Harald Hartung: Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Tränenkrüglein“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Tränenkrüglein“ aus Rainer Maria Rilke: Die Gedichte. –

 

 

 

 

RAINER MARIA RILKE

Tränenkrüglein

Andere fassen den Wein, andere fassen die Öle
in dem gehöhlten Gewölb, das ihre Wandung umschrieb.
Ich, als ein kleineres Maß und als schlankestes, höhle
mich einem andern Bedarf, stürzenden Tränen zulieb.

Wein wird reicher, und Öl klärt sich noch weiter im Kruge.
Was mit den Tränen geschieht? – Sie machten mich schwer,
machten mich blinder und machten mich schillern am Buge,
machten mich brüchig zuletzt und machten mich leer.

 

Die schöne Erschöpfung

„Ich weiß, es kann eine ,Reaktion‘ geben“, schreibt Rilke nach der Vollendung der Elegien und Sonette an Lou. Jene Reaktion stellt sich ein, zunächst als diffuses Unwohlsein, in der Form unbestimmter körperlicher Störungen. In diversen Behandlungen sucht der Dichter Heilung und Aufschluß über seine Krankheit. So verbringt er ab Ende August 1923 vier Wochen im Sanatorium Schöneck am Vierwaldstättersee. Eine verfehlte Kur; aber er gewinnt ihr etwas an Produktion ab. Einer Dame, die er kennenlernt, Elisabeth Salomon, der späteren Frau Friedrich Gundolfs, widmet er „Zwei Gedichte“.
Das erste, „Ex voto“, ist so etwas wie sublime Parodie auf den Brauch der Gläubigen, unter dem Heiligenbild einen Dankspruch mit der Abbildung des geheilten Körperteils anzubringen. Da ihm selbst sein Krankheitsbild unklar ist, richtet er die Aufforderung an die Dame:

Nimm mich ganz an dein Bild: Vielleicht siehst du’s an mir.

Erotische Koketterie oder ein versteckter Hilferuf? Wie immer: „Ex voto“ bleibt dichterisch ein Spiel mit der Konvention. „Tränenkrüglein“ dagegen ist wahrhaft eine Weihegabe.
Man darf an die kleinen Gefäße aus Glas oder Ton denken, wie sie in der Antike als Grabbeigaben üblich waren. In ihnen heiligte der Mensch seine Trauer und begrenzte sie zugleich, indem er ihr ein Maß abgewann. Es war auch die Meinung der Totensagen, daß übermäßige Trauer die Ruhe der Toten störe. In Bechsteins Märchen vom Tränenkrüglein erscheint das gestorbene Kind der Mutter, die drei Tage und drei Nächte geweint hatte. In den Händen trägt es ein übervolles Krüglein und bittet die Mutter, nicht mehr zu weinen. Sonst werde das Krüglein überfließen, und es werde „keine Ruhe haben im Grabe und keine Seligkeit im Himmel“.
Wie immer, wenn Rilke ein Thema oder Motiv aufgreift, gibt er ihm eine neue Wendung. Zwar benutzt das Gedicht den Reim, doch seine daktylischen Langzeilen haben antikischen Ton und erinnern an Epigramme, wie sie in der Antike als Aufschriften auf Weihgeschenken, Standbildern, Grabmälern erscheinen. Rilkes Tränenkrüglein freilich gibt sich selbst die Aufschrift. Es spricht auch nicht von den Toten oder den Trauernden, sondern buchstäblich in eigener Sache.
Es will anders sein als die nützlichen Gefäße für Wein und Öl und setzt sich nicht ohne Stolz gegen die „anderen“ und ihr Menschenwerk ab. Es begreift sich als selbsterschaffen, als Ding, das sich selbst zu seiner Aufgabe geformt hat:

stürzenden Tränen zulieb.

Die zweite Strophe spricht vom Preis dieses Tränendienstes. Er ist hoch, besser: er war es. Mitten im Vers geschieht der Umschlag:

Was mit den Tränen geschieht? – Sie machten mich schwer.

Gefragt wird in der Gegenwart, doch die Antwort kommt schon aus dem Vergangenen. Tränen sind nicht zu konservieren; sie verdunsteten zu schillernden Salzen, zersetzten das Gefäß und ließen es leer zurück.
Also liebte Rilke die Tränen nicht? Liebte er die Klage nicht? Doch – nur hatte er sie bislang nicht isoliert. „Nur im Raum der Rühmung darf die Klage / gehn, die Nymphe des geweinten Quells“, verkündet eines der Orpheus-Sonette. Nun aber, kaum daß die große Sinnstiftung geleistet ist, beginnt die Erosion des schönen Zusammenhangs. Der Chemie der Tränen ist das gebildete Gefäß nicht gewachsen. Die Klage „erschöpft“ es, läßt es leer zurück. Sagt also das „Tränenkrüglein“, was der Dichter selbst nicht zu sagen wagte?
Das Gedicht verweigert die Antwort. Es delegiert die Klage. Das Tränengefäß, lädiert und leer, spricht – trotzdem, immer noch – zu uns herüber. Aber natürlich spricht nicht ein bestimmtes antikes Fundstück, sondern das Ding aus Worten, das seine Klage in makellosen Versen aussagt. Der Dichter, selbst wenn er seine Erschöpfung besingt, schenkt immer noch aus der Fülle.

Harald Hartungaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechzehnter Band, Insel Verlag, 1993

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