Heinz Piontek: Helldunkel

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Heinz Piontek: Helldunkel

Piontek-Helldunkel

AUFGEGEBEN VOR LANGER ZEIT

Zuletzt flohen aus dem Gehöft die Spinnen.
Nun lassen sich hier
nurmehr die Jahre und Schaltjahre blicken:

trocken hustende Wanderpropheten,
die kurz auf den Prellsteinen rasten.

Unterm Brennesselbusch die vom Rost erblindeten
Pflugschare, die in den Boden versinken möchten.
Das dauert noch.

Vom Leiterwagen geworfene Leitern liegen
zerbrochen, verfaulend auf der Tenne,
wo man vormals sackweise schlesisches Korn wog.

Kaum hatte sich einst der Bauer mit seinem Gespann,
verworren fluchend über den Räumungsbefehl,
dem großen Treck angeschlossen,

holten sich die hölzernen Scheunentore,
um ihre Lagerfeuer zu versorgen,
umherschwärmende, winterlich vermummte
Soldateska.

Restlos ausgeräubertes, Ausgeschlachtetes
mit einsinkenden Dächern.

Bloß von der Bibel –
die damals irgendwer über den Hof schleuderte,
wo sie wirbelnd zwischen (längst schimmlig
zerfallenem) Knüppelholz landete –
sind die innersten Seiten noch brauchbar geblieben.

Staubschleiernder Ostwind blättert rascheln
im Buch Hiob.

 

 

 

Für diesen neuen Gedichtband Helldunkel

hat sich Heinz Piontek sechs Jahre Zeit gelassen. Seine Leser wissen, daß er sich mit dem jeweils Erreichten nur selten zufrieden gebt. Was ist nun das Neuartige an der hier vorgelegten Sammlung?
Helldunkel beginnt mit einer Reihe gereimter Gedichte. (Pionteks letzte Reimgedichte entstanden vor 25 Jahren.) Man spürt es gleich, diesem Dichter liegt nicht daran, mit Hilfe von Reimen nun etwa ironische oder satirische Effekte zu erzielen. Ihm dienen seine neuen Reimwörter zur Erweiterung seines Motivkreises: geschichtliche Epochen werden durch geschichtliche Schicksale nahegebracht.
Die Mitte des Bandes bilden fünf umfangreiche Erzählgedichte. Sie führen in jene Zeit zurück, wo das rein Geschichtliche noch mit Mythen und Legenden verwoben war. Große israelitische Propheten und Könige werden in diesen Gedichten wieder lebendig – auch das hat es bei Piontek noch nicht gegeben. Während er sich tief in das Verborgene, Geheimnisvolle der Gestalten einhört, arbeitet er ihre Konturen deutlich und entschieden heraus.
Im dritten Teil wendet sich der Lyriker hauptsächlich der Gegenwart zu, setzt sich mit ihr nachdenklich, kritisch auseinander und geht auch den Fußstapfen seines eigenen Lebens nach. Das umfangreichste Gedicht steht am Schluß: ein Zyklus, der ein großes existentielles Thema von Shakespeare aufnimmt. Nicht Hamlet beschwört noch einmal den Geist seines Vaters, sondern der Geist von Hamlet selbst wird heraufgerufen.
In seiner oft gerühmten, ebenso atmosphärisch leichten wie gedanklich klaren Sprache geht Heinz Piontek diesmal also vor allem auf vorgeprägte Bilder zurück – Bilder, in denen zumeist ein Helldunkel vorherrscht. Er erneuert sie von Grund auf und macht sie durch poetische Genauigkeit und zurückhaltende Schönheit für den heutigen Leser erlebbar.

Herder Verlag, Klappentext, 1987

 

Heinz Piontek: Helldunkel

Ein neuer Gedichtband von Heinz Piontek ist anzuzeigen, es ist, wenn wir die beiden Retrospektiven von 1975 und 1982 mitzählen, der zwölfte seit 1952, in welchem Jahr der damals 27jährige Primus der „dritten Generation“ der sogenannten naturlyrischen Schule mit seiner ersten Sammlung Die Furt debütierte. Das jüngste Opus erscheint unter dem suggestiven Titel Helldunkel, ein Wort, das einem neunteiligen den Band abschließenden Gedichtkreis namens „Sommertagstraum“ entnommen ist.
Dieser Zyklus hat zum Thema eine mit der Vollmacht des Dichters bewerkstelligte Geisterbeschwörung nach Shakespeareschem Muster und mit einem hochberühmten Shakespeareschen Helden als Revenant. Wenn seinerzeit, in einem imaginären „Einst“ – Erster Akt, fünfte Szene – der dreißigjährige Prinz von Dänemark auf der Terrasse von Helsingör dem Geist seines ermordeten Vaters Rede und Antwort zu stehen hatte, so ist es jetzt, in einem imaginären Heute, der 61jährige Zeitgenosse H. P., der den Geist des immer noch dreißigjährigen Hamlet heraufruft, um sich vertraulich mit ihm zu besprechen. Nur daß nicht Geisterstunde ist und Totenspuk, sondern hellichter Tag über „Tiefland“ mit Wassergräben und gemähten Wiesen, und ein Unsterblicher erscheint „mit bläulich weißen Luftschleiern um die Schulter“, und in neun geistblitzenden Selbstgesprächen mit einem Duzbruder von exzentrischer Genialität wird er vergegenwärtigt und gefeiert. Sein Denken, „herrlich bis zum Wahnwitz, vor Gedankenschnelle außer sich“, seine Schwermut, „ein selbstmordtiefer Schacht“, sein königliches Sich-Plagen inmitten einer „See von Fragen“ – ein leicht verfremdetes Zitat aus dem „Sein oder Nichtsein“ – Monolog im dritten Akt –, schließlich sein „eigentümlicher Witz“:

so abgründig und helldunkel
wie unsere Lebensweisheit und Lebenstorheit
in einem.

Helldunkel: hier finden wir es, als eine für den Augenblick unüberbietbare Universalformel für die conditio humana schlechthin.
Diese von Shakespeare inspirierte Geisterbeschwörung ist ein Höhepunkt innerhalb der neuen Sammlung, doch ist sie keineswegs der einzige. Wer den Band – mit seinen drei großen Themenkreisen „Herbstlich, winterlich“, „Mann Gottes“ und „Entziffern – Aneignen“ – als Ganzes ins Auge faßt, der wird sich fragen müssen, ob nicht „Geisterbeschwörung“ überhaupt das vorherrschende Prinzip sei, der Schlüsselbegriff, mit dem die hier vorgelegte lyrische Ernte der letzten sechs Jahre kritisch zu erfassen wäre. Unmittelbar einleuchtend gilt das jedenfalls für den mittleren Teil, wo eine Reihe von Figuren aus den historischen Büchern des Alten Testaments, berühmte Gottesmänner, Führer und Propheten des Volkes Israel wie Gideon, Samson, David, Elias und ein „apokryph“ genannter Prophet in längeren und kürzeren Zyklen aus ihrer Jahrtausende alten Gewesenheit heraufgerufen werden. Das geschieht in einem lyrischen Erzählstil, den der Autor, beginnend mit den noch an Lorca erinnernden „Romanzen“ seiner frühen Bände, in jahrzehntelanger Arbeit entwickelt hat. Mit diesen Gedichten bewegt er sich in der Nachbarschaft von solchen Autoren der „Klassischen Moderne“ wie Rilke, der Rilke der mittleren Zeit, dessen biblische Motive – Abisag und David, Elias und die Baalspriester – auch bei ihm wiederkehren, oder wie der „Neutestamentler“ T.S. Eliot („Reise der heiligen drei Könige“, Prophezeiung des Simeon im Tempel aus Lucas 2), dem er zum Beispiel mit seiner ganz unfeierlichen, aber auf eine spröde Weise bezaubernden Version über die Hirten auf dem Felde – „Einmal in heiliger Zeit“ (Teil 3) – nicht fern ist.
Piontek ist ein genuin religiöser Lyriker, er ist es, trotz seiner Herkunft aus der Lehmann-Schule, von Anfang an gewesen, und man ist versucht, diese seine Thematik mit seiner schlesischen Abstammung, mit dem Erbe der großen schlesischen Barockdichtung in Zusammenhang zu bringen. Schon sein zweiter Band Die Rauchfahne (1953) enthielt den Zyklus „Vergängliche Psalmen“, in dem ein Pathos der Ehrfurcht und Anbetung vor dem Allerhöchsten in geräumigen, rhythmisch vibrierenden Langzeilen seine Sprache findet. Der Band Wassermarken (1957) fährt mit dem Zyklus „Erstandene Stimmen“ auf diesem Wege fort, die Anklänge an Gryphius sind kaum zu verkennen, und die Schlußzeile „Wir sind in deines Sohnes Blut getaucht“ könnte theologischer gar nicht sein.
Dreißig Jahre später nun also diese aphoristisch verknappten Telegrammtexte und „Pointengedichte“ (die man als späte Nachfahren der klassisch-romantischen Ballade ansehen kann) über die Gründerväter des auserwählten Volkes, ihren Kampf gegen Baalspriester, Philister und Midianiter, ihre barbarische Härte im Ringen um den wahren Namen des Herrn, aber auch die verzweifelte Fassungslosigkeit – nach vollendetem Massaker – des Elias, der unter einem Wacholderbaum saß und „bat, daß seine Seele stürbe“. Es handelt sich hier um eine dichterische Form der Bibel-Exegese, mit sparsam verwendeten wörtlichen Zitaten aus der Quelle, wie sie heute auf diesem Niveau nirgendwo sonst zu finden ist.
Was im Hamlet-Zyklus ebenso wie in den „Mann Gottes“-Gedichten geleistet wird, man kann es mit der von Piontek selbst gewählten strohtrockenen Merkzettel-Notiz „Entziffern-Aneignen“ bezeichnen: Gewesenes, Überliefertes soll durch die Einbildungskraft des Autors begriffen, dechiffriert und durch Übertragung in die Sprache der Gegenwart angeeignet werden. Man kann es aber auch in mythologisch gehobener Ausdrucksweise zur Kenntnis geben, indem man daran erinnert, daß Mnemosyne, die Göttin des Gedenkens, Tochter des Uranus und der Gaia, Geliebte des Zeus in neun aufeinander folgenden Nächten, von den Griechen und uns, ihren Erben, seit eh und je als Mutter der Musen verehrt worden ist. Nun gehören aber unter den Auspizien der „Moderne“ – und unser Autor muß, so verrückt es klingt, als „noch modern“ angesehen werden, da keinerlei „postmoderne“ Symptome, wie immer man sie diagnostizieren und beurteilen mag, bei ihm auszumachen sind – gehören also das Zitat, die Paraphrase, auch die Parodie als vollgültige Kunstmittel zur Sache, siehe Benn, Brecht, T.S. Eliot u.a.; das Gleiche gilt für Musik und Malerei. Ein Musterbeispiel im ersten Teil von Helldunkel ist das ausdrücklich als Paraphrase gekennzeichnete Gedicht „Der Prediger Salomo. Das 12. Kapitel“, wo mit buchstäblichen Anklängen an den Lutherschen Wortlaut die saturnische Melancholie des Altseins zur Sprache kommt. Neben der Paraphrase haben wir die Nachdichtung, zum Beispiel das Gedicht „Pferde, Pferde“ (nach Jessenin) und das, was man in einem denkbar positiven Sinne die „artistische Parodie“ nennen kann. So im dritten Teil den viergliedrigen Zyklus „Schöne Naivität oder Eine Handvoll klassischer Seiten“, wo mit liebenswürdig verspielter Virtuosität eine Reihe von Stationen aus Goethes Wilhelm Meister entziffert und angeeignet wird, ein Gegenstück gewißermaßen zum „Sommertagstraum“.
Die Prediger Salomo-Paraphrase mit dem biblischen Originalseufzer über die Jahre, „da du wirst sagen: Sie gefallen mir nicht“ ist das eigentlich tonangebende Gedicht des ersten Teils, ein Schlüsselgedicht. „Herbstlich, winterlich“ ist die Stimmung, Alter, Sterben und was danach kommen wird, sind die Motive. Ein Text wie „Bauernwinter (um 1500)“ und „Lebenslänglich“, eine Art chronikalischer Miniatur in knappen Reimpaaren über den Herzog Tassilo III von Bayern (Ende des 8. Jahrhunderts), der von Karl dem Großen zu lebenslanger Klosterhaft verurteilt wurde, zwei lyrische Protokolle von grimmiger Sachlichkeit über Lebensmühsal und Erlösungssehnsucht des Menschen, sind kennzeichnend für den ganzen ersten Teil. Einerseits der „labor improbus“ spätmittelalterlicher Arbeitstiere („kommst du durch, der nie gewinnt?“), und dann die Unerträglichkeit einer lebenslangen Gefangenschaft, und am Schluß der ins grenzenlos Weite hinausführende Todesengel, der hier wie eine authentische Neuschöpfung wirkt und dem Leser die Tränen in die Augen treibt.
Solche Momente sind es, die den religiösen Kern dieser Autorschaft auf zwingende Weise bestätigen. Es ist die terra incognita jenseits des Grabes, die hier ein Dichter unserer Tage im Sinne hat, es ist die Zukunft, „auf der kein Gestern liegt“. So eine Stelle aus Pionteks Versband Wie sich Musik durchschlug (1978), einem seiner schönsten.
Höhepunkt des ersten Teils und einer der erschütterndsten Eindrücke des Bandes überhaupt ist eine Dreiergruppe von kurzen gereimten, liedartigen Aufzeichnungen, die mit „Erinnerungen an die Reiterlieder der Toten“ überschrieben ist. Es sind die toten Reiter vergangener Jahrhunderte, die hier gemeint sind, ihr soldatischer Elan, ihre verlorene Jugend und grausame Todesqual. Alte und älteste Sprachschichten werden freigelegt und „angeeignet“, der Ton von Landknechtsliedern aus dem 16. und der gesamteuropäische Gassenhauer „Marlborough s’en va-t-en guerre“ (der auch in Goethes Römischen Elegien vorkommt) aus dem 18. Jahrhundert. Italienische und französische Sprachspuren lassen darauf schließen, daß es sich nicht um Landsleute handelt. Und doch – der kleine Zyklus ist mit einer Widmung versehen und die lautet: „Zum 8. Mai 1985“. Was damit gesagt werden soll, wird noch deutlicher, wenn man sich auf ein vor dreißig Jahren geschriebenes Gedicht besinnt, das der Autor unter dem Titel „Untergang der Scharnhorst“ dem Andenken eines Freundes, des Fähnrichs zur See Gerhard Mach, zu Ehren veröffentlicht hat. Was mit diesem Hinweis auf den 8. Mai gemeint sein soll? Es liegt auf der Hand. Neben der berühmten Gedenkrede Richard von Weizsäckers würden diese Gedichte gewiß keine schlechte Figur machen.

Hans Egon Holthusen, Neue Deutsche Hefte 194, 2/1987

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Ilva Oehler: Furchtlos
Neue Zürcher Zeitung, 14.3.1987

Hans Egon Holthusen: Poetische Geisterbeschwörung
Rheinischer Merkur / Christ und Welt, 20.3.1987

Karl Alfred Wolken: Die Bezauberungen des Heinz Piontek
Die Welt, 16.4.1987

Rolf Wasung: Stoff für Generationen
Der Tagesspiegel, 24.5.1987

Albert von Schirnding: Noch einmal das Wagnis des Gedichts
Süddeutsche Zeitung, 8 7.1987

Werner Fuld: Vereinslyrik
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.5.1987

 

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Alexander von Bormann: Amsel und Vollmond
Die Zeit, 29.11.1985

Zum 65. Geburtstag des Autors:

Manfred Moschner: Das Gedicht ist ein Fernrohr
Rheinischer Merkur / Christ und Welt, 9.11.1990

Curt Hohoff: Wenn die Schönheit zur Partisanin wird
Die Welt, 10.11.1990

Peter Mohr: Zu Lebzeiten ein Klassiker
General-Anzeiger, Bonn, 15.11.1990

Wolfgang Schirmacher: Der Einzelgänger
Rheinische Post, 15.11.1990

Thomas Cornelius Becker: Die Schönheit der Stille
der literat, Heft 3, 1991

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Wolfgang Ignée: Siegen in der Niederlage
Stuttgarter Zeitung, 15.11.1995

Eckart Klessmann: Stunde der Überlebenden
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.11.1995

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Ludwig Steinherr: „Das All nur eine schmale Tür“
Stimmen der Zeit, Heft 11, 2000

Peter Mohr: Überzeugter Traditionalist: Heinz Piontek wird 75
General-Anzeiger, 15.11.2000

Dietz-Rüdiger Moser / Marianne Sammer (Hrsg.): Heinz Piontek zum 75. Geburtstag
Sonderausgabe Literatur in Bayern, 2000

Nachrufe auf Heinz Piontek:

Harald Hartung: Keine Bürgen für einen besseren Tag
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.10.2003
Auch in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Jahrbuch 2003, Wallstein Verlag, 2004

Kristina Maidt-Zinke: Die Kälte der Mitwelt
Süddeutsche Zeitung, 29.10.2003

Neu: Gedichte der Gegenwart
Stuttgarter Zeitung, 29.10.2003

Peter Härtling: Adieu, Piontek
Die Zeit, 30.10.2003

Peter Dittmar: Ich lernte, dass man vor seinem Gedächtnis nie sicher ist
Die Welt, 29.10.2003

Fakten und Vermutungen zum Autor + Archiv 1 & 2 +
Internet Archive + Kalliope + KLGDAS&D +
Georg-Büchner-Preis 1 & 2
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum +
Brigitte Friedrich Autorenfotos

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Schollenpiontek“.

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