngleich nicht naive Lektüre könnte etwa folgendermaßen verlaufen: Das Gedicht gibt sich als zögernder, vorsichtiger Entwurf. Das „vielleicht“ des Titels setzt einen imaginären Rahmen, innerhalb dessen vieles, wenn nicht alles möglich wird. Eine sehr behutsame Stimme scheint zu sprechen. Sie wählt nicht den Modus des Indikativs als Weise der neutralen Setzung, als Modus der Realität, sondern den aufs Modaladverb „vielleicht“ verkürzten der Möglichkeit. Das Sprechen, d.h. Setzen der Worte (oder Dinge!) geschieht wie unter Vorbehalt: „vielleicht baum“. Das Gesetzte wiederum, das nun einmal hypothetisch vorhanden ist, wird anschließend wieder abgeschwächt, in Zweifel gezogen: „baum vielleicht“. Aber schon die erste hypothetische Setzung hat Konsequenzen. So vage und allgemein sie ist (denn nicht ein bestimmter, konkreter „Baum“ wird gesetzt, sondern die Spezies „baum“, sozusagen dem Diktionär, nicht der Realität entnommen), sie ist nicht mehr rückgängig zu machen: im Modus der Sprache ist sie real oder, wenn man lieber will, ,konkret‘. Wo „baum“ gesagt wurde oder geschrieben, ist „baum“ da.
Auf diesem hypothetischen sprachlichen ,Boden‘ (die Metapher stellt sich zum Verständnis ein) wird nun weiteres möglich. Wo „baum“ ist, da ist auch „vogel“ und „frühling“ – alles freilich unter dem gleichen Vorbehalt des „vielleicht“. Lauter naheliegende, älteste, einfachste Assoziationen, wie wir bemerken. In der Form des Indikativs, in der Weise tradierter ausgeführter Syntax wäre die Banalität nicht fern. Aber das diskrete und skeptische „vielleicht“ und die isolierenden Reihungen verfremden den allzu vertrauten Zusammenhang von Baum, Vogel und Frühling. Man beginnt sich zu fragen, ob das Zusammenlesen der drei Elemente überhaupt legitim war. Der vierte Abschnitt, spätestens, kann einen daran zweifeln lassen. Die Zäsur (oder der Sprung) ist grammatikalisch und semantisch markiert. Nicht der Singular „wort“, sondern der Plural „worte“ tritt an die vorgesehene Stelle. Die Reihung erhält eine neue Qualität. Sie wird bekräftigt durch den Charakter des vierten Abschnitts als Schluß. Nach unserer Lesegewohnheit erwarten wir so etwas wie Zusammenfassung, Deutung und Überhöhung. Das mag zu Mißverständnissen führen, muß aber nicht in jedem Fall falsch sein. Was besagt, was ,bedeutet‘ der vierte Abschnitt?
Er gibt nicht die vielleicht erwartete Eindeutigkeit, sondern bleibt mehrdeutig, offen. Und das nicht bloß wegen Wegfalls der üblichen syntaktischen Verbindungen. Die Ambivalenz liegt in der Pluralform „worte“. „vielleicht worte“, das ließe sich in Hinsicht auf Sprachskepsis lesen. Extrem formuliert: „baum“, „vogel“, „frühling“ sind „vielleicht“ nur Worte. Ihr möglicher Realitätscharakter geriete so in den Sog des Sprachzweifels. Der hypothetisch gewonnene sprachliche ,Boden‘ bräche ein; die langsam steigende Kurve des Gedichts hätte einen Knick. Anders die, wie mir scheint, naheliegendere und befriedigendere positive Lesart. Die aufsteigende Linie „baum“, „vogel“, „frühling“ fände ihre Aufgipfelung in „worte“. Das „vielleicht“ erhielte einen Ton von Hoffnung, der Hoffnung auf „worte“, „worte“, verstanden als Setzung, als menschliche, poetische Leistung. Nur schwer, glaube ich, kann man sich an dieser Stelle einer möglicherweise implizierten, aber unausgesprochenen Analogie entziehen, der topologischen Verbindung von ,Vogel‘ und ,Sänger‘, zumal das übrige verbale Ambiente diese Verbindung nahelegt. Freilich ist das ungebrochene „Ich singe, wie der Vogel singt“ dem Gedicht Gomringers nicht mehr möglich. Das allzu naheliegende „vielleicht lieder / lieder vielleicht“ wird eben nicht realisiert. Wenn also diese Konstellation überhaupt ein poetologischer Text ist, ein Text über das Machen, dann mit der nüchternen Einschränkung auf die „worte“ – auf sprachliche Elemente, die gesprochen und geschrieben werden, nicht aber gesungen. Alle Deutungen, seien sie negativ oder positiv akzentuiert, konvergieren im Rekurs des Gedichts auf seine Sprachlichkeit. „vielleicht“ ist ein Gedicht über Sprache, über die Möglichkeit, Worte zu setzen, über die Möglichkeit sprachlicher Resultate. Sprachskepsis und Sprachhoffnung kommen in der Ambivalenz des Wortes „vielleicht“ zum Ausdruck. Das Modaladverb, das auf die nähere Fixierung durch das Verb und auf die mögliche Negation des mit dem Verbverbundenen Vorgangs verzichtet, verharrt in der reinen Möglichkeit; in einer sprachlichen Welt, in der es keine Vorgänge und keine Dinge gibt, sondern nur „worte“. „worte“ – aber nicht „wörter“. Nicht „wörter“ in beliebiger, allenfalls alphabetischer Folge des Diktionärs, sondern „worte“ in einer nachvollziehbaren Struktur, die Gomringer eine „Konstellation“ nennt.
Was bis hier versucht wurde, ließe sich als ,immanente‘ Interpretation bezeichnen. Ihr kann zum Vorwurf gemacht werden, daß sie Gomringers Text als traditionelles Gebilde, als reduziertes Gedicht betrachtet; vor allem aber daß sie den von manchen Verfechtern der konkreten Poesie für unabdingbar gehaltenen Zusammenhang von Theorie und Praxis vernachlässigt. Immerhin, so meine ich gezeigt zu haben, läßt sich der Text so ,verstehen‘ und ,aufschließen‘, und zum andern begreift sich Gomringer selbst (sehr im Unterschied von manchen seiner Kollegen und Nachahmer) als Verfasser von Dichtung; und 1967, in einem Rückblick auf „die ersten Jahre der konkreten poesie“, wünscht er der konkreten Poesie, daß sie sich nicht zu einer Form der Dichtung entwickelt, „die jenseits der haupttradition angesiedelt ist“ (worte sind schatten, S. 298). Wenn die konkrete Poesie in die „haupttradition“ der Lyrik gehört, dann kommt es weniger auf die Betrachtung einer entscheidenden Differenz als auf die wesentlichen Modifikationen dieser Sonderform der Lyrik an. Gomringer selbst hat die wesentlichen Hinweise in knapper Form gegeben. Zum Grundsätzlichen seiner Dichtung bemerkt er: 

das wort: es ist eine größe. es ist – wo immer es fällt und geschrieben wird. es ist weder gut noch böse, weder wahr noch falsch. es besteht aus lauten, aus buchstaben, von denen einzelne einen individuellen, markanten ausdruck besitzen. es eignet dem wort die schönheit des materials und die abenteuerlichkeit des zeichens. es verliert in gewissen verbindungen mit anderen worten – seinen absoluten charakter. das wollen wir in der dichtung vermeiden. wir wollen ihm aber auch nicht die pseudoselbständigkeit verleihen, die ihm die revolutionären stile gaben. wir wollen es keinem stil unterordnen, auch dem staccato-stil nicht. wir wollen es suchen, finden und hinnehmen. wir wollen ihm aber auch in der verbindung mit anderen worten seine individualität lassen und fügen es deshalb in der art der konstellation zu anderen worten. (worte sind schatten, S. 280.) 

Die Form der Konstellation hat Gomringer mehrmals definiert, am knappsten und deutlichsten so: 

Unter Konstellation verstehe ich die Gruppierung von wenigen, verschiedenen Worten, so daß ihre gegenseitige Beziehung nicht vorwiegend durch syntaktische Mittel entsteht, sondern durch ihre materielle, konkrete Anwesenheit im selben Raum. Dadurch entstehen statt der einen Beziehung meist deren mehrere in verschiedenen Richtungen, was dem Leser erlaubt, in der vom Dichter (durch die Wahl der Worte) bestimmten Struktur verschiedene Sinndeutungen anzunehmen und auszuprobieren. Die Haltung des Lesers der Konstellation ist die des Mitspielenden, die des Dichters die des Spielgebenden. (Hartung, S. 40f.) 

Und ein letztes, entscheidendes. Gomringer entlehnte den Begriff der Konstellation Mallarmés Un coup de dés, wo es heißt:

rien
[ …]
n’aura eu lieu
[…]
excepté
[…] peut-être
[… ]
une constellation

Lenkt man von der Theorie zurück aufs Gedicht, so ergeben sich Bestätigungen wie Ergänzungen der versuchten Interpretation. Bestätigt wird die im Text geleistete Behauptung einer sprachlichen Autonomie gegen syntaktische und semantische Verbindungen, die relative Offenheit möglicher Deutungen und der Spielcharakter des Textes. „worte sind schatten […] worte sind spiele“, heißt es in einer anderen Konstellation oder – in des Autors kommentierender Prosa –: 

worte sind druckerschwärze, worte sind wellen, worte sind projektionen, worte sind taten, worte sind gestalten, worte haben formen. man sagt auch: worte haben gewicht. was aber sind worte noch? darüber wollen wir schweigen. ich sage aber auch: worte sind spiele. spiele sind keine spielereien. spiele setzen lust, heiterkeit und bejahung voraus. wer worte als spiele erkennt, erkennt sie auch als schatten. (worte sind schatten, S. 293.) 

Bemerkenswert, wie sehr der Autor in Metaphern redet, um den „konkreten“, d.h. materialhaften, wie auch den spielerischen Charakter seiner Poesie zu verdeutlichen. Bemerkenswert auch, wo er in seiner Selbstdeutung einhält und aufs Schweigen verweist. Was der Autor verschweigt, darf der Leser enträtseln.
Dem Leser wird überhaupt eine aktivere und weiter reichende Rolle als üblich zugesprochen. Das semantisch näher bestimmte Gedicht konstituiert sich sozusagen erst im Akt des Lesens. Dabei darf ausdrücklich die herkömmliche Leserichtung umgekehrt oder verändert werden. Die Umkehrung betrachtet Gomringer als seinen „vermutlich wichtigsten beitrag zur konkreten poesie“ (worte sind schatten, S. 297). Solche Umkehrung der Strukturen oder der Leserichtung geht über die semantische und syntaktische Mehrdeutigkeit traditioneller Observanz auf „konkrete“ Weise hinaus. Im vorliegenden Gedicht ist sie als Umkehrung der Zeilen praktiziert und ließe sich auch durch rückläufige Lektüre realisieren. Auch das gehört zum Sinnpotential dieser ,audio-visuellen‘ Konstellation. Aber was für ein Potential ist das?
Es begrenzt sich durch den Charakter der Konstellation als konkretes Sprachspiel. Rechnet der Autor mit Lesern, die spielend ergänzen, was der Spielgeber offengelassen hat, so verweist die Struktur des Textes den Leser immerfort auf sich selbst. Der Autor hat als Spielgeber nur eine begrenzte Verantwortung. Der Sinn ist immer Zutat, für die der Leser (und Interpret), nicht der Autor das Risiko trägt. Die Konstellation „nennt die ,allzumenschlichen‘, sozialen und erotischen probleme nicht“. Gomringer verweist sie ins Leben zurück, oder in die „fachliteratur“. Das ist eine rigorose Einschränkung, welche die konkrete Poesie auf das sprachliche und formale Interesse des Lesers, auf seinen Sinn für die Schönheit von Strukturen gerichtet sehen müßte – aber ist es auch die durch Lektüre erprobte Wahrheit? Gomringer öffnet seine Einschränkung mit dem Satz:

die konstellation ist eine aufforderung. (worte sind schatten, S. 282)

Die Konstellation vielleicht ist es in besonderem Maße, Bescheidener als Mallarmés Würfelwurf versucht sie mit einem tastenden „vielleicht“ eine Utopie der Worte. Aber wo die Worte ertastet und gesetzt werden, sind die Dinge – einfachste, uranfänglichste – mitgesetzt. 

1

Harald Hartung, aus Walter Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Band 6 Gegenwart, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1982

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