Heike Bartel: Zu Anne Dudens Gedicht „Herzgänge“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Anne Dudens Gedicht „Herzgänge“ aus dem Band von Heike Bartel und Elizabeth Boa (Hrsg.): Anne Duden: A Revolution of Words. –

 

 

 

 

ANNE DUDEN

Herzgänge

In Northumberland schon
war es das Ende.
Alles lag außer sich
in der Vergangenheit
zuckend aufschluchzend und winselnd.
Nur Stücke englischer Landschaft
und das auch nur tagsüber
waren erhaben
und die ausgetretenen Stufen der Nachttreppe
in Hexham Priory
sowie die azurne Turmuhr
diese leicht gewölbte aus der ausgezählten Ewigkeit
herausgetrennte Scheibe
scharf geschnittene Linse des Himmels
die auf allen Fotos an der Stunde
festhielt
die die Verlassende
verließ.

IHRE    letzten Tage
verbrachte ich in Northumberland
und es sollte mir bloß kein Ende
dazwischenkommen
und überhaupt keiner die Worte stören
an denen die Welt hängt
wie am seidenen Faden.

– AN DIE GÖTTER AN DIE SCHATTEN –
an alles hier Gewesene
das gehügelte Meer aus Moor und Heide
an das lichternde Grün und Rostrot
den Purpur und Zimtstaub ganzer Farnhänge
an das lange verblühte Wut- und Vernunftkraut
das Kuckucksheil
das auf nackten Äckern wächst
selbst an das Grabmal des Römers
der hier
zum Zeichen seines Ablebens
über einen Barbaren am Boden noch hinwegreitet.

IN THE BEGINNING THE WORD ALREADY WAS
wie nebenbei gesagt und doch vor allem.
Aber Wahrheit und Wirklichkeit
lassen sich nur halbherzig erzählen
und halbfertig in Worte fassen
damit es weitergehen kann

Seit fünfzig Jahren war sie gestorben
stehend liegend sitzend sich krümmend.
ich hatte teil an ihr und
starb stück- und streckenweise mit
aus der Nähe aus der Ferne
und manchmal ganz unbesehen
und es gab nicht die geringste gute Aussicht
obwohl Nachbarn Freunde Verwandte
und einer der Söhne
ständig das Gegenteil behaupteten.
Immer gehetzt und abgewrackt
auf dem vorletzten Atemzug
ging es noch gerade irgendwohin
bisweilen sogar
wider besseres Wissen freudig erregt
ins englische Jenseits
mit Erbrechen Durchfall und schwacher Blase.
Bei einem bestimmten Lichteinfall klebt am Bett noch
nach Jahren
das unausgesetzt Klägliche
und der Nachhall der wüstesten und wütendsten Nacht.
Und weder das Bett noch das Urteil
das ich über mich spreche
bei so viel Unauflösbarem
lassen sich löschen. Und die Gefühle
lassen sich nur ablegen wie eine brandige Gespinsthaut
ein in die Körperaußenwand schwelend sich einfressendes und
nach innen durchschlagendes Nessushemd
als verbrühte sich dort selbst noch die Hitze
am Fiebersekret.

Ich selbst stand ja
lebenslänglich im Sterben
immer inmitten der Aushaucher Fallsüchtigen und Vergifteten
der in Stücke gehenden und
zugleich eingeschmolzenen Weltteile und
konnte nur noch eine einzige Verbindung herstellen
nach England nämlich wo gleich zu Beginn
hoch über der Themse in Richmond
die Fleischlampions der Eiben
so glühen
sogar dann noch wenn
sie aus dem Dunkel auf die Trottoirs gefallen sind und
die Kehlchen ihre Stimmen ausschicken
in die Nacht hinein oder
so früh schon daß noch keiner es hören kann
was sowieso keiner hört.
Ich brauche den ganzen Tag
um mich zum Leben hin
anzuziehen
und nachts ist kaum Schlaf
denn ich weiß noch nicht ob mir einer die Hals- und Fußkette
öffnen könnte.

Nie lassen sich die Gefühle verschieben
noch die Beunruhigungen die Rettungsversuche
die letzte Kraftanstrengung. Bis die Worte
wieder in Frage kommen und
die Sterbenden sich umbetten
und aus dem Gesichtsfeld gelegt haben.
WORD OF ALL WORLDS.

Oft ist es zu grell hier für die wegfallende Zeit
während sie
steintot eingesunken unter dünner Decke
reliefartig
wie unter der nachgebildeten Haut eines anderen
nur noch abwarten kann
immer noch einmal die nächste Zeit mit dem großen Hunger
eines ganz klein und leicht gewordenen
Leibes
des nackten Körpers eines nicht mehr flügge werdenden Vögelchens
heißhungrig auf Schneenarzissen
die sich mittlerweile durch gedämpften Zuruf
unterirdisch vermehren.

Man lehnt sich ins Auge zurück um diese Zeit
die nicht mehr zu retten ist
kalt auffangen zu können und
man überläßt sich unstet
den Blicken
um vielleicht die einst
abgetrennten Ekstasen wieder
heranzuziehen und sich nun in die
Wiege der Erscheinungen zu legen.

Perlwehen gingen durch die Wiese
am Grobsloch
und heute über den Bahndamm in Willesden
drei vier Wochen lang.
Und unter dem Laub eines nicht einmal sehr
großen Baumes
in Maresfield Gardens
wattierte ein ganz leichter Wind im Vorübergehen
plötzlich die Ohren
und etwas weiter noch hielten
die Hortensien ihre Verfärbungen den Blicken
entgegen.
Nachts stürzte aus dem schon herbstlich frostigen Weltraum
mit der Deichsel voran
der Große Wagen auf eines der Glashäuser zu. Es war
sein Ziel und
er würde es treffen aber weich nachfedemd
nicht zerschlagen.

Während ich
einen großen Schreibtisch in der Form eines Schachtes
leerräumte
und dabei noch auf einen Brief
von ihr an mich
stieß wie auf einen Schatz
lag sie
weder lebend noch gestorben
am anderen Ende desselben Raumes in einem ausladenden
Bett auf dem Rücken.
Mit geschlossenen Augen.
Und ihr Mund ging plötzlich
lautlos auf
und blieb nun weit geöffnet so daß
die ganze Mundhöhle bis zum Zäpfchen
sichtbar wurde wie ein offenstehendes
Mansardenzimmer
auf der Höhe von Birkenkronen.
Von der Sonne im Raum
und der Helle
war die Mundhöhle selbst hell und milde durchsonnt.
Ja die Wangen waren durchscheinend rötlich und
man sah deutlich
daß sie wie feines Tuch abwechselnd leicht
sich blähten und wieder erschlafften.
Die ganze Höhle bis hin zur
Schlundenge
und zum
Zungengrund
und auch die Lippen und Gaumensegel und -zäpfchen
flatterten und bebten leise.

Sie war also zum Atmen aufgebahrt
in der südlichsten der vierten Kammer.
Eine Schlafbegrabene im angestammten Luftzelt über der Rautengrube.
Und unter Hinter- und Nachhirn verschlug
sich nichts mehr.

Es begann die lange Traumzeit
in der sie
müde auferstanden
herumlag
in der sie verschwand und abgerissen verstört und abgekämpft
eine alte bag-lady
wieder auftauchte oder auch
um dreißig Jahre verjüngt
an der Haustür klingelte und vieles
erzählen und unternehmen wollte.
Immer blieb im Dunkeln wo sie
seit ihrem Sterben gewesen war.
Es war aber auch nicht wichtig.
Oft mußte ich mit ihr
die völlig geschwächt und hinfällig war und die
innerhalb weniger Tage
wieder sterben würde
bei Nacht über einen Fluß
eine Schlucht einen rasenden Gebirgsbach oder über schon
überlaufende Talsperren
über die nur schwankende und schlingernde
Hänge- und Notbrücken oder
schmale und geländerlose Betondämme führten.
Ein schwerer Koffer mußte
mitgenommen werden
auch ein kleines Mädchen das ich zuerst
hinübertrug
während aus dem steinigen Flußbett
Schreie heraufschallten.
Es waren ja Überführungen zwischen
unwirtlichen und unhaltbaren
Zonen.

Einmal
im Wasser eines stillen Sees oder Teichs
aber schwamm sie die am Ufer
verdämmemd bewegungslos gelegen hatte
robbenähnlich
mit glänzenden Augen
umher.
Manchmal mußte die ganze Umgebung
nach ihr weil sie in verlassenem Gelände
verloren gegangen war
abgesucht werden. Und
ich wußte einfach nicht ob man gehalten war sie bei
den Behörden
und sei es nur für die wenigen Tage
wieder für lebendig
erklären zu lassen
oder zumindest Bescheid zu sagen
daß sie doch nicht tot war.

Bis sie dann doch noch einmal im Nachthemd
nach England kommt
wo es
in Gloucestershire ein Hotel gibt
in dem die verschiedenen Jahres- und Tageszeiten
auf verschiedene Räume und Bereiche
verteilt sind
und wo die immer offene Lounge
in der Frühjahr ist und später Vormittag
auf einen alten englischen
Grabgarten geht
zwischen dessen vielen auch
schrägstehenden Gedenksteinen anhaltend
Sommer und Abend
wird. Dort
finde ich sie
das Stimmengewirr aus der Lounge im Ohr
hilflos
durchnäßt und
von Speiseresten befleckt auf
der Erde liegend und
sie sagt sie wolle
heim
obwohl sie ihr Lebtag
dieses Wort nicht in den Mund genommen hätte.

 

Bypässe zu Herzgänge, einem Prosagedicht von Anne Duden

,Bypässe‘ bezeichnen im Straßenverkehr Umgehungsstraßen und in der Herzmedizin chirurgische Überbrückungen. In beiden Fällen stellen sie Zugänge auf anderen als den herkömmlichen Wegen dar. Zugänge zu Anne Dudens Texten zu finden, bedeutet zumeist, sich in ein Gefüge komplexer Bezüge zu begeben, das vom Lesenden verlangt, sich nicht auf eine bestimmte Leserichtung festzulegen, sondern beweglich den vielfältigen Verweisen im Text nachzugehen.1 Der folgende Essay will Dudens Text „Herzgänge“ mit Hilfe solcher ,Bypässe‘ im Rahmen einer philologischen Analyse zugänglich machen und versuchen, einen Einblick in das Arbeiten dieser außergewöhnlichen Autorin zu geben. Dabei ist erwähnenswert, daß Bypässe als Umleitungen oder Abwege wahrgenommen werden können, aber auch als hilfreiche Brücken. Die folgenden Lesevorschläge und -ansätze folgen dabei der Denkstruktur, die sich bereits in der Pluralform der Titelmetapher von Dudens Prosagedicht „Herzgänge“ andeutet, welche eher ein dichtes Geäst von verzweigten Gängen evoziert als ein auf direktem Wege zu erreichendes Zentrum. Das Erforschen eines solcherart verzweigten und nicht zentral ausgerichteten Textbaus, welchen „Herzgänge“ mit anderen Texten der sogenannten Postmoderne teilt, lässt sich zusammenfassen als

both to delineate how borders are named and to „redraw the very maps of meaning […] and difference“. Precisely by deconstructing the canon, postmodernism fosters marginal discourses; it increases the number of ways of production of knowledge; and it problematizes the ways by which prioritizations take place.2

Die Komplexität solcher Dekonstruktionen und Konstruktionen, Grenzüberschreitungen und Grenzziehungen in Dudens Texten belässt den Lesenden dabei nicht in der Rolle des bloß passiven Konsumenten des Geschriebenen, sondern verlangt von ihm/ihr, aktiv Kontexte und Beziehungen in den Text einzuschreiben und ihn somit zugleich mit- und neuzuschreiben. Dieser Prozess steht in enger Beziehung zu einer Intensivierung der Wahrnehmung durch das Schreiben, die Duden mit dem Wort „Kryptästhesie“ als „hochgradig verfeinerte Wahrnehmung“ beschreibt, „die nichts auslassen will und kann“3 und die zum poetischen Prozess der „Vielschichtarbeit“4 führt. Mit dieser Verfahrensweise steht Duden einerseits im Kontext der Spät- oder Postmoderne, verweist andererseits aber auch auf Konzepte der Symphilosophie und progressiven Universalpoesie der Frühromantik.5 Die Komplexität der Bezüge und Verweise in Dudens Texten, besonders in ihrem lyrischen Werk, hat ihr dabei den Ruf der Unzugänglichkeit und des hermetischen Schreibens eingetragen. Dieser Ruf mag aufgrund der großen intellektuellen und ästhetischen Dichte dieser Texte verständlich scheinen, die kein ,einfaches Lesen‘ – was auch immer dies sein mag – erlauben; er darf jedoch keinesfalls zu dem Schluß führen, daß diese Texte unerschließbar oder unlesbar sind.
„Herzgänge“ wurde zuerst im Jahr 2000 im Unimagazin der Universität Zürich und dann 2003 im Sammelband Anne Duden: A Revolution of Words veröffentlicht.6 Die jeweils andere Form dieses Textes in den beiden unterschiedlichen Kontexten – Kurzprosastil in der Erstveröffentlichung, deren Genre in den Bereich des Feuilleton spielt, Prosagedicht in freien Rhythmen in der Sammlung literaturwissenschaftlicher Essays – verweist bereits auf Dudens Beweglichkeit im Umgang mit Gattungen und ihre Tendenz zur Grenzüberschreitung zwischen verschiedensten Schreibtraditionen, die ihr Werk prägen. Dudens Streben nach „Erkundungen einer Schreibexistenz“, so der Titel des ersten Textes in ihrem Band Zungengewahrsam. Kleine Schriften zur Poetik und zur Kunst,7 läßt sich hier als Motto für ihre „quasi-experimentelle Dekonstruktion des Erzählens“ lesen, mit der sie, so Dirk Göttsche,

zu jenen Autorinnen [zählt], die die ästhetische Tradition der Moderne fortschreiben, indem sie herkömmliche Darstellungsverfahren […] dekonstruieren und kleine Formen der Literatur zur intensiven Erprobung neuer Ausdrucksmöglichkeiten nutzen.8

Das Unimagazin druckt „Herzgänge“ als ersten Beitrag in einer Ausgabe zum Thema „Schmerz und Leiden“ neben medizinischen, philosophischen, religionswissenschaftlichen und kulturellen Beiträgen zum Thema Schmerzwahrnehmung und -erfahrung und führt den Text mit den Worten ein:

Ein literarischer Gang durch eine Erinnerungslandschaft des Sterbens.9

Obwohl Dudens Text den thematischen Rahmen des Magazins mit Verweisen auf (Literatur-)Geschichte, Ästhetik und Philosophie sprengt, lassen sich doch Schmerz, Erinnerung und Sterben als zentrale Motive in ihm lesen, insbesondere die Erinnerung des Ich im Text an ,sie‘, die deutlich als Mutter lesbar wird, obwohl dieser Name im Text niemals fällt. Wir werden uns im folgenden auf die spätere Fassung des Textes als Prosagedicht im Sammelband Anne Duden: A Revolution of Words beziehen, die geringfügig von der Magazinfassung abweicht. Der Text ist in dieser späteren Fassung 259 Zeilen lang, die zwischen zwölf und einem Wort enthalten. Er ist in 15 Abschnitte unterteilt.10

In Northumberland schon
war es das Ende.
Alles lag außer sich
in der Vergangenheit
zuckend aufschluchzend und winselnd.
Nur Stücke englischer Landschaft
und das auch nur tagsüber
waren erhaben
[…].
IHRE letzten Tage
verbrachte ich in Northumberland
und es sollte mir bloß kein Ende
dazwischenkommen
und überhaupt keiner die Worte stören
an denen die Welt hängt
wie am seidenen Faden.
(i, 1–25)

Über die „englische Landschaft“, die in vielen von Dudens Texten eine Rolle spielt, schreibt Elizabeth Boa mit Bezug auf Dudens 1999 erschienenen Gedichtband Hingegend:

London and insular Britain appear as places of mourning for the author’s dead mother and of remembrance of that other place of childhood.11

In „Herzgänge“ ist die Erinnerung an die Mutter auf ähnliche Weise mit Großbritannien verbunden und bildet ein zentrales Motiv in diesem Text, dessen Vielschichtigkeit sich jedoch auch auf andere Bereiche erstreckt: die Thematisierung des (weiblichen) Körpers als leidendem; die Kombination von religiösen Motiven mit politischen und von hochpoetischer Sprache mit medizinischen Fachausdrücken; die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit sowie mit anderen politischen und geschichtlichen Themen; das Schreiben über sehr persönliche Erinnerungen sowie das Artikulieren eines kollektiven Gedächtnisses; die Entdeckung der anderen Wirklichkeit einer „Traumzeit“ und die genaue Darstellung von Pflanzen, Landschaften und Architektur; die Auseinandersetzung mit (englischem) Ausland und Exil sowie (deutscher) Heimat. Der folgende Essay wird ausgehend vom Text, Zugänge zu einigen dieser Themenbereiche aufzeigen.

1. „Herzgänge“
Ausgangspunkt unserer Analyse soll ein zentrales Thema sein, das sich wie die Erinnerung an die Mutter durch das zerfurchte und abgründige Terrain dieses Textes zieht: die Auseinandersetzung mit Sprache und die Frage nach der Beziehung des Lesenden und Schreibenden zu Wort und Schrift. Dieses Thema wird bereits in den letzten drei der oben zitierten Zeilen deutlich und verfestigt sich mit jeder weiteren Nennung aus dem semantischen Feld von „Wort“ als „WORD“, „erzählen“, „in Worte fassen“, „Wieder-in-Frage-Kommen der Worte“, „ein Wort in den Mund nehmen“. Die Zentralität dieses Themas wird dabei jedoch nicht nur bei Begriffen aus dem Wortfeld von „Wort“ und „Sprache“ deutlich, sondern auch in den innovativen Metaphern Dudens, von denen vielleicht die prominenteste den Ein-Wort-Titel des Textes ausmacht: „Herzgänge“. Der Titel weist bereits auf ein wesentliches Verfahren von Dudens Textproduktion hin. Mit innovativen Metaphern, die Wort und Sinn neu kombinieren, löst Duden Sprache aus ihrem tradierten Gebrauch und findet zu einem neuen poetischen Sprechen. Dieses Verfahren läßt sich insbesondere beim Wortfeld „Herz“, einem der geläufigsten Motive im Bereich des Lyrischen, beobachten. Konventionelle Metaphern, die das Herz als Sitz der Gefühle orten, werden hier kontrapunktiert durch Sprache aus dem Medizinischen. Nicht die poetischere Wendung „Gänge des Herzens“, sondern „Herzgänge“ lautet die Titelmetapher, die – obwohl das Wort nicht als medizinischer terminus technicus existiert, sondern eine Wortneuschöpfung der Autorin ist – eher an Herzchirurgie als an Gefühlswelten erinnert. Ähnlich verfährt Duden in ihrem 1999 erschienenen Band Hingegend, dessen erster Text die Komponenten des medizinischen Terminus „Herzkammer“ umdreht zu „Kammerherz“ und als Titel verwendet.12 Die so entstehenden Wendungen fordern vom Lesenden eine Um- und Neuorientierung im semantischen Bereich, die den Sinn für sprachliche Veränderungen schärft und tradierte Sprachformen durch Veränderung parodiert und ad absurdum führt. Mit dieser Vorgehensweise erinnert Duden an Paul Celans Wortschöpfungen wie „Herzzähne“, „Herzbahnen“, „Lendenweg“ oder „Lungengeäst“.13 Wie bei Celan, so lässt sich auch bei Duden anhand dieser Wortneuschöpfungen ein kritischer Umgang mit Sprache festmachen, der sich nicht auf die tradierten und historisch belasteten Formeln verlassen kann, sondern Sprache aufbricht, in ihre Bestandteile zerlegt und neu zusammensetzt. Dabei kommt es jedoch keinesfalls zu einem neuen harmonischen Ganzen, sondern zu sprachlichen Fügungen, die sich in keinen bestehenden Kontext einfügen lassen und Brüche und Risse aufweisen. Die Kombination des Poetischen mit Fachvokabular, wie hier aus dem Medizinischen, gehört ebenso zu diesem Verfahren wie der kritische Umgang mit Phrasen oder Werbeslogans. Daneben ist bei beiden Autoren das „Phänomen der etymologischen Spracherneuerung“14 zu beobachten, ein Verfahren der Erneuerung von Sprache, bei dem gerade die Rückführung auf sprachgeschichtliche Hintergründe und einen ursprünglichen, verlorengegangenen etymologischen Wortsinn neue Bedeutungsebenen einführt. Bei Duden ist es besonders der Bereich der Botanik mit Pflanzennamen, die ihre eigenen Geschichten erzählen. So zum Beispiel die „Schneenarzissen“ (iv, 115), die sich auf den gleichen etymologischen Wortstamm, narkān, gr. „starr, gelähmt werden“, zurückführen lassen, auf den auch „Narkose“ zurückgeht. Im Kontext von „Herzgänge“ bezieht Duden sich nicht nur auf die herkömmliche Rolle der betäubend duftenden Frühlingsblume, sondern setzt sie in Anlehnung an ihren etymologischen Wortsinn auch in Beziehung zu (Toten-)Starre:

während sie
[…]
nur noch abwarten kann
[…] mit dem großen Hunger
eines ganz klein und leicht gewordenen
Leibes
des nackten Körpers eines nicht mehr flügge werdenden
Vögelchens
heißhungrig auf Schneenarzissen

[…].
(iii-iv, 104–115)

2. „IN THE BEGINNING THE WORD ALREADY WAS“
Neben den unkonventionellen Metaphern gehört das Arbeiten mit Zitaten wesentlich zu Dudens poetischer Verfahrensweise. Ein Zitat kann dabei den Aussagewunsch des Textes kontrastieren und so hervorheben, wie bei der sprach- und kulturkritischen Kontextualisierung des Werbeslogans „VORSPRUNG DURCH TECHNIK“ in Steinschlag. In „Herzgänge“ kontrastiert englische Alltagssprache die Erwartungen an „lyrisches Sprechen“ und bringt ein Stück sozialer Wirklichkeit in den Text ein mit dem Ausdruck „bag-lady“ (vi, 190), als welche die Mutter in der „Traumzeit“ (vi, 185) wieder auftaucht. Hier gibt das Oxymoron, das im Englischen soziale Gegensätze zusammenführt, Anlass zu kritischer Sprachreflexion, in dem Altern, (weibliche) Obdachlosigkeit und gesellschaftlicher Ausschluß nonchalant im englischen Ausdruck für die „Lady“, die ihr Zuhause in schäbigen Plastiktüten mit sich herumträgt, zusammengeführt wird. Andere, weitaus komplexere Ansätze finden wir in Verweisen auf literarische Texte. In „Herzgänge“ zählt dazu das durch Kapitälchen deutlich als Zitat ausgewiesene, aber nicht weiter kontextualisierte hymnische „– AN DIE GÖTTER AN DIE SCHATTEN –“ das an das Dichterzitat von Friedrich Hölderlin im Prosagedicht „Steinschlag“ erinnert:

ABER
DIE LIEBE LIEBT
15

Mit solchen intertextuellen Elementen erweitert der Text seinen eigenen monologisch anmutenden Kontext. Im Spannungsverhältnis von fremdem und eigenem Text, historischer Nähe und (literatur-)historischer Distanz entfaltet der Text neue Beziehungen und Korrespondenzen. In „Herzgänge“ erfolgt eine der schwierigsten dieser Erweiterungen durch das Zitat der ersten Zeile aus dem Johannesevangelium (Joh. 1: 1):

IN THE BEGINNING THE WORD ALREADY WAS
wie nebenbei gesagt und doch vor allem.
Aber Wahrheit und Wirklichkeit
lassen sich nur halbherzig erzählen
und halbfertig in Worte fassen
damit es weitergehen kann.

(ii, 38–43)

Die erste Zeile aus dem Johannesevangelium ist eine der Bibelstellen, die in der deutschen Literatur häufig zitiert wird, und ist auch in der Alltagssprache sehr geläufig, nicht zuletzt durch ihre große inhaltliche und syntaktische Nähe zum Anfang der Schöpfungsgeschichte im Alten Testament. Der Gefahr, eine allgemeine Phrase zu zitieren, beugt Duden jedoch vor, indem sie die Zeile in englischer Übersetzung in den Text einfügt. Als fremdsprachiges Element verstärken die Worte die Wirkung von gleichzeitiger Vertrautheit und Distanz. Dabei fällt auf, dass Duden nicht auf die am weitesten verbreitete englische Übersetzung zurückgreift, die auch in der St. James Bibel vorliegt, sondern diejenige (Good News Bible) zitiert, die das Adverb „already“ in die erste Zeile einfügt. Zu dieser Übersetzung läßt sich keine Parallele in deutschen Bibelfassungen finden. Das Zitat erweitert den Kontext auf zweierlei Weise: erstens durch seine Bedeutung und deren Kontrastierung im Zusammenhang der folgenden Textzeilen; zweitens – und das scheint in diesem Zusammenhang besonders ausschlaggebend – durch die Schwierigkeiten seiner Auslegung, die durch die angedeuteten Übersetzungsschwierigkeiten noch potenziert werden. Exegese als die Herausführung des Sinnes aus dem Wort ist bei dieser Stelle ein besonderes Problem, über das Religionswissenschaftler seit Jahrhunderten streiten. Die Bedeutung des ,Wortes‘ im theologischen Zusammenhang lässt sich als göttliches Werkzeug der Schöpfung, das nicht erst geschaffen werden muss, sondern vor allem da ist und in Jesus Christus Fleisch wird, fassen. Dabei beruht die Vielfalt der Auslegungsmöglichkeiten besonders auf der Mehrdeutigkeit von logos (gr. „Wort“), das sowohl verinnerlichter Gedanke als auch dessen in Sprache veräußerlichte Form bedeutet. Die enge Beziehung zwischen Wort und Gott sowie die komplexe Logik von etwas, das bereits vor dem Anfang existiert, tragen weiter zur schwierigen Interpretationslage dieser Stelle bei. Dabei ist es jedoch gerade diese Vielfalt der Deutung und die sich nicht erschöpfende Notwendigkeit der Exegese, die dieser Stelle eine besondere Bedeutung geben.
Dudens Texte lassen sich weder einer orthodoxen noch einer unorthodoxen Religion zuordnen, aber sie verwenden häufig solche Versatzstücke aus religiösen Zusammenhängen, die ihren Texten im Zusammenspiel von Nähe und Distanz eine besondere Dynamik verleihen. Passagen, die mit dem Doppelsinn von „englisch“ spielen, wie hier das „englische Jenseits“ (ii, 59), sind dabei nur kleine Verweise auf Dudens große Kunstfertigkeit beim Balanceakt zwischen Sakralem und Säkularem. Neben Textzitaten sind aber auch religiöse Bildzitate in ihrem Werk von großer Wichtigkeit, insbesondere Verweise auf die Leiden Christi und ihre Darstellung in der Kunst, besonders der Alten Meister, für die der Umschlag des Einbandes zu Steinschlag mit einem Ausschnitt aus dem Bildnis von „Christus als Schmerzensmann“ des Meisters des Bartholomäus-Altares eines von vielen Beispielen liefert.
In „Herzgänge“ wirkt das schier unausschöpfbare Bibelwort auch als Kontrast zur „Halbherzigkeit“ und „Halbfertigkeit“ der Worte, die Wahrheit und Wirklichkeit „erzählen“, „damit es weitergehen kann“. Der Hintergrund des Johannesevangeliums macht die Oberflächlichkeit eines solchen „Erzählens“ deutlich und stellt die Qualität des „Weitergehens“ in Frage, das auf einer Halbherzigkeit oder auf Uneinigkeit zwischen logos als innerer Verfassung und als sprachlicher Entäußerung basiert. Vor dem Hintergrund der Erfahrung von Verlust und Schmerz lässt sich diese „halbherzige“ Form des Erzählens, angesichts von „Wahrheit“ und „Wirklichkeit“, jedoch auch als vielleicht einzig mögliche lesen, um überhaupt sprechen zu können und nicht in vollkommener Sprachlosigkeit zu versinken. Die Spannbreite der Bedeutung von „Wort“ als Objekt der Skepsis und zugleich Möglichkeit größter Utopie wird deutlich, und der gesamte Text setzt sich durch die Weiterentwicklung dieses „Wortes“ mit diesem Thema auseinander. So arbeitet sich im weiteren Verlauf des Prosagedichts der Text vom Zitat des Johannesevangeliums bis zum nächsten als Zitat gekennzeichneten Einschub, „WORD OF ALL WORLDS“, zu einer Position vor, in der „die Worte / wieder in Frage kommen“.
Der Bezug auf Sprachlichkeit positioniert den Text im Kontext einer literarischen und kulturellen Tradition, auf die er mit Zitaten verweist. Sprachreflexion ist jedoch auch ein wesentliches Element der Selbstlokalisierung des Textes und seiner Entfaltung von Ausdrucksmöglichkeiten in innovativen Metaphern, Lautgestaltung, Syntax und Rhythmus sowie im kritischen Umgang mit festgefügten sprachlichen Formen der Alltagssprache. Zugleich erfolgt mit der Evokation eines exegetischen Lesens mit dem Bibelzitat ein Verweis auf die nicht endende Arbeit der Textauslegung als wesentlichem Teil der Poetik des Schreibens und Lesens bei Duden.

3. „lebenslänglich im Sterben“
„Herzgänge“ artikuliert zerfallende und leidende Körperlichkeit und beschreibt einen weiblichen Körper, der dieser Körperlichkeit ausgeliefert ist:

Seit fünfzig Jahren war sie gestorben
stehend liegend sitzend sich krümmend.

(ii, 44–45)

Dieser Körper scheint auf seine bloß körperlichen Funktionen und Schwächen reduziert zu sein, er ist nicht handelndes, entscheidendes Subjekt, sondern reduziert auf bloße Materie in Form von Körperflüssigkeiten und -funktionen:

Erbrechen Durchfall und schwache Blase (ii, 60).

Der leidende weibliche Körper ist bei Duden ein wiederkehrendes Motiv, das besonders in dem Prosatext „Übergang“ im gleichnamigen, 1982 erschienen Band zentralen Stellenwert hat. Hier ist es ein gewaltsamer Überfall auf die erst in der dritten, dann in der ersten Person beschriebene Protagonistin, bei dem ihr Unterkiefer zertrümmert wird und der sie zu körperlicher und sprachlicher Passivität zwingt und sie im wahrsten Sinne des Wortes „entmündigt“. Im Rahmen einer feministischen Literaturkritik lesen einige KritikerInnen diese Darstellung des weiblichen Leidens als Zuschreibung und Akzeptanz einer historisch tradierten Opferrolle der Frau; andere halten die ästhetischen Dimensionen von Gewalt- und Leidensdarstellung bei Duden für problematisch und vermissen bei aller Zerbrechlichkeit des Subjekts Wegweiser für eine neue weibliche Identität, während wieder andere auf ihre Fragen der historischen Basis für dieses weibliche Leiden keine Antwort in Dudens Texten finden.16 Der Titel „Übergang“ liefert jedoch Hinweise darauf, wie sich Dudens Texte entgegen dieser Ansätze oder ergänzend zu diesen Ansätzen lesen lassen. Übergang markiert kein sanftes Hinübergleiten von einem Kontext oder Zustand in den anderen, sondern einen radikalen Wechsel des Standpunktes, harte, unvermittelte Schnitte, die, wie richtungslose Übergänge, jäh zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Außenwelt und Innenwelt, Wirklichkeiten und (alp-)traumhaften Fetzen von Kindheits- und Jugenderinnerungen wechseln.17
Diese Übergänge lassen sich als konstituierend für das weibliche Ich in Anne Dudens Texten lesen, das sich gerade nicht auf die eine oder andere Seite einer Subjekt-Objekt-Dichotomie bannen lässt, sondern durch die ständige radikale Überschreitung dieser Demarkationslinie gekennzeichnet ist. In „Herzgänge“ wird dies besonders deutlich, wenn der weibliche Körper, bezeichnenderweise die „Mundhöhle“, sich zu einem Raum erweitert, was bereits in den Komposita der Metapher von „Mund“ und „Höhle“ angelegt ist.

Während ich
einen großen Schreibtisch in der Form eines Schachtes
leerräumte
[…]
lag sie
[…]
am anderen Ende desselben Raumes in einem ausladendem
Bett auf dem Rücken.
[…]
Und ihr Mund ging plötzlich
lautlos auf
und blieb nun weit geöffnet so daß
die ganze Mundhöhle bis zum Zäpfchen
sichtbar wurde wie ein offenstehendes
Mansardenzimmer
[…].
(v, 145–160)

Die Grenzen zwischen dem Innenraum des Körpers und der Außenwelt der Gegenstände werden aufgehoben, der Körper öffnet sich, dehnt sich aus und wird wie ein Zimmer, und im Gegenzug erhält der Raum Qualitäten des Körperlichen, wird „durchscheinend rötlich“ und zur „Mundhöhle“ [Hervorhebung: HB]. An anderer Stelle in ihrem Werk dienen Duden die abstrakten Bilder der britischen Malerin Clea Wallis dazu, eine solche Umordnung zu veranschaulichen. Der Essay „Vergittert im Gefilde oder Contenance angloise“ in Zungengewahrsam geht gezielt auf die Bilder von Clea Wallis ein, und der Einband des 1995 erschienenen Prosabands Wimpertier18 zeigt eines dieser Kunstwerke. Die Bilder von Wallis bieten keine Punkte, auf die das Auge sich konzentrieren kann, sondern ziehen die Betrachtenden in ein Vexierspiel von wechselndem Vorder- und Hintergrund und in einen Raum, dessen Koordinaten nicht vorgegeben sind, sondern die er/sie selbst abstecken muss. Auf ähnliche Weise verlangt auch die oben zitierte Textstelle vom Lesenden die intellektuelle Komposition eines neuen und ungewohnten Körper-Raumes. Mit dem Gegensatz von Innen und Außen wird hier auch die binäre Opposition von aktivem Subjekt und passivem Objekt aufgehoben. Teresa Ludden fasst die Rolle eines solchen Subjekts, das sich nicht in die von der Philosophie der Aufklärung festgelegte Dichotomie von Selbst und Materie bannen lässt, mit Verweis auf die Ansätze von Adorno, Irigaray und Deleuze zusammen als „system of a dissolved self“ (Deleuze ).19
Übergänge, die nicht den Regeln herkömmlicher Grenzsetzungen und Ordnungsmuster folgen, prägen auch andere Textstellen in „Herzgänge“. So wird nicht nur die lineare Abfolge, sondern überhaupt der Gegensatz von Sterben und Leben in diesem Text unterlaufen. Die Mutter taucht „weder lebend noch gestorben“ (v, 152) immer wieder auf in Szenen, bei denen auch die Grenze zwischen Wirklichkeit und Traum überschritten wird, in der „lange[n] Traumzeit / in der sie / müde auferstanden/ herumlag / in der sie verschwand und abgerissen verstört abgekämpft / […] / wieder auftauchte […]“, um „innerhalb weniger Tage“ wieder zu sterben (vi, 185–201). Ebensowenig lässt sich ein genauer Zeitraum festmachen, zu dem der leidende Körper sich zum Sterben bereitmacht; vielmehr deutet die Zeile „Seit fünfzig Jahren war sie gestorben“ (ii, 44) auf ein fast lebenslanges Sterben derjenigen hin, die „Immer gehetzt und abgewrackt“ (Hervorhebung: HB) und „auf dem vorletzten Atemzug“ war (ii, 54–55).
Die Grenzüberschreitung zwischen Leben und Sterben ist Teil der Erinnerung an die Mutter, die der anderen Logik einer „Traumzeit“ unterliegt, in der Grenzüberschreitungen von Traum und Wirklichkeit stattfinden und herkömmliche Gesetze von Raum und Zeit nicht gelten. In dieser „Traumzeit“ unterläuft „sie“ verschiedene Transformationen, taucht „abgerissen / verstört abgekämpft / eine alte bag-lady / wieder auf“ oder klingelt „dreißig Jahre verjüngt / an der Haustür“ oder nimmt tierartige Gestalt an und schwimmt „robbenähnlich / mit glänzenden Augen / umher“. Bekannten Traummotiven folgend, muss „sie“, die „in verlassenem Gelände/ verloren gegangen war“ gesucht werden, und es entsteht die kafkaesk anmutende Frage, ob sie nicht bei den „Behörden“ wieder „für lebendig“ oder „doch nicht tot“ erklärt werden müsse (cf vi-vii, 185–234).
In diesen Grenzüberschreitungen lassen sich Ansätze zu einer anderen als der vorherrschenden Auseinandersetzung mit dem Thema „Tod“ in unserer Gesellschaft festmachen. Diese Ansätze in Dudens Werk sieht Suzanne Greuner als ein Anschreiben gegen „das ungeschriebene, aber alles beherrschende Gesetz“, das in Dudens Prosatext „Das Judassschaf“ aus dem Jahre 1985 im Satz formuliert ist:

Der Tod muß so schnell wie möglich unsichtbar werden.20

Die Zeilen 74–76 aus dem dritten Teil zeigen, dass Sterben hier nicht das „Andere“ ist, das das Ich nicht betrifft, sondern etwas wesentlich Eigenes.

Ich selbst stand ja
lebenslänglich im Sterben
immer inmitten der Aushaucher Fallsüchtigen und Vergifteten

[…]
(iii, 74–76)

Während hier jedoch die Zugehörigkeit zu vielen anderen betont wird, spricht die folgende Stelle von einer deutlichen Identifikation des Ich mit „ihr“ im Spiel mit dem Wort „(An-)Teilnahme“:

ich hatte teil an ihr und
starb stück- und streckenweise mit
(ii, 46–47).

Sigrid Weigel liest mit Rückgriff auf die antike Mythologie ein solch wechselhaftes „in die Haut des anderen Schlüpfen“ als „Mimus“, „eine aus der Nachahmung der Klage geborene Ausdrucksweise“, auf die Dudens Texte in vielfältiger Weise Bezug nehmen.21 Diese (An-)Teilnahme geht in „Herzgänge“ auch mit einer Veränderung der Konstruktionen von Identität einher, die vom Grammatikalischen bis ins Philosophische reicht:

In Duden […] the coherence and stability of the grammatical first-person singular as the guarantor of identity are abandoned. Instead, ,Ich‘, ,sie‘, ,die Person‘, ,die Frau‘ form a complex of grammatical referents employed as a means of making describable what is the essential experience of the self: its existence as a site of sensory perception, as a receiver of shocks, and as a container of intense responsive emotion.22

Die Aufhebung der Grenze zwischen erster und dritter Person wird auch deutlich in der Sequenz in „Herzgänge“, die die Flucht über „einen Fluß / eine Schlucht einen rasenden Gebirgsbach oder über schon / überlaufende Talsperren“ beschreibt, auf der das Ich „sie“ durch „Überführungen zwischen / unwirtlichen und unhaltbaren / Zonen“ begleitet (vi, 202–216). Nur unschwer lassen sich in diesen „Zonen“ Verweise auf jene politischen Zonen erkennen, die die Autorin selbst während des Zweiten Weltkriegs und danach als Flüchtling mit der Mutter durchqueren musste.
1942 in Oldenburg geboren, verbringt Duden ihre ersten Lebensjahre in Berlin, von wo ihre Mutter 1944 vor den Bomben der Alliierten nach Ilsenburg im Harz flieht – mit zwei kleinen Kindern und zunächst ohne den 1941 kriegsverwundeten Vater. 1945 erfolgt die Trennung Deutschlands in Ost- und Westzone, und 1953 flüchtet die Mutter – wieder allein mit den Kindern – über Ost- nach West-Berlin. Auf das Leben in einem Flüchtlingslager in West-Berlin erfolgt die Rückkehr nach Oldenburg, das nach fast zehn im Harz verbrachten Kindheitsjahren fremd ist. Elizabeth Boa beschreibt den Einfluss dieser Biographie auf das Werk Dudens sehr treffend:

Such early memories along with the later painful knowledge of the history of the Third Reich would feed into Duden’s writing both thematically and in pervasive metaphors of physical and psychic border-crossings.23

Die politische Zerrissenheit dieser Landschaft durch ihre Spaltung in „Zonen“ ist gespiegelt in ihren „natürlichen“ Kluften und Schluchten. Dass Dudens Naturbilder keinesfalls auf die einfache Wiedergabe historischer Realität abzielen, sondern dieser einen vielfach gebrochenen Spiegel vorhalten, wird hier in der Verquickung von Natur- und Menschengewalt deutlich. Der „rasende […] Gebirgsbach“ lässt sich auf die künstliche Veränderung von Flußläufen durch Staudämme und Talsperren zurückführen. Die „überlaufende[n] Talsperren“ kündigen Katastrophen an, die nur vordergründig auf Natur zurückzuführen sind und die tiefe Skepsis der Autorin gegenüber den Eingriffen des ,aufgeklärten‘ Menschen in seine Umwelt zeigen. Im Bild dieser Flucht durch eine disparate Landschaft sind Historie, Natur und Technik eng miteinander verflochten.
Neben einem schweren Koffer muss auf dieser Flucht durch die zerklüftete Landschaft auch ein „kleines Mädchen“ mitgenommen werden, das das Ich über „schwankende und schlingernde / Hänge- und Notbrücken“ (iii, 205–206) trägt. In diesem Bild finden auf mehreren Ebenen „Überführungen zwischen Zonen“ statt, bei denen sich erzählende und erzählte Figur, Ich und ,sie‘, Mutter und Tochter sowie das Ich der Kindheit und des Erwachsenenalters überschneiden und verbinden. Ich-Position und Erzählperspektive sind hier nicht statisch, sondern wechseln mit einer Dynamik, die in ständigen Ortswechseln, schmerzhaften Entwurzelungen, lebensbedrohlichen Fluchten sowie physischen und psychischen Verrückungen ihren Motor hat.

4. „Maresfield Gardens“
In vielen von Dudens Texten lässt sich eine auf Topographie bezug nehmende Verfahrensweise beobachten, die – wie hier in „Herzgänge“ – Landschafts- und Ortsbilder aus verschiedenen Ländern mit Erinnerungen aus Deutschland und „Stücke[n] englischer Landschaft“ (i, 6) verwebt:

Perlwehen gingen durch die Wiese
am Grobsloch
und heute über den Bahndamm in Willesden
[…].
(iv, 126–128)

Trotz genauer Ortsbeschreibung und -benennung, trotz einer außerordentlichen Naturwahrnehmung und -kenntnis und trotz der genauen Wiedergabe der Architektur bestimmter Gebäude ist dieses Schreiben nie rein naturalistisch, sondern immer (sprach-)kritisch oder ironisch reflektierend. Es tendiert stellenweise, wie wir am Beispiel der sich zum Mansardenzimmer ausdehnenden „Mundhöhle“ gesehen haben, zum Hyper- oder Surrealistischen. „[H]och über der Themse in Richmond / [glühen] die Fleischlampions der Eiben“, und in Northumberland hält „die azurne Turmuhr“, „diese leicht gewölbte aus der ausgezählten Ewigkeit / herausgetrennte Scheibe / scharf geschnittene Linse des Himmels“ an der Stunde fest, „die die Verlassende / verließ“.
Wie der „Bahndamm in Willesden“ und „Rexham Priory“ in Northumberland verweist auch „Maresfield Gardens“ auf einen konkreten Ort in Großbritannien, der doch im Kontext von „Herzgänge“ viel mehr als rein topographische Verbindungen herstellt.

Und unter dem Laub eines nicht einmal sehr
großen Baumes
in Maresfield Gardens
wattierte ein ganz leichter Wind im Vorübergehen
plötzlich die Ohren
[…].
(iv, 131–135)

Maresfield Gardens ist eine Straße im Londoner Stadtteil Hampstead, aber auch eine Brücke zur deutschen Vergangenheit. Die Adresse steht in direkter Beziehung zur Geschichte der Vertreibung von Juden aus Deutschland und Österreich während der nationalsozialistischen Herrschaft. Das Haus mit der Nummer 20 in Maresfield Gardens war im Oktober 1938 der Fluchtpunkt für Sigmund Freud, der 82jährig gezwungen war, seine Heimatstadt Wien, die im selben Jahr „heim ins Reich“ geholt wurde, zu verlassen und sich nach drei Jahren des Bangens um die Entwicklung der politischen Situation in Österreich in London anzusiedeln, wo er ein Jahr später verstarb. In der Ortschiffre „Maresfield Gardens“ laufen verschiedene Fäden des Textes zusammen, an die sich wiederum andere anknüpfen lassen. Ein wichtiger davon ist der Verweis auf Nazideutschland, dessen Schrecken, Massengräber und Vernichtungsapparate, die Texte Dudens, die sich – in Anlehnung an Adornos Bezeichnung von Paul Celans Gedichten – auch als „Gedichte nach Auschwitz“ lesen lassen, erinnern. „Maresfield Gardens“ lenkt den Blick auf Freud und seine Flucht nach England als jüdischer Österreicher, die den Blick weiter öffnet auf die Verfolgung der Juden, die von Hitlers nationalsozialistischem Regime entweder in die Emigration gezwungen, deportiert oder ermordet wurden. Mit Nennung der Adresse, „Maresfield Gardens“, erlaubt der Text ein Oszillieren zwischen der Geschichte dieser vielen und der des einzelnen. Auch wenn Freud selbst dank der Unterstützung internationaler Freunde und aufgrund seines Status’ den Nazis relativ ungeschoren entkam, waren er und seine Familie dem Naziterror spürbar ausgesetzt. Die Bücherverbrennung in Berlin im Jahre 1933, bei der alle Werke der „jüdischen“ Psychoanalyse verbrannt wurden, und Dokumente über die von Freud zu entrichtende „Reichsfluchtsteuer“ oder seine „Unbedenklichkeitserklärung“ sind Zeugnisse dieser Geschichte.
Der Kontext von „Maresfield Gardens“ evoziert nicht das sonst übliche Bild des Vaters der Psychoanalyse, sondern Freud in London als 82jährigen, der noch im Greisenalter kurz vor seinem Tod, von Herzschwäche und Krebs schmerzhaft geplagt, zur displaced person wird und im Exil Sicherheit und Freiheit sucht. Ähnlich verfährt Duden in „Steinschlag“ mit dem Dichter Friedrich Hölderlin, der nicht als der berühmte deutsche Poet, sondern als greisenhafter verstummter Körper im Text Erwähnung findet. London und das englische Ausland sind Fluchtpunkte, die Freud als Freiheit begrüßte und mit denen der anglophile Wissenschaftler schon seit Jahren berufliche und familiäre Beziehungen pflegte. Aber es sind auch Orte des Exils, der Expatriiertheit und des Verlustes einer, wenn auch hochproblematischen, „Heimat“.
Daneben sollte auch das weite Feld der Verweise auf das Werk Freuds und die Beziehung von Psychoanalyse und Literatur mitberücksichtigt werden. Im Kontext von „Herzgänge“ mag Freuds Konzept der „Trauerarbeit“ besonders relevant erscheinen, insbesondere seine Bestimmung von Melancholie als Identifikation des Ichs mit dem geliebten verlorenen Menschen. Neben vielen anderen Elementen könnte auch Freuds letztes Werk, an dem er in Maresfield Gardens arbeitete, eine Rolle im dichten System der Textverweise spielen. Besonders die Beschreibung von Träumen, in denen die Hauptfigur von Moses und der Monotheismus unterschiedliche Gestalten annimmt und Brücken zwischen Traumwirklichkeit und historischer Wirklichkeit schlägt, scheint hier bedeutungsreich. Dieser Exkurs zeigt jedoch auch die Dynamik von Dudens Texten, deren Bezüge sich nicht nur durch explizite und gelenkte Verweise entwickeln, sondern sich durch die aktive Einbindung des Lesenden in den Prozess des Textverstehens entfalten.24 Im Geflecht der Bezüge mag auch die eigene Biographie der 1942 in Deutschland geborenen Autorin, für die London im Jahre 1978 neuer Wohnort wird, eine Rolle spielen.

5. „heim“
Nach der in der Vergangenheitsform geschriebenen „Traumzeit“ wechselt der letzte Absatz des Textes ins Präsens und führt uns in die englische Gegenwart:

Bis sie dann doch noch einmal im Nachthemd
nach England kommt
wo es
in Gloucestershire ein Hotel gibt
in dem die verschiedenen Jahres- und Tageszeiten
auf verschiedene Räume und Bereiche
verteilt sind

[…].
(vii, 235–241)

Diese Gegenwart trägt aber mit der nur in ein Nachthemd Gekleideten und dem Hotel in Gloucester, das wortwörtlich das „Vier Jahreszeiten“ ist, auch surreale und traumszenenhafte Züge. Im Gegensatz zu den ständigen Transformationen in der ‚Traumzeit‘ scheint der Text jedoch hier zu einem Endpunkt zu kommen:

[…]. Dort
finde ich sie
das Stimmengewirr aus der Lounge im Ohr
hilflos
durchnäßt und
von Speiseresten befleckt auf
der Erde liegend und
sie sagt sie wolle
heim
obwohl sie ihr Lebtag
dieses Wort nicht in den Mund genommen hätte.

(vii-viii, 249-259)

Das Wort „heim“, das die gesamte drittletzte Zeile einnimmt, bestärkt den Eindruck eines solchen Endes noch. In diesem einen Wort laufen viele der bisher angesprochenen Fäden des Textes zusammen, was ihm eine innere Dynamik verleiht. Im Wort „heim“ – und viel deutlicher noch in „Heimat“ – wirken autobiographische, geographische, geschichtliche, politische, kulturelle, nationale, ethnische, linguistische und viele andere Elemente auf- und gegeneinander, von denen wir einige bereits in der Analyse der vorhergehenden Textstellen hervorgehoben haben. Dazu gehört die nomadische Kindheit der Autorin, die von Krieg und Flucht geprägt ist, so dass von einem „Heim“, zum Beispiel am Geburtsort, nur schwerlich die Rede sein kann. Der kritische Blick auf Deutschland während des Dritten Reiches mit seiner Blut-und-Boden-Ideologie und Politik der Ausgrenzung und Vernichtung macht für die Autorin den Bezug auf Deutschland als „Heimatland“ zusätzlich unmöglich und setzt den deutschen Wortschatz in Hinblick auf solche und verwandte Termini der Sprachkritik aus. Die Nachkriegsgeschichte des geteilten Landes mit seinen Ein- und Ausreiseverboten erschwert die Identifikation des einen Ortes, der „heim“ bedeuten mag, zusätzlich. Und das Reisen, das seit Dudens Umzug nach London – und nicht nur zwischen Berlin und London – ihr Leben und Arbeiten bestimmt, macht es darüber hinaus kompliziert, von dem einen als dem „Heimatort“ zu sprechen. Vor diesem Hintergrund wird das gesamte Konzept von „heim“ fragwürdig und die Haltung, dieses Wort nicht in den Mund nehmen zu wollen, verständlich. Der Sammelband aus dem Jahre 2001, in dem Duden ihren Essay „A mon seul desir“ veröffentlicht, mag hier einen Ansatz liefern, mit der Komplexität dieser Situation in seinem Ein-Wort-Titel umzugehen. Heimaten25 macht mit seiner Pluralform sowohl die Unmöglichkeit dieses Begriffs, der im Plural seinen Wert verliert, als auch die Unmöglichkeit seiner Verwendung im Singular angesichts einer Biographie wie der Dudens deutlich.
Alle Personen in „Herzgänge“, bis hin zur „bag-lady“, sind aus verschiedenen Gründen und unter gänzlich anderen Bedrohungssituationen Vertriebene, Flüchtende, Heimatlose oder Heimatsuchende: Freud im Londoner Exil; das flüchtende Kind; das zwischen England und Deutschland wechselnde Ich der englischen Gegenwart und besonders die Mutter, die es in einer gebrochenen Spiegelung aller anderer Figuren immer wieder ins „englische Jenseits“ zieht. Dort taucht sie rastlos in verschiedenen Transformationen auf und wieder ab, um schließlich im zugleich surrealen und elendig wirklichen Bild der verrückten und hilflosen Greisin in der Übergangsbleibe „Hotel“ zu enden. Alle diese Individuen verdeutlichen die Kehrseite von „heim“, die gerade nicht darin liegt, Asyl, Schutz und Ruhe zu bieten, sondern dies aus den verschiedensten Gründen zu verweigern. Elizabeth Boa und Rachel Palfreyman beschreiben dies in Bezug auf „Heimat“ als die eine Seite dessen, was sie „antithetical mode of thinking in terms of identity and difference, of belonging and exclusion“ nennen und für welches gilt:

Heimat must always be ultimately bounded and defined through invisible or hidden exclusion of the radically different and alien.26

Diese Exklusion ist dabei gerade der Grund für den dringenden Wunsch oder die Lebensnotwendigkeit, „heim“ zu finden. Angesichts der in „Herzgänge“ skizzierten Biographien der Heimatlosigkeit kann der Wunsch, „heim“ zu wollen, aber keineswegs als nostalgische Regression auf eine verlorene Heimat gelesen werden, sondern vielmehr als eine ex negativo hervorgebrachte Utopie.
Das dichte Geäst von Verweisen in „Herzgänge“ trägt wesentlich dazu bei, dass der Text sich nicht auf eine Position fixieren lässt. Vielmehr beschreibt er ein wechselhaftes, zerrissenes Terrain. Er führt inhaltlich die verschiedensten Themen ein und überschreitet formal die Grenzlinien zwischen den Gattungen. Dabei arbeitet er mit innovativen Metaphern, die die unterschiedlichsten linguistischen Bereiche zusammenbringen. Er sucht keine Zuflucht in einfachen Bildern und Konzepten und artikuliert die Rastlosigkeit einer schmerzhaften Erinnerung, die Tod und Tote nicht aus der Wirklichkeit und Erinnerung bannen will. Es ist kennzeichnend für Dudens Schreiben, dass sie sich auch bei diesem letzten Wort „heim“ nicht auf eine Position fixieren lässt, sondern virtuos mit den Mitteln der Sprache ihre „Vielschichtarbeit“ weiterführt. Die grammatikalische Form des coniunctivus irrealis potenziert und entschärft zugleich die Wirkkraft dieses schwierigen Wortes. Der Konjunktiv II nimmt es als nicht ausgesprochenes und doch geschriebenes gleichzeitig mit seiner Nennung wieder zurück, so dass das Wort zugleich steht und nicht steht als lebensnotwendige Utopie ausgesprochen in einer Traumwirklichkeit, wobei offen bleibt, von wem.

Heike Bartel, in Karen Leeder (Hrsg.): Schaltstelle. Neue deutsche Lyrik im Dialog, Editions Rodopi, 2007

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