Heinz Politzer: Zu Georg Kreislers Gedicht „Frühlingsmärchen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Georg Kreislers Gedicht „Frühlingsmärchen“ aus Georg Kreisler: Zwei alte Tanten tanzen Tango.

 

 

 

 

GEORG KREISLER

Frühlingsmärchen

Spielt ein Neger auf der Flöte Palestrina,
am Girardiplatz, im Winter, wenn es schneit,
ja, dann teilen sich die Wolken über China
und in Moskau spricht die jüngste Ballerina:
„Es ist Frühlingszeit!“

Dreht ein Mädchen namens Mia sich gen Mekka,
und der Wind zerreißt das Band auf ihrem Hut,
ja, dann wird man in Skutari plötzlich kecker
und in Sofia beginnt ein Streik der Bäcker.
Dann ist alles gut.

Flötenunterricht kann nicht viel kosten.
Und Palestrina sollte jedermann studieren.
Und die Mia dreh ich selber gegen Osten.
Nur muß man das genau synchronisieren.

Denn dann teilen sich die Wolken über China,
und am Balkan ruft man froh „Es ist soweit!“
Und in Moskau spricht die jüngste Ballerina:
„Es ist Frühlingszeit!“

 

Politisches Lied in lieblicher Tonart

Schauplatz: die Marietta-Bar in einer Seitengasse des Wiener Graben. Zeit: 1958. Handlung: Georg Kreisler singt Lieder und begleitet sich selbst dazu. Die Texte der Songs stammen von ihm, auch die Musik hat er komponiert. Unter den Stücken befinden sich solche Unvergeßlichkeiten wie „Das Mädchen mit den drei blauen Augen“ oder „Unheilbar gesund“.
Mir ist von allem Anfang das „Frühlingsmärchen‟ am liebsten gewesen. Zunächst glaubte ich, es sei die Melodie, dieses Gemisch aus Leierkasten und Schubert (der selber nicht immer frei von Leierkasten ist). Haarscharf an der Grenze zwischen Dur und Moll, weht durch sie der Wind der Jahreszeit: Erwartung, und zugleich deren Parodie. Leise zieht durch mein Gemüt… (Heines Parodie steckte in den konsequent unreinen Reimen.)
Die Worte habe ich erst viel später verstanden. Zu Beginn faszinierte mich ihr handfester Surrealismus, etwa aus der Schule Jacques Préverts: der Neger zum Beispiel, der auf der Flöte Palestrina spielt. Daß er dies „am Girardiplatz“ tut statt „auf ihm“, siedelt den schwarzen Flötenbläser ebenso in Wien an wie der Platz, der nach einem Volksschauspieler benannt ist. Girardi hat in der Erinnerung des älteren Wieners einen märchenhaften Klang, und ein Märchen ist das ganze Gedicht ja auch, so will es sein Titel.
Es hat aber auch etwas von einem Rätsel. Den Schlüssel zu diesem Rätsel hat das Mädchen Mia in Händen, das sich nicht nur aus Gründen der Alliteration gen Mekka dreht. Alle die surrealistisch willkürlichen Länder und Städte liegen mehr oder minder im Osten des winterlichen Girardiplatzes: Moskau und China, Skutari und Sofia. Daß man nun in Albanien freier atmet und in Bulgarien das Recht zu streiken in Anspruch nimmt, daß über China die Sonne durchs Gewölk bricht und in Rußland eine kleine Koryphäe ihrer Sehnsucht nicht etwa durch stumme Tanzgebärden, sondern in klaren Worten Ausdruck verleiht, all das klang, als ich das Lied zum erstenmal hörte, noch nicht nach einer politischen Utopie.
Inzwischen ist der „Prager Frühling“ gekommen und vergangen. Wenn ich das Rätsel des Gedichts recht aufzulösen vermag, dann gilt es, dem Tauwetter, und zwar in ebenjenem Sinn von „Sozialismus mit einem menschlichen Antlitz“, den Alexander Dubček ihm gegeben hat. Weder der Titel noch die Musik glauben an diese Lösung zur Gänze. Aber der Glauben macht Fortschritte. So unwahrscheinlich es ist, daß ein Neger am Girardiplatz flötet, so möglich ist es schon, daß Mia sich gen Mekka wendet. Das „ja“ der dritten Zeile klingt in der zweiten Strophe zuversichtlicher als in der ersten und wird in der dritten (die nur im Druckbild, nicht aber kompositorisch aus zwei Teilen besteht) durch ein schlüssiges „denn“ ersetzt.
Waren die beiden ersten Strophen an Bedingungen geknüpft, so konstatiert die letzte reine und einfache Tatsachen: Flötenunterricht kostet kein Vermögen, Palestrina gehört zur Allgemeinbildung, und der Autor macht sich anheischig, in einer Art von Privataktion seine Mia selbst umzudrehen. „Nur muß man das genau synchronisieren.“ Das „man“ bleibt unbestimmt. Ist vom Schicksal die Rede? Von der Politik? Von Geschichte gar? Von einem selber? Wir wissen es nicht, wir sind ja im Märchen, wenn auch in einem vorwärtsgewandten. Der „Prager Frühling“ war offenbar nicht „genau synchronisiert“ gewesen. Aber noch ist Hoffnung. Irgendwann wird schon in Moskau eine Ballerina aus der Rolle fallen, an die Rampe treten und mit klingenden Worten den Frühling ankündigen. Nicht umsonst ist sie die jüngste: sie gehört der Zukunft, die ihr gehört.
Und dann fällt auch am Girardiplatz kein Schnee mehr.

Heinz Politzeraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Erster Band, Insel Verlag, 1976

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