Helga M. Novak: ostdeutsch

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Helga M. Novak: ostdeutsch

Novak-Ostdeutsch

DER TRAUM DES EMIGRANTEN

der Emigrant
hat durchgelaufene Schuhe
die Zehen winken schon

der Emigrant
hat einen abgelaufenen Pass
die Polizisten winken schon

der Emigrant
schläft heute in einem alten Boot
die Säufer winken schon

der Emigrant
braucht Vitamine
die Zähne winken schon

der Emigrant
schreibt Gedichte und macht
Weltverbesserungspläne

das Vaterland winkt schon

 

 

 

Diese Poesie ist Ordnung und Anarchie

– Laudatio von Rita Jorek zum 10. Christian-Wagner-Preis. –

Hundert Jahre liegen zwischen den Lebensläufen von Helga M. Novak und Christian Wagner. Es lässt sich trotzdem Vergleichbares finden in Werk und Wesen der beiden. Als Dichter müssen wir sie begreifen, als Dichter betrachten sie sich selbst.
Gedichte schreiben können viele, vielmehr lassen die Kunst unbeachtet, schilpen wie die Spatzen daher, für die das Lied der wenigen Lerchen fremd bleibt. Dazu passt ein sarkastischer Kommentar Wilhelm Raabes, der vor hundert Jahren starb. „Was wirklich was taugt, kauft kein Mensch“. Und wenn Kurt Tucholsky zu Hermann Hesses Auswahl von Gedichten des von diesem verehrten Christian Wagner anmerkt: „Nur, die Deutschen lesen solche deutschen Gedichte nicht“, so wünschen und hoffen wir, dass es heute anders sei.

Eine dichterische Existenz wagen, sich dem Leben aussetzen, das ist ein existentieller Drahtseilakt. „Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens“ (Rilke), darf der Wissende, der Fühlende, der Mitfühlende nicht schweigen und hat die Worte zu wägen, zu finden, neu zu finden und zu vertiefen, in Urgründe zu tauchen. Diese Poesie ist Ordnung und Anarchie.
„Ja, für den Rest meiner Zeit gestatt ich mir eigens die Freiheit / Wahr, aufrichtig zu sein bis zur Schroffheit“, verkündete trotzig Christian Wagner, eine Maxime, die Helga M. Novaks Schaffen bestimmt wie kaum das eines anderen, es deshalb in seiner ganzen Ausdrucksstärke zu einem bedeutenden Zeitzeugnis gerinnen lässt. Sie ist für Wolf Biermann „die zärtlich-schroffeste Dichterin“. Die Begriffe Freiheit und Schroffheit tragen ihr Werk.
Nicht nur Widerspruch, auch Verzweiflung und Enttäuschung bedingen das Aufbegehren und die Wut über herzlose Bürokratie, die den Menschen hinter die Paragraphen setzt. „ich bin frei“, schleudert uns, im Tiefsten und Innersten verletzt, aber auch stolz Helga M. Novak entgegen:

bloß weg von Provinz Terrain und Tümpel
ich bin frei
mein Status nun verbrieft und besiegelt
als „erwerbslose Ausländerin“ verwirkt
mein Aufenthalt im heimatlichen Distrikt
ich bin frei

Um 2004/05 geschrieben, sind das die letzten Verse der zweibändigen Ausgabe ihrer Gesammelten Gedichte und die Quintessenz ihrer Bemühungen, die deutsche Staatsbürgerschaft wieder zu erlangen, die mit Ablehnungen endeten. 
Ein Treppenwitz der Weltgeschichte: eine deutsche Dichterin, als eine der bedeutendsten erkannt, muss als Ausländerin, als Heimatlose ihre Existenz irgendwie bewerkstelligen.

ich war frei
über Land zu fahren
durch Gegenden vieler Länder
ich war frei
jetzt haben sie mich von meinem
eigenen Land befreit

Dazu passt die bittere Erkenntnis Christian Wagners: „Kein Prophet ist angenehm in seinem Vaterlande.“
Die Situation ist fast ausweglos, wie so oft in diesem Leben. Da beruft sie sich auf das Meer, dem sie manchmal nahe war und deutet an, was ihr noch bleibt: 
„die hohe See kennt mich sie wartet“
Der Freitod, von Christian Wagner bereits Ende des 19. Jahrhunderts als Ausdruck des eigenen Willens und der Freiheit, des Lossagens von jeder Knebelung und jedem Joch besungen, verbindet sich für Helga M. Novak ebenfalls mit dem Begriff der Freiheit, nämlich bereits in der Erzählung „In einem irren Haus“.
„Nach einem kurzen Ausflug in den Himmel aus allen Wolken gefallen und hier gelandet“, heißt es da, gelandet in einer Anstalt, wo jegliches Nachdenken verboten und die Auseinandersetzung mit dem Thema tabuisiert wurde. Als eine der ersten nahm sie sich dieses Themas an und anderer, wie das Wirken der Staatssicherheit in der DDR und die Situation von Opfer und Täter. Und so fordert sie „das Recht… sich selbst den Hals umzudrehen“.

Dichter sind Visionäre. In dem frühen Band mit dem Titel Balladen von der reisenden Anna, 1965 bei Luchterhand erschienen, – das meiste davon bereits in dem vorher in Island im Selbstverlag als Ostdeutsch herausgegeben – dort verdichten sich bereits Leben, Selbsterfahrung , Beobachtung, Erzählungen und Schicksale anderer nicht nur mit Fragen und Protest, sondern auch mit Empathie für Betroffene und dem Vorausahnen des eigenen Schicksals, das beispielsweise im „Traum des Emigranten“ alle Trostlosigkeit der Welt evoziert:

Der Emigrant
schreibt Gedichte und macht
Weltverbesserungspläne

das Vaterland winkt schon.

„Das Vaterland winkt schon“ – eine zweideutige Aussage: Will es ihn und seine Weltverbesserungspläne wiederhaben? oder winkt es ab: Brauchen wir nicht! oder will es ihn vernichten?
Wir kannten ja die Emigranten und wussten aus ihren Büchern: Viele Schriftsteller waren darunter, die zur Zeit des „Dritten Reiches“ aus Deutschland flohen – nach Westen (England, USA) die einen, nach Osten (Sowjetunion) die anderen. Von der Rolle, die sie spielten, den Auseinandersetzungen erfuhren wir ebenfalls. Da gab es die Kontroverse zwischen Johannes R. Becher, aus Moskau zurückgekehrt, Kulturminister geworden und Bert Brecht, der aus den USA in die DDR kam. Es war 1956, Brecht starb bald danach, daran, und in Ungarn gingen die Menschen auf die Straße und wurden zusammengeschlagen.
„Das Exil ist eine Wüste, wenn es keine Alternative gibt“. Von Per Olov Enquist stammt diese Feststellung, einem Autor, der wie viele aus Island und Skandinavien, zu den Geistesverwandten Helga M. Novaks gehört.
Bertolt Brechts Lyrik und seine Theaterstücke, die wir im Berliner Ensemble oder wie die Oper „Die Verurteilung des Lucullus“ in Leipzig sahen, übten großen Einfluss auf die aufsteigende Dichtergeneration aus. Und getrost dürfen wir in Novaks alter Bohemienne eine Schwester von Brechts Mutter Courage sehen.
Nebenbei bemerkt, Brecht könnte auch als Zwischenglied zu Christian Wagner führen;
denn dessen Vierzeiler „Winternacht“ erscheint in Versmaß und -melodie, aber auch inhaltlich Brechts „Von der Freundlichkeit der Welt“ vorausgegangen: 
Christian Wagner:

Winternacht

Kalt und strahlend stehet Stern an Stern:
Fremde Augen, doch unsagbar fern;
Teilnahmslos und ohne Liebespflicht
Steht des Himmels Funkenangesicht.

Bertolt Brecht:

Von der Freundlichkeit der Welt

Auf die Erde voller kalten Wind
Kamt ihr alle als ein nacktes Kind.
Frierend lagt ihr ohne alle Hab
Als ein Weib euch eine Windel gab.

Und wenn Helga M. Novak „von sehr großer Not“ berichtet, geht es ebenfalls um menschliches Schicksal, um das Ausgeliefertsein, das bei Wagner ganz allgemein und universell bleibt, während Brecht den Menschen, Kind und Weib, betrachtet. Die Dichterin artikuliert spezielle Frauenqual:

der Spätsonne sag ich dem Aar
dem Ren dem eisigen Wind
zweimal verschenkte ich ein Kind
das ich aus meinem Schoß gebar

In dem frühen Trinklied von der alten Bohemienne, die das Land Atlantis umsonst sucht, spiegelt sich das eigene antizipierte Leben. Im Galgenhumor endet es mit der Apotheose:

und wenn sie einst gestorben ist
macht sie den Himmel hell
sie wird die erste Lady sein
im göttlichen Bordell.

Jahre um Jahre später lesen wir in Silvatica:

die Rumtreiberin hat ihre Laubhütte
verlassen zieht Leine und hängt Netze auf
mit Federn getarnte und extragrüne Lappen
rund um ihren Jagen flattert das Blendzeug
bis sie selber verblendet geblendet
einer Meute auf den Leim gegangen ist

Silvatica, diese Sammlung von Wald- und Jagdgedichten wird zur Metapher eines Außenseitertums eines melancholischen, desillusionierten Rückzuges aus der Gesellschaft in die Natur und zum verkappten Hymnus einer späten Liebe. Zauberhaft verwunschen und doch zeitnah stellt diese Dichtung westliche Zivilisation in Frage.
Heimatlosigkeit, Leben in der Fremde, im Exil durchziehen das ganze Werk.

ich schrei es in die Tagfrüh ich bin
in sehr großer Not und kein Weg
führt daraus trennt das Geheg
und heilt meinen verworrnen Sinn

zweimal verließ ich mein Land zu Fuß
Abzeichen von Belang vermochten nicht
mich zu beugen mein Gesicht
versagte Götzendienst und ehrvoll Gruß

seitdem beherbergt mich kein eigen Dach
die Sprache meiner Leute klingt fern
fremd Schulterzucken salzt das Brot

mein Kleid erregt Spott und Gelach
mich bedecken Nordlicht und Stern
ich bin in sehr großer Not

Nicht weniger erschüttert die „Bittschrift an Sarah“, in den 70er Jahren die Freundin Sarah Kirsch beschwörend, Nachricht über Bekannte und heimische Orte zu geben. Die elfte, die letzte Strophe endet:

Sarah geht los – schaut ob ich noch Freunde habe
sagt ihnen – ich lebe ich sterbe ich lebe
um Himmels Willen
schreibt mir einen Brief von zu Hause

Die Sehnsucht durch die Welt zu reisen, die in unseren DDR-Jugendjahren Utopie bedeutete, transportierte Helga Novak damals in die Begegnung mit einem ihr wichtigen Dichter, der an Deutschland litt, wie kaum einer. Wieder ist es kalt und alles hoffnungslos „an einem deutschen Wintertag“:

ich sagt ich hätt einen deutschen Pass
und könnte doch nicht reisen
da hatt er mich nur ausgelacht
sein Blick ließ mich vereisen

dann meinte er nebenbei zu mir
– sei nur ein Narr und weine
wie ichs vor hundert Jahren tat
ich heiße Heinrich Heine –

Als dieses lapidare Gedicht um 1956 wohl entstand, dessen tragische Aspekte sich aus dem liedhaften Singsang der Reime erst nach und nach ganz erschließen – wie ja viele der Werke von Helga M. Novak einen doppelten und dreifachen Boden besitzen – lag die Zukunft noch vor ihr. Sie studierte an der Fakultät für Journalistik der Leipziger Universität – Kaderschmiede der SED, Rotes Kloster genannt, und wollte – wie ich auch, wir lernten uns dort kennen – Kulturredakteurin / Kunstkritikerin werden.
Es sollte anders kommen. Die Staatssicherheit (Stasi) versuchte sie zu erpressen, weil sie mehr oder weniger vogelfrei zu sein schien. (Aus ihren autobiographischen Romanen Die Eisheiligen und Vogel Federlos ist bekannt, wie es einem Adoptivkind erging, das sich von den Stiefeltern lossagte, um studieren zu können.) Nach einem großen Autodafé, das sie bedrohlich an den Pranger stellte, flüchtete sie mit ihrem isländischen Freund auf seine nordische Insel – es war wie jetzt Ende November und dort sehr kalt und dunkel.
Mit der baldigen Heimkehr nach Berlin war sie zur Arbeit in einer Fabrik verdonnert. Das konnte auch nicht von Dauer sein. Die nächste Ausreise, wieder nach Island war 1961, Jahr des Mauerbaus. In kurzen knappen Erzählungen – zusammengestellt in dem Band mit dem Titel In einem irren Haus, findet sich die Quintessenz von Situationen, die zu meistern waren, von Begegnungen und Reisen. Sie war weit herumgekommen in Europa, von Nord nach Süd gefahren bis nach Palermo, von Island bis Barcelona getrampt, viele Stecken zu Fuß gegangen. So bewarb sie sich dann mit jenem Band Ballade von der reisenden Anna, der bei Luchterhand in Vorbereitung war, am Leipziger Literatur-Institut „Johannes R. Becher“ und wurde angenommen, trotz Gedichten wie „Faustregel“, das den Widerspruch zur Lebensmaxime erklärt, oder solchen. die den „Kehricht im Lande Sta“ aufdecken, in der großen Ballade über Annas Schicksal in sibirischer Verbannung oder durch die provokative Frage: „wem gehört eigentlich das Volkseigentum“.
Es war – wie wir sagten – mal wieder „Tauwetterzeit“ in der DDR. Wir trafen uns auf Leipzigs Straßen. Ich war Redakteurin bei der Leipziger Volkszeitung, freute mich über die Wiederbegegnung und bot ihr an, bei uns zu wohnen. Wir hatten drei kleine Kinder, der jüngste kein Jahr alt und vier kleine Räume, davon bekam sie einen. Aber auf Tauwetter folgten Regen, Schnee und Eis, ein berüchtigtes Parteiplenum rechnete mit Künstlern, Schriftstellern, Kulturschaffenden ab; Helga M. Novak, die Weitgereiste, Aufmüpfige mit ihrer Freundschaft zu Robert Havemann und Wolf Biermann, kam wieder in die Bredouille, was vielleicht ein zu leichtfertiges Wort ist für die Situation. Vom Staatssicherheitsdienst beobachtet und verfolgt, wurde sie genötigt, die DDR im Frühjahr 1966 zu verlassen und die isländische Staatsbürgerschaft anzunehmen. (Sie war unterdessen mit einem Isländer verheiratet). Aber ihre Heimat war nicht jene ferne, kalte Insel, ihre Heimat – und auf allen Wanderungen zog es sie dorthin zurück – blieben immer Berlin und seine Umgebung, diese Märkischen Wälder und Seen, wo sie als Kind zu Hause herumstöberte. Immer und immer hat sie davon ergreifend geschrieben, ob in den Eisheiligen, in Vogel federlos, in dem Gedichtszyklus „Grünheide, Grünheide“, in „Märkische Feemorgana“ – hier in archäologischen Tiefen grabend – und vor allem in Silvatica. Das von Ulrich Keicher so einfühlsam gestalteten Heft mit dem Prosastück „Lebendiger Fund“ bietet einen kleinen Einblick in die Schreibwerkstatt der Dichterin. Entstand es doch aus Notizen, aus Versuchen auf Zetteln verteilt, in eine Mappe verbannt, Fingerübungen gleichsam zu den Silvatica-Gedichten.
 Groß war die Sehnsucht nach dem Osten. Als Ausgebürgerte durfte Novak die DDR nicht mehr betreten, erhielt deshalb auch kein Transitvisum, um ihren Traum zu verwirklichen, einmal mit der Transsibirischen Eisenbahn zu fahren. Imagination und Phantasie beflügelten ihre Fingerreise über Landkarten, die das Versepos „Legende Transsip“ entstehen ließ, um mehr und Eindringliches über russische und sibirische Weiten mitzuteilen als manch tatsächlich Gereiste erfahren können.
Dichtung ist viel mehr als Autobiographie. Auch wenn rücksichtslos aufrichtig um äußerste Wahrhaftigkeit gerungen wird, das Leben, selbst das bittere, besitzt allemal eine poetische Seite. Schon als Kind beschrieb Helga Novak „die roten Ränder der Abendwolken, den Kiefernwald, meine Lieblingsplätze und die Stelle mit den unbekannten Pflanzen“. Die ersten Gedichte verbrannte die Stiefmutter – Kaltesophie in den Eisheiligen genannt. Die über Zeiten sich hinspannende Verwandtschaft zu Christian Wagner, den Dichter der Landschaft, der Blumen und Schmetterlinge zeigt sich in diesem Hinwenden zum Alltäglichen, zum Wald, zum Wacholder, zur Kaiserkrone oder zum weißen Alttier mit roten Augen und deshalb verstoßen, denn „ein jedes soll seine Farbe tragen / wer keine hat ist dem Tode geweiht“.

Den Dichter unterscheidet vom Literaten die Konzentration auf Geist und Form. In den gelungensten Stücken bildet Reife des Ausdrucks die Vollkommenheit des Gedankens. Aus einer Frage von Gustave Flaubert eine Behauptung aufstellend, konstatieren wir: Wer sein Denken zusammenpresst, gelangt immer zum Vers. Und Dichterin ist Helga M. Novak auch in ihren prosaischen Werken. So gehört sie zu jenen, von denen Hermann Hesse in einem seiner Aufsätze über Christian Wagner sagt: „Manche sehen wir in der Flamme verbrennen und verloren gehen.“ Um das Verlorengehen von Dichtern, von Künstlern zu verhindern, sind alle – zuförderst die Kundigen, die Fühlenden, die Mitfühlenden – aufgerufen. Die Christian-Wagner-Gesellschaft und die Christian-Wagner-Stiftung, die ohne begeistert engagierte Mitstreitende nicht existieren würden, machten sich das zur Aufgabe. Dass der Preis, der den Namen des eigenwilligen Dichters aus Warmbronn trägt, in diesem Jahr Helga M. Novak zugedacht ist, gereicht allen Beteiligten zur Ehre; denn auf beider Werk fällt dadurch das Licht der Erkenntnis und lässt ihre Bedeutung einmal mehr in das öffentliche Bewusstsein steigen.
Hier ist es denn Zeit, den Dank der Jury und den Preisstiftern von der mit dem Christian-Wagner-Preis geehrten Dichterin Helga M. Novak zu überbringen. Gern wäre sie selbst anwesend, ist aber sehr, sehr krank.
Christian Wagner, der an die Wiedergeburt glaubte und dabei in Tier, Mensch, Pflanze und Unbelebtem gleichberechtigte Wesenheiten erkannte, wünschte am Ende „Lichtwellen neu zu werfen in den Tag, / Lichtsonnen neu zu streuen in das Nichts.“
Ironisch hält Helga M. Novak, ganz Mensch unserer aufgeklärten Zeit, dagegen, indem sie unsentimental feststellt:

nach meinem Tod die Seele
von der ich nicht weiß
wo sie sich augenblicklich befindet
(ich habe sie noch nie gesehen)
wohin sollte sie sich wenden wohin
wenn ich sterbe wenn ich umfalle
dass mein Herz aufhört zu schlagen
ist gewiss auch dass es zu Erde wird
wieviel Herzen habe ich pochen hören
Seelen keine und ich wünsche niemand
erlitte die Qual eine Art Herberge
meiner Seele später zu werden solche
Strafe hat wirklich keiner verdient
mein Herz aber wird zerfallen schade

Solche Gedanken münden bei Christian Wagners in verwandtschaftliche, doch hoffnungsvollere Fragen:

Und wer wir künftig, wann dereinst ich sterbe,
Als neues Ich wohl sein mein Geisteserbe?
Wer in der Fernzeit, wenn das Grab mich schattet,
Erstehn, mit meinen Liedern ausgestattet?

Christian Wagner, dem es nur selten vergönnt war, aus der Fron des Warmbronner Landlebens auszusteigen – gleich Helga M. Novak war er allerdings auch in Italien und beide schrieben ihre Gedichte über die Stätten, an denen sie sich aufhielten – versuchte von hier aus den Weltgeist zu erhaschen. Helga M. Novak setzte sich ganz und gar dem Zeitgeist aus, diesem 20. Jahrhundert mit seinen Kriegen und der Teilung Deutschlands. Früh schon begriff sie die Divergenz zwischen sozialistischer Theorie und Realität, stellte sie in Frage. Zwischen Ost und West wandelnd, schrieb sie ein gewichtiges Stück deutscher Literatur.

Rita Jorek, 2010

 

 

Lebenswege

Die Dichterin Helga M. Novak. Ein Feature von J. Monika Walther

Die verlorene Tochter. Ein Skandal: Helga M. Novak darf nicht nach Deutschland

Ulrich Schäfer-Newiger: Sprache. Freiheit. MelancholieÜber Helga M. Novak als Dichterin.

Utz Rachowski: Wie ich die große Dichterin Helga M. Novak verpasste

Bernd Markowsky: „Wenige haben so viele Grenzen hinter sich gelassen wie wir“

Andreas Reimann: DDR ausprobieren

Hannes Schwenger: „Ich wohne bei der Eule“

Hans Altenhein: Transsibirische Reise

 

 

Zum 70. Geburtstag der Autorin:

Michael Braun: Schöne Verwilde­rung
Neue Zürcher Zeitung, 8.9.2005

Fries, Fritz Rudolf: Versuch einer Liebeserklärung
Neues Deutschland, 8.9.2005

Thomas Poiss: Dichtermut, Dichterjubel
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.9.2005

Zum 75. Geburtstag der Autorin:

Ulf Heise: Anarchin in polnischer Klausur
Märkische Allgemeine Zeitung, 7.9.2010

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