Helga M. Novak: Poesiealbum 320

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Helga M. Novak: Poesiealbum 320

Novak/Slatosch-Poesiealbum 320

BEKENNTNIS

ich bin ostdeutsch das zieht sich hin
wie der Rauch an erloschenen Dochten

ich bin ostdeutsch das wächst
wie der Pilz zwischen Menschenzehen
ich zähle die Pfennige meiner Mark
der Soldat den ich nicht warb
frißt stets einen Teil von Hundert

ich bin deutsch und nich nur
der Sprache nach
ich bin ostdeutsch solange
die Pfähle nicht morschen
solange Mißtrauen und Spitzel
die hausgemachten Soßen würzen
sitze ich an der kahlen Seite des Tisches

ich bin ostdeutsch und ziehe
einen Klumpen Hoffnung hinter mir her

 

 

 

Helga M. Novak

Aufgewachsen bei Adoptiveltern in Brandenburg der Kriegs- und Nachkriegszeit spiegelt die Weltenwanderin in ihren Texten, besonders aber ihren Gedichten, Liebe und Abwehr, Sehnsucht und Widerstreben, Heimweh und Fernsucht als auch Bindung und Unabhängigkeit – bekannte Dipole vieler Menschen, die hier aber als „intensive, lakonische, tragische, witzige, melancholische und unverschlüsselte, sehr poetische Dichtung“, den Leser fesselt. Man kann sich in diesen Gedichten verträumen und an Liebeslyrik erfreuen.

Aus Frederike Frei: Poesiealbum 319, MärkischerVerlag Wilhelmshorst, 2015

Stimmen zur Autorin

Solange noch solche Gedichte abgeschickt werden, Briefe an uns, die es angeht, ist nicht alles verloren.
Harald Hartung

Helga M. Novak ist eine DDR-Dichterin im Westen, für mich die Größte.
Wolf Biermann

Ihre Gedichte sind immer wieder eine Entdeckung: Man kann sie nicht oft genug lesen.
Michael Opitz

Sie hat sich – mit ihrem Schreiben wie Leben – ins Zentrum der Zeitgeschichte begeben.
Regula Venske

Wer über deutschsprachige Poesie verhandelt und den Namen Helga M. Novak außer Acht läßt, hat Stromausfall.
Michael Lentz

Helga Novak hat die Horizonte der zeitgenössischen Lyrik ins Politische und Naturgeschichtliche erweitert.
Michael Braun

Sie ist die große Dichterin der Mark, die Einzige, die Peter Huchel das Wasser reichen kann.
Gert Loschütz

Ihre Gedichte sind einzigartig; ihr Werk ist unvergleichlich in der deutschen Nachkriegsliteratur.
Hanne Kulessa

Sie schrieb zupackender als jede andere Lyrikerin ihrer Generation, ihre Gedichte erzählen Geschichten, beschwören Situationen, manchmal mit derbem Witz, immer voller Sehnsucht nach einer besseren Welt, ohne je in Kitsch zu kippen.
Sabine Rohlf

Eine große Prosa-Autorin und bedeutende deutsche Lyrikerin.
Günter Grass

MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2015

Poesiealbum 320

Die Gedichte von Helga M. Novak haben eine seltene Eindringlichkeit, einige gehören zum Kanon deutschsprachiger Lyrik. Ihre Verse bieten ein sprachliches und philosophisches Feuerwerk ohnegleichen; die über die Dezennien verfeinerten Motive der Zeitgeschichte, geografischen Erkenntnisse und autobiografischen Erfahrungen zeichnen ihre Gedichte aus, die die Leser sofort fesseln. Eine der wahren und bleibenden Dichter unserer Zeit.

MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2015

 

Dokumente wunderbarer Anarchie

– Die Dichterin Helga M. Novak würde heute 80 Jahre alt. –

„die die mich kennen / werden richtig lesen / die die mich nicht ken­nen / werden richtig le­sen / und toben / die die mich falsch lesen / werden auch toben / aber die kennen mich noch nicht“, heißt es in einem späten Gedicht Helga M. Novaks. Ent­halten ist es in einem neuen Heft der Rei­he Poesiealbum. Für die Auswahl zeich­net Rita Jorek verantwortlich, die bereits Novaks Gesammelte Gedichte heraus­brachte. Unbequem und aufsässig war die Schriftstellerin von Anfang an. Die Wur­zeln dafür lagen in der Jugend der 1935 in Berlin Geborenen:

Ich bin im Kinderheim zur Welt gekommen, 14 Tage später ist meine Mutter gegangen. Ich wurde adop­tiert, und mich hat’s erwischt, bei den für mich unpassendsten Eltern zu landen.

Während des Studiums der Journalistik und Philosophie in Leipzig entwickelte sie sich zur Vagabundin, die auf gepackten Koffern hockte. 1960 durch Heirat zur Is­länderin geworden, lebte sie überall und nirgends in Europa. Rastlos wirkte sie bis zu ihrem Tod 2013. Als die Mauer fiel, bra­chen die Existenzbedingungen weg. Ihre Arbeiten verschwanden aus den Regalen. Die Situation änderte sich erst, als sie 1995 beim Schöffling Verlag eine neue Heimat fand. Sechs Titel erschienen in diesem Editionshaus.
Novaks Strophen sind Dokumente wunderbarer Anarchie. Die Vielfalt ihres Talents entging selbst den Gralshütern der sozialistischen Kultur nicht. 1965 durf­te sie das Literaturinstitut Johannes R. Be­cher beziehen, doch bald zwang man sie, wegen des Verteilens regimefeindlicher Publikationen die DDR binnen 24 Stun­den zu verlassen. So wurde sie zur ersten ausgebürgerten Schriftstellerin. Kaum in der Bundesrepublik eingetroffen, stürzte sie sich in die Fehden der Studentenbe­wegung. Doch Häuserkampf und Sitz­streiks befriedigten sie nicht. Deshalb reis­te sie nach Portugal und engagierte sich während der „Nelken-Revolution“.
1987 siedelte Novak nach Polen über. Dort entfaltete sich noch einmal ihre schöpferische Kraft. Die Sprachkomposi­tionen, die sie zuletzt in expressionisti­scher Manier „rausgehauen“ und „raus­geplatzt“ hat, gelten bis heute als „Syno­nyme für Meuterei“.

Ulf Heise, Leipziger Volkszeitung 8.9.2015

Hoffnung wie Eisen

Wälder ohne Schonung – das ist ihre Welt. Gegenden mit Lichtungen, die sie begierig durchs Gestrüpp des Lebenslaufes sucht. Und am Ende ihrer Beobachtungen, immer und überall, die Erfahrung: Entwicklung ist Absägen und Abgesägtwerden. Dennoch:

ich gebärde mich als sei die Natur noch genießbar.

Helga M. Novak (1953–2013): die Waldgängerin. Sie ruft in den Versen dieses Poesiealbums brüchigen Existenzboden auf, sie sieht den Zugriff des rigiden Besitzers auf allgemeine Güter, sie blickt auf das, was Stürme und Verwehungen übrig ließen. Die Existenz dieser Dichterin war stets eine Existenz draußen, im Unterwegs, im Unwegsamen. Da-Sein zwischen den Stämmen, aber nie auf den Holzwegen hin zu fester Ordnung und ordentlicher Festigkeit. So oft ohne Schutz. So oft frierend. Ihr lyrisches Herz schlägt für die Gedemütigten, die Regengenässten, die Erben eines Kaspar Hauser und aller Mädchen mit den Schwefelhölzern. Medea beschwört sie als Opfer einer „Gewalt von oben“, die keine Scham kennt.
Sie schreibt schwungvoll aggressiv, dissonant, archaisch. Im Liebesgedicht souverän dominant. Jägerin und Engel. Eine Frau, entwurzelt und doch ganz bei sich: ihre Dichtung ist ehrlich, bleibt also jenes Pfeifen, das just in Wäldern komponiert wird – als Grundmelodie einer Biografie, die um die Gründe weiß, Furcht zu bekommen und nie wieder zu verlieren. Und trotz aller Angst: so viel bleibende Lust auf die spontane, unmittelbare, bedenkenlose Tat. Losgehen, weitergehen, durchs kalte Wasser gehen und durch die kalte Gesellschaft. „wegstehlen will ich mich / weg von den Steinen die nie / einer in Brot verwandelt“.
So ging sie auch durchs DDR-System. Ihre Sache war das nie: sich so zu verhalten, dass ein nachträgliches Schönreden möglich wäre. Sie floh den Staat, sie kam zurück, sie ging erneut weg. Island, Polen, gegen Ende ihres Lebens ein regelrechter Bürokratiekrieg, um als eine „erwerbslose Ausländerin“ wieder Deutsche werden zu dürfen. Eine Exotin, frei im Begehren, lustvoll in ihrer Ruhelosigkeit, radikal in der Suche nach Rausch. In ihren Gedichten lebt ein kopfschüttelndes Trauern: wie viel vertane Lebenskraft, unnütze Aufreiberei überall, nur, um ein wenig glücklich zu sein.
„ich bin ostdeutsch und ziehe / einen Klumpen Hoffnung hinter mir her“. Auf den ersten Blick: schöner Trotz, schöne Kraft. Auf den zweiten Blick: ein Fluch, wie ihn auch Sisyphos kennt. Ein Klumpen, der saugt sich voll mit Dreck und Nässe und Schwergewicht, der hängt am Fuß wie die Eisenkugel. Hoffnung: die Kerkermitgift. Auf Ziele zugehen? Es ist viel getan, sich von Zielen abzuwenden – auf die Gefahr hin, sich selber zu begegnen. Gehen muss ein Weggehen sein.

wie viel Herzen habe ich pochen hören
Seelen keine und ich wünsche niemand
erlitte die Qual einer Art Herberge
meiner Seele zu werden solche
Strafe hat wirklich keiner verdient
mein Herz aber wird zerfallen schade.

Hans-Dieter Schütt, neues deutschland, 14.1.22015

 

Religion und Philosophie als Provokation (in) der Literatur

– Helga M. Novaks Lyrik als Dialog. –

Der Artikel hat zum Ziel, das Vorhandensein religiöser und philosophischer Motive im lyrischen Werk von Helga M. Novak zu erörtern und ihre Relevanz für dessen Interpretation zu überprüfen. Der literarische Text wird als Provokation verstanden, die unter dem Einfluss der literarischen Tradition zustande kommt und zugleich den Leser zur eigenen Auslegung anregt.

Zur Einleitung: Bemerkungen zu den Begriffen Provokation, Polyphonie und Dialogizität
Die Provokation des Wortes durch das Wort, die Michail Bachtin in die Polyphonie des literarischen Werkes eingebettet sah, kann sowohl in Prosatexten als auch in Gedichten zustande kommen. In der intertextuell orientierten Gedichtanalyse kommt es darauf an, solche „Provokationen“ aufzudecken und sich auf antwortendes Verstehen einzustellen. Die Vieldeutigkeit einzelner Worte „provoziert“ den Empfänger, indem sie zu verschiedenen Deutungen führen kann oder Konnotationen hervorruft, die von der Intention des Autors abweichen.
Darüber hinaus kann man Franz Huberth zustimmen, der die Semiose als einen „kontinuierlichen und theoretisch unabschließbaren Deutungs-, ja, Schöpfungsakt“1 definiert, an dem Sender und Empfänger gleichermaßen beteiligt sind. Somit bewegen sich literarische Zeichen „im Dialog“,2 der dynamisch abläuft und dessen Verstehen von intra- sowie extratextuellen Bedingungen abhängt.
Die Dialogizität als Merkmal des literarischen Werkes hat zur Folge, dass im Text Zitatfragmente, Paraphrasen und Anspielungen gefunden werden können. Zur Gruppe der Bezugstexte, die solche Provokationen hervorrufen, gehören nicht nur literarische Texte, sondern auch religiöse und philosophische Inhalte, die durch ihre „Literarisierung“ im Gedicht eine neue Form, aber auch eine andere Bedeutung erhalten können.
Das Verstehen der intertextuellen Zusammenhänge kann im Begriff „Intertext“ wiedergegeben werden, der nach Roland Barthes dem „chambre d’échos“, das heißt einem Raum ähnlich ist, „in dem die Echos unzähliger Texte unaufhörlich und untrennbar widerhallen“.3
Das Konzept der Intertextualitat und der strukturalistischen Literaturtheorie im 20. Jahrhundert wurde von Michail Bachtins Konzept des Dialogs deutlich geprägt. Die Kommunikation mit anderen Texten, die im poetischen Werk zustande kommt und an der die   E m p f ä n g er   gleichermaßen teilnehmen, lässt sich in diesem Modell als dynamischer Prozess betrachten, der von der Identität der Sprecher losgelöst wird.4 Im Prozess der Rezeption werden das Werk und die Identität des Autors allmählich voneinander getrennt. Demzufolge führt die Semiose als Bewegung eines Sinns, „der über den je partikularen Einsatz der Sprechenden hinausreicht“,5 zur Verselbständigung des Textes.
Im Prozess der Lektüre ist der Empfänger auf die eigene Intuition bei der Interpretation angewiesen, die im Text Kontexte aufdecken lässt, die der Autor nicht vorgesehen hat. In seiner Hypertextualitatstheorie macht Gérard Genette auf das Problem der Unsicherheit der Lesers aufmerksam, der auf der Suche nach den Kontexten ist:

Jeder neugierige und immer enttäuschte Leser ist hier wie ein Paläograph, der bereits weiß, daß sich hinter seinem Text ein anderer verbirgt, aber noch nicht weiß, welcher.6

Mit anderen Worten: Wir gehen hier davon aus, dass das Ungesagte vom Empfänger vervollständigt wird und dass die Lektüre der Lyrik, wenn auch von der biografischen Spurensuche ausgehend, mit Hilfe von textuellen und kulturellen Bezügen durchgeführt werden kann, auch wenn die Bedeutung über die Intentionen des Autors hinausreicht.
Andererseits zielt der intertextuelle Dialog darauf ab, sich mit anderen Stoffen auseinanderzusetzen, die von dem Autor gezielt in einen neuen Kontext eingebettet wurden. Durch die Wortprovokation erfährt der Leser letztendlich eine Art Verfremdung, die seine ästhetische Erfahrung prägt.
Es wird mir hier wohl nicht gelingen, das Thema der Dialogizität im lyrischen Werk von Helga M. Novak völlig zu erschöpfen. Dennoch soll an einigen Beispielen gezeigt werden, wie die Autorin mit anderen Texten sowie mit ihrem Leser einen Dialog führt und wie sie sich auf sein Vorwissen über andere Kontexte – die Bibel und philosophische Ansätze – beruft.
In einem ihrer Gedichte hat Helga M. Novak sich für den Atheismus ausgesprochen:

mich geht
der Auferstandene nicht an
7

Warum wird dann hier der Versuch unternommen, ihre Gedichte gerade aus dem Blickwinkel der Religion (und der Philosophie) zu lesen?
Erstens soll betont werden, dass religiöse Inhalte im Gedicht als Umdeutungen von Bibelstoffen fungieren können. Zweitens können auch philosophische Ansätze, die im literarischen Text zitiert werden, eine neue Bedeutung gewinnen, die von der primären abweichen kann. Solche Echos sind im lyrischen Werk von Helga M. Novak nicht nur die biblischen Geschichten oder religiöse Werte, sondern auch andere literarische Werke, in denen ähnliche Motive verarbeitet wurden.

Bibelstoff als Mittel der Zeit- und Gesellschaftskritik
In Bezug auf die Frage nach der Rolle der religiösen und philosophischen Motive in der Lyrik von Helga M. Novak ist es wichtig, dass die ostdeutsche Gesellschaft nach dem 2. Weltkrieg und der DDR-Gründung im Jahre 1949 einem starken Säkularisierungsprozess unterzogen wurde. Helga M. Novak, wie auch viele Vertreter ihrer Generation, wuchs in einer Umgebung auf, in der die religiösen Fragen als bedeutungslos galten. Durch die Politik der SED sind die Religion und die Religiosität aus dem Leben noch stärker verdrängt worden. Die religiösen Fragen verloren im persönlichen Leben ihre Bedeutung. Schon in den 50er Jahren wurde die Bindung der ostdeutschen Bevölkerung an die Kirche durch die Politik der SED zurückgedrängt, und der Atheismus „war in der DDR fast Konsens“.8 Zur SED-Politik, in deren ideologischem Mittelpunkt der Marxismus stand, gehörte eine erzwungene Säkularisierung der Gesellschaft, so dass die Rolle der Religion „für die Lebensführung zurückgegangen ist“.9
Ein anderes Phänomen, das im Kontext der Religion und Philosophie in der Lyrik von Helga M. Novak von Belang ist, war die Rechtfertigung des Atheismus durch den historischen Materialismus, der das Christentum, aber auch die Religion allgemein, „aus dem Bewusstsein der Menschen verdrängt“ hatte.10
Im Gedicht „Ostersonntag“, das in den Gesammelten Gedichten im Abschnitt „unwirtliches Exil“ (1961–1967) veröffentlicht wurde, bekennt sich das lyrische Ich zum Atheismus.11
Der christliche Glaube, somit auch Christus, gelten als irrelevant:

[…] mich geht
der Auferstandene nicht an
(GG 121).

Einer anderen Stelle des Gedichts ist zu entnehmen:

Ostern erlöst mich nicht
von Betrug und feisten Zungen
(GG 122).

Die Konnotation mit Ostern, mit der Erlösung der Menschheit durch den auferstandenen Christus, führe zur bitteren Überzeugung, dass die religiöse Dimension keine Rolle im Leben, insbesondere in der Ethik, spielt.
Trotzdem findet man in einigen Gedichten Novaks Anspielungen auf das Christentum. Vor allem gilt das für die Schaffensperiode in den 60er und 70er Jahren. Als Beispiele für Gedichte, in denen religiöse Inhalte den Leser zum Nachdenken anregen, können neben dem bereits erwähnten „Ostersonntag“ folgende Texte gelten: „Am Ostermorgen“ (1964),12 „Lied von der paradiesischen Verbannung“ (GG 278), „Fronleichnams-Ballade“ (GG 295) und „Paradiesgarten“ (GG 314) aus der Sammlung Balladen vom kurzen Prozeß (1965–1976). In „Paradiesgarten“ hat man es mit einer Ekphrase zu tun, denn das Gedicht knüpft an das Gemälde Paradiesgärtlein eines anonymen oberrheinischen Meisters aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts an. Teilweise hat man es auch im Gedicht „heiliger Sebastian hilf “(GG 401) mit einer Ekphrase zu tun, denn der Märtyrertod dieses Heiligen wurde in mehreren Kunstwerken dargestellt.
Im erwähnten Gedicht „Ostersonntag“ (GG 121–122) wird das Alleinsein des lyrischen Ich der jubelnden Gemeinde und ihrem Osterfeiern gegenübergestellt. In den festlichen Ritualen, die im Text erwähnt werden, lässt sich die materielle Ungleichheit der Gemeindemitglieder feststellen. Ein ausschließlich materieller Sinn wird auch christlichen Symbolen wie Wein und „Hostienschalen“ verliehen:

ich bin alleine
einzig gegürtet
mit Gottlosigkeit – mich geht
der Auferstandene nicht an

Lammfleisch und Gebell
krönen das Fest der Christen
Wein zerging auf den Lippen
leer sind die Hostienschalen
doch ungleich gedeckte Tische
machen Lieder sterben
Ostern erlöst mich nicht
von Betrug und feisten Zungen
[…] [GG 121–122].

In der „Fronleichnams-Ballade“ aus dem Band Balladen vom kurzen Prozeß (1965–1976) wird ähnlich wie in Ostersonntag nüchtern und etwas zynisch zum Schluss festgestellt:

die ganze Stadt hat ihren Pfarrer denunziert
es hieß er habe einem Unterschlupf gewährt
(…)
da wo er jetzt ist streue ihm keiner Blumen
obwohl er dort in Gottes Namen weiter Reden hält
[GG 295].

Verfremdung, Vereinsamung, die im Kontrast zur feiernden Gemeinde stärker empfunden werden, sind Zeichen der Oberflächlichkeit der religiösen Rituale, in denen es nicht mehr um die Nächstenliebe geht.
Das Alleinsein, das „Frösteln“ des lyrischen Ich am Ostermorgen, an dem „Menschenleere“ herrscht, während „alle in die Messe gegangen“ sind, wird im Gedicht „Am Ostermorgen“ (PA 13) zum Ausdruck gebracht. Unter denjenigen, die Ostern in der Kirche feiern, findet sich auch der als Du angesprochene Jäger, der sich „in Kniebeugen“ übt, obwohl er „gestern“ an einer ,Wilde[n] Jagd bei Mond“ teilgenommen hat. Das Beten in der Kirche und die Teilnahme am christlichen Osterfest stehen im Widerspruch zu der Wilden Jagd „bei Mond“, die etwas Heidnisches an sich hat. Auch wenn diese Kritik nicht direkt ausgedrückt wird, können die wilde Jagd, das Töten von Tieren die wahre, heuchlerische Natur eines feiernden Christen aufdecken, der das Beten oberflächlich, wie eine Art körperlicher Übung betrachtet.
Mit Hilfe der Anknüpfungen an die christlichen Feste gelingt es der Autorin, gesellschaftliche Verhältnisse darzustellen, in denen Heuchelei und Scheinreligiosität herrschen.

(Neu)Deutungen einiger Bibelstellen
Das Gedicht „Am Ostermorgen“ spielt auf Goethes Faust I und auf die biblische Schöpfungs- und Heilgeschichte der Menschheit an. Novak beruft sich auf den Übersetzungsversuch in der Studierzimmer-Szene, wo Faust den Anfang des Johannesevangeliums aus dem Griechischen ins Deutsche neu übersetzen will. Es handelt sich um den griechischen Begriff „Logos“, den Faust, der gelehrte Theologe, der aber der Theologie offenkundig absagt, neu übertragen will, weil er sich darüber im Klaren ist, wie vielschichtig die Bedeutung von Logos ist.13 Daher nimmt er mehrere Anläufe, um seiner Meinung nach die falsche Übersetzung Luthers von „Logos“ mit „Wort“ durch andere Begriffe zu ersetzen. Nach „Sinn“ und „Kraft“ wählt er „die Tat“ aus, die nicht nur den alles inspirierenden Impuls auszudrücken scheint, sondern auch als Aufforderung zu aktivem Verhalten verstanden werden kann.
In „Am Ostermorgen“ übernimmt und ergänzt die Dichterin das Goethesche Zitat. Zugleich gilt der Anfang des Johannesevangeliums als Ausgangspunkt für eine poetische Vision der überzeitlichen Weltzusammenhänge:

am Anfang war das Wort
am Anfang auch die Tat
[PA 13].

Novak betrachtet Wort und Tat als Phänomene, die miteinander den Anfang ausmachen. Bei Goethe kamen sie noch als differente Begriffe vor, die sich sogar ausschließen. Dann bringt die Dichterin den biblischen Schöpfungsmythos und dessen Symbol, den Paradiesapfel, in Erinnerung:

später erst das Paradies mit seinem Apfel
der eigentlich ein Granatapfel gewesen ist
mit tausend roten Kernen
als dauerndes Symbol für Fruchtbarkeit
[PA 13].

Im Gedicht wird der „Paradiesapfel“ als Element der biblischen Geschichte und der Kulturgeschichte betrachtet. Dass es sich um einen kritischen Verweis auf die Interpretation der Bibelüberlieferung handelt, wird deutlich durch das Adverb „erst“ und das adverbial gebrauchte Adjektiv „eigentlich“. „Apfel“ und „Granatapfel“ fungieren hier als Konkurrenzbegriffe. Es geht im Gedicht um den biblischen Schöpfungsmythos und den Sündenfall der ersten Menschen und nicht etwa um die antike Vorstellung des Paradiesgartens mit einem Lebensbaum, auf dem die Äpfel der Hesperiden wuchsen.
Außer Acht gelassen wird dabei, dass es sich im Genesis-Buch um die Frucht des Baumes der Erkenntnis des Guten und Bösen und nicht um eine genauer bestimmte Frucht handelt. Ihre symbolische Bedeutung und der Name ergaben sich später aus dem lateinischen Wortspiel, in dem die Wortbedeutungen von mālum (Apfel) und mălum (das Böse) eine zentrale Rolle spielen. Im Gedicht wird die christliche Vorstellung des Apfels als Symbol der Verlockung und des Bösen nicht erwähnt. Seine Erklärung basiert auch nicht auf der alttestamentlichen Überlieferung, die von der unheilbringenden Frucht im Paradiese berichtet. Stattdessen wird eine andere symbolhafte Bedeutung des Granatapfels erwähnt, die ihn mit dem griechischen Fruchtbarkeits- und Erotikmythos verknüpft: „mit tausend roten Kernen/ als dauerndes Symbol für Fruchtbarkeit“ [PA 13]. Damit wird die griechische Mythologie ins Licht gerückt, in der, wie auch in anderen Kulturen, der Granatapfel (und nicht der Apfel) als Symbol des Geschlechtsverkehrs und der Fruchtbarkeit galt. Die Symbolik der Frucht erklärte sich aus der Zahl der Kerne, die in zahlreicher Menge in der Frucht enthalten sind. Daher „diente er sehr passend zum Symbol des Geschlechtsverhältnisses“.14 Andererseits galt jene Frucht in der jüdischen Tradition als Paradiesapfel, der in der Überlieferung 613 Kerne haben sollte, die den Gesetzen der Thora entsprachen.15
Die Reihenfolge, in der die Elemente des Weltanfangs sowie ihre (literarische) Deutung im Gedicht präsentiert werden: 1. das Wort (Johannesevangelium), 2. die Tat (Goethe: Faust), 3. „Paradies mit seinem Apfel“ (Interpretation der Frucht im Buch Genesis), die Erwähnung des Granatapfels als „Symbol für Fruchtbarkeit“, das dem gängigen Irrtum, es handle sich um einen Apfel, widerspricht, stellt eine Auseinandersetzung mit dem Bibelstoff und der Tradition seiner Auslegung dar, die darüber hinaus korrigiert wird.
Den Elementen des (korrigierten und kommentierten) Bibelstoffes folgen andere Symbole – Wein, Blut und Oblaten:

dann kam der Wein – lauter Blut –
Von den Oblaten ganz zu schweigen
Sonderangebote aber ohne Rabatt
[PA 13].

Im Gedichtinhalt kommt es zur Verschmelzung der biblischen Paradiesgeschichte mit anderen Mythologien, in denen der Granatbaum als Symbol der Fruchtbarkeit fungiert: in den griechischen Mythen erscheint der Granatbaum „als entsprossen aus dem auf die Erde geflossenen Blute eines des Zeugungsgliedes beraubten Gottes“.16
Beide Symbole – Granatapfel als Zeichen der Fruchtbarkeit (und des sexuellen Verkehrs) und der Wein – sind ebenso stark verbunden mit dem Bacchus-Mythos wie mit dem alttestamentlichen Paradiesstoff. Die Frucht gehörte nämlich zu den Attributen des Gottes Bacchus. Der Granatapfelbaum soll sogar seinen Blutstropfen entkeimt sein.
Dank der Vieldeutigkeit gewinnt die Zeile „dann kam der Wein – lauter Blut –“ eine Doppelbedeutung, denn das Blut und der Wein, die das Opfer Christi darstellen, und der Apfel als Symbol der Sünde, die von Christus getilgt wurde, können sich auf den Gott der Lust Bacchus in gleichem Maße beziehen.
Es liegt auf der Hand, dass sich die Dichterin von den christlichen Glaubensansätzen distanziert. Das bestätigt der ironisch angelegte Gedichtabschluss: „Sonderangebote aber ohne Rabatt“ [PA 13] sowie die Formulierung „der Wein – lauter Blut“, wenn man dabei an die Transsubstantiation denkt, die zum Teil die Wandlung von Wein in das Blut Jesu Christi darstellt.

Die Geschichte von Kain und Abel und das deutsche Verhängnis
Im literarischen Schaffen Novaks aus den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts werden blinder Kadavergehorsam, kleinbürgerliche Moral und die heuchlerische deutsche Gesellschaft häufig an den Pranger gestellt. Insbesondere zwei Themen kehren immer wieder: die ambivalente Haltung der Deutschen zwischen der Annahme deutscher Schuld und der eigenen Rechtfertigung nach dem 2. Weltkrieg und die Allgegenwärtigkeit des Staatssicherheitsdienstes im privaten und öffentlichen Leben. Die beiden Themen tauchen im Gedicht „Kain oder Abel“ aus der Sammlung Ballade von der reisenden Anna (1956–1965) auf. Voller Empörung wendet sich die Dichterin an die beiden deutschen Staaten, die hier personifiziert werden. Es fallen zuerst harte Worte über Westdeutschland:

Deutschland
schalkhafte Nutte
nenne dich nicht
Europa Wertarbeit
Hochkonjunktur Kronprinz
der Wirtschaftsgemeinschaft
[ GG 26].

Novak, die gängige Meinungen über die beiden deutschen Staaten hinterfragt, scheut sich nicht, ihr Urteil über West- und Ostdeutschland auszusprechen. Dem westdeutschen Staat werden die ihm zugeschriebenen Klischees wie Wirtschaftswunder oder das technikbezogene Stereotyp deutscher Wertarbeit vorgeworfen. Die Errungenschaften der DDR, die als „Land der Werkleute“ galt, wie auch die soziale Fürsorge des Staates werden im Gedicht ebenso in Frage gestellt:

nenne dich nicht
sozial
Land der Werkleute
human gebildet
[GG 26].

Des Weiteren wird den Deutschen vorgeworfen, dass sie sich der Manipulation bzw. den wechselnden Interessen der Großmächte unterwerfen:

rote Nation
deine Röcke sind Fahnen
im Wind der Großmächte

rechts mit Geld und
links mit Transparenten
bekleidet
[…] [GG 26].

Die einer Fahne „im Wind“ ähnliche Haltung kennzeichnet sowohl die Haltung der DDR-Bürger, die als „rote“, „mit Transparenten bekleidet[e]“, linksorientierte „Nation“ im Gedicht angesprochen werden, als auch die der Westdeutschen, die „mit Geld“ ihre Ziele (ökonomische oder politische) erreicht haben sollen. Der Vorwurf, dass sich die Deutschen unter dem Einfluss der Großmächte befinden, bezieht sich sowohl auf den ostdeutschen, sozialistischen Staat, der der Manipulation der Sowjetunion unterworfen war, als auch auf die Bundesrepublik, die als Einflusszone der USA galt.
Was aber hat dieses Deutschland mit der Bibelgeschichte von Kain und Abel zu tun? Dem Buch Genesis nach (Gen 4, 1–26) hat Kain, der erste Sohn von Adam und Eva, seinen jüngeren Bruder Abel erschlagen (Gen 4, 1–16). Die Kain-und-Abel-Geschichte gehört zu den Bibelstoffen, die in der europäischen Kunst und Literatur häufig aufgegriffen und neu interpretiert wurden.17 Bereits in den ersten Jahrhunderten nach Christi, sowohl in den theologischen Schriften der ersten Kirchenväter, als auch in der Kunst und Literatur werden der eifersüchtige Kain und der unschuldige Abel als typologische und symbolische Figuren verstanden. Abel repräsentiert das Gute, Kain – das Prinzip des Bösen. Im Frühchristentum werden die Brüderrollen ähnlich verstanden – Abel galt als Gerechter und Vorbild Christi, der Brudermörder Kain als Schuldiger und Sünder.18 In literarischen Texten wurde die Ursache des Brudermordes hinterfragt und die Schuld Kains in Zweifel gezogen.19 In der europäischen Literatur wurde der Stoff von Lord Byron psychologisch vertieft und in der europäischen Romantik zum Topos.20
In Byrons Drama Cain (1821) wurde der Brudermord ebenfalls gerechtfertigt, da dem Bösen, unter dessen Einfluss Kain gestanden haben soll, eine übermächtige Kraft zugeschrieben wurde, der kein Mensch zu entgehen vermochte. Dieser unvermeidliche Einfluss des Bösen auf die Menschheitsgeschichte, zu der auch das Kain-Schicksal gehörte, wurde zum kollektiven Schicksal aller Menschen.
Mit dem Gedicht „Kain oder Abel“ schreibt sich Helga M. Novak also in eine umfangreiche literarische Tradition ein, zu der im 20. Jahrhundert solche Autoren wie Walter Helmut Fritz, Nelly Sachs, Hilde Domin, Günter Kunert oder Marie Luise Kaschnitz gehören.21
Im Kontext der deutschen Schuld kann für die Interpretation von Novaks Gedicht „Kain oder Abel“ ein anderes Gedicht relevant sein. Im Gedicht „Abel steh auf“ (1953) bezieht Hilde Domin die Bibelerzählung auf die Shoa bzw. den Holocaust. Die „Dennoch-Poetik“22 der Dichterin, die jüdischer Herkunft war, zielte darauf ab, die mit Abels Tod verlorene Hoffnung auf die gute Zukunft der Menschheit durch sein Erwachen zurückzugewinnen. Im Jahre 1968 verfasste Hilde Domin das politische Gedicht „Abschaffung des Befehlsnotstands“, in dem sie die technisch fortgeschrittene Zivilisation für die Abschaffung der Differenz zwischen Schuld und Unschuld verantwortlich machte. In Bezug auf Menschen, die zugunsten der Technik und des Rationalismus aus Entscheidungsprozessen ausgeschlossen werden, kann von Schuld und Unschuld keine Rede mehr sein:

alle Abel kein Kain
alle Kain
.
23

Im Gedicht „Kain oder Abel“ von Helga M. Novak wird das Schicksal der neuen Generation mit Hilfe des Topos dargestellt, aber im Gegensatz zu anderen literarischen Verarbeitungen des Stoffes kommt es zu keiner Rechtfertigung der deutschen Nation. Dem Staat wird dagegen vorgeworfen, dass den Vertretern der jüngsten Generation, „den Neugeborenen“, die Möglichkeit der Entscheidung vorenthalten wird, ob sie die Rolle des unschuldigen Abels (aber auch des Opfers) oder des Brudermörders Kain übernehmen wollen:

deinen Neugeborenen verhängst du
statt sie abzutreiben
Kain oder Abel zu sein
[GG 27].

In Novaks Gedicht sind die Täter- und Opferrollen zum gemeinsamen Schicksal der Gesellschaft zusammengewachsen, indem niemand seines Schicksals Schmied sein darf. Dadurch aber ist niemand direkt am „Brudermord“ beteiligt oder kann dafür verantwortlich gemacht werden. Im Gedicht wird die Vorbestimmung der Neugeborenen zu ihrem Verhängnis akzentuiert. Es wäre für sie besser, abgetrieben zu werden, als willenlos zu leben und nicht entscheiden zu dürfen, wer sie sein sollen.
Viele Geschichten von Kain und Abel, die in der Literatur der Gegenwart verarbeitet werden, weichen von der Interpretation der biblischen Urfassung ab. Die Umstände und Helden des biblischen Gleichnisses werden geändert, die Rollen vermischt und die Differenzierung zwischen den Opfern und Tätern aufgehoben. Durch die Aufhebung der strengen Unterscheidung von Opfer- und Täterrollen wird die deutsche Gesellschaft vom Verhängnis des Kain-Schicksals befreit.
Ein anderes nennenswertes Beispiel für die literarische Verarbeitung des Kain-und-Abel-Stoffes finden wir in Franz Huberths Studie, die dem Stasi-Tabu in der DDR- und BRD-Literatur gewidmet wurde.24 Huberth verweist auf Hans Joachim Schädlichs autobiografische Geschichte „Die Sache mit B.“ aus dem Kursbuch von 1992, in der das Kain-und-Abel-Prinzip allgemein auf die DDR-Gesellschaft und die Tätigkeit der Stasi übertragen werde.25
Die in der Bibel festgelegte Opfer-Täter-Richter-Beziehung wird zum Modell der Verhältnisse in der DDR-Gesellschaft. Der Leser des Gedichts „Kain oder Abel“ von Novak bleibt im Unklaren, ob die Einführung des Bibelstoffes auf die ostdeutsche oder (auch) auf die westdeutsche Gesellschaft zielt, denn die Vorwürfe werden sowohl an den DDR-Staat als auch an Westdeutschland gerichtet. Während der Staat bei Schädlich als eine Gemeinschaft von Geschwistern und die ,Stasi‘ als ,Kain-Fraktion‘ erscheint, die, mit Schild und Schwert bewaffnet, zum Brudermord bereit ist, kommt im Gedicht Novaks keine klare Differenzierung zwischen den Kain- und Abelrollen vor. Es wird nämlich nicht festgestellt, wer in der Gesellschaft „gut“ und wer „böse“ ist, die Kain-Rolle wird nicht eindeutig besetzt, etwa einer Gruppe der Staatsfunktionäre zugeordnet. Es wird nur nahe gelegt, dass das Individuum (und zwar früh in seinem Leben) seines freien Willens beraubt wird. Die „Neugeborenen“ (in Deutschland) dürfen keine Entscheidung treffen, ob sie die Abel- bzw. die Kain-Rolle im Leben spielen wollen, denn der Staat entscheidet für sie. Das Thema der Einschränkung des freien Willens kehrt im Gedicht „mein Staat – der heilige Martin“ [GG 95–96] wieder.
In „Kain oder Abel“ wird dem Sozialstaat, dem „Land der Werkleute“, Heuchelei vorgeworfen. Die Dichterin nutzt dabei die Vorstellungen über das zermürbte Land, die im Ton an die Ermahnungen der Bibelpropheten erinnern. Sprechen und Tun des Staates ähneln den Reden von Pharisäern, die das eine sagten und das andere taten:

Du schläfst in den
Seidenkissen der Diebe
In den Matratzen der
Pharisäer nein
Du wälzt dich nicht
Mit Grobianen Kohlenschippern
Knütteln und Kreaturen
[GG 27].

„Mein Staat gleicht dem heiligen Martin“: Heiligenlegenden als Vorwand für die Kritik am Staat
Auf eine ähnliche Kritik am Fürsorgestaat stoßen wir im Gedicht „mein Staat – der heilige Martin“ [GG 95], in der ein anderer religiöser Stoff verarbeitet wurde, nämlich die Legende des heiligen Martin von Tours.
Der heilige Martin war Soldat und später katholischer Bischof von Tours, der im 4. Jahrhundert lebte. Laut der Legende soll Martinus einem armen unbekleideten Mann geholfen haben, indem er ihm am Stadttor von Amiens die Hälfte seines Mantels gab, den er zuvor mit dem Schwert zerschlitzt hatte. In der darauffolgenden Nacht sei ihm im Traum Christus erschienen, bekleidet mit dem halben Mantel. Da Martinus bereit war, mit dem Armen Mitleid zu empfinden und ihm Barmherzigkeit zu zeigen, erwies er sich als wahrer Christ.26 In der religiös-erbaulichen Martinsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts kam es zur Zementierung der klischeehaften Überlieferung, die auf zwei Elemente – Mantelteilung und Traum – reduziert wurde.27
In Novaks Gedicht wird der DDR-Staat als Sozialstaat kritisiert, da sich das Staatssystem nicht nur um seine Bürger kümmert und sie absichert, sondern auch ihre Freiheitsrechte verletzt. Deutschland „baut lichte Schulen“, „garantiert kostenlose / Gesundheitsfürsorge und Hochschulstipendien“, „zahlt / Kindergeld und Renten“, aber trotz allem werden seine Bürger ihrer Freiheit beraubt. Ähnlich wie in „Kain oder Abel“ wird den Bürgern kein Entscheidungsrecht gelassen:

mein Staat verbietet mirs Maul
und steckt mich ins Heer
und macht die Haushaltspläne
und die Außenpolitik
ohne mich [GG 95].

Im Gedicht stellt das lyrische Ich fest

mein Staat gleicht dem heiligen Martin
der seinen Mantel zerschlitzt
[GG 96]

und nutzt die Heiligengeschichte, um zu fragen: „was soll ich denn mit dem halben Lumpen / […] anfangen“ und über den Fürsorgestaat zu klagen:

mein Staat verlangt daß ich ihn heilige [GG 96].

Einen persönlichen Ausklang hat das Gedicht „heiliger Sebastian hilf“ [ GG 401] aus der Sammlung Margarete mit dem Schrank (1976–1978), in dem der Tod des im 3. Jahrhundert lebenden Märtyrers Sebastian und dessen zahlreiche Darstellungen in den bildenden Künsten als Inspiration dienen, um den andauernden psychischen Schmerz des lyrischen Ich zu schildern.
Helga M. Novak, 1935 geboren, wuchs als Adoptivkind auf. Sehr früh hat sie sich von ihren Adoptiveltern getrennt, was sie auch in ihrer Lyrik zum Ausdruck brachte. Im Gedicht wird der heilige Sebastian zur Ikone des Schmerzes, den die Anderen dem Märtyrer mit besonderer Bestialität hinzufügen. Die viermal im Gedicht erwähnten Messer und die Widerhaken, die auf den ikonenhaften Tod Sebastians hinweisen, werden zugleich zu Attributen des psychischen Leidens, das bereits in der Kindheit angefangen hat. Dass sich das lyrische Ich mit dem Heiligen im Leiden identifiziert, ist offensichtlich:

nun drehen sie wieder die Messer
die in meiner Seele stecken
seit früher Kindheit schon und Jugend
[GG 401],

das Leiden hat dabei kein Ende:

aber ich hab mir abgewöhnt zu versuchen
diese Messer aus der Seele zu ziehen
[GG 401].

Nur selten hat man es mit literarischen Provokationen in der Lyrik von Helga M. Novak zu tun, in denen die Dichterin auf religiöse Inhalte und deren Darstellung in der Kunst zurückgreift und diese dabei in einen solch intimen, autobiografischen Kontext stellt.

Der Fauststoff und die Sprache der Heuchelei im Spiegel der Philosophie
Im Gedicht „Kinderfrage“ aus der Sammlung Ballade von der reisenden Anna (1956–1965) beruft sich die Dichterin auf den deutschen Nationalmythos Faust, um zu zeigen, dass das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse verlorengegangen ist. Die Deutschen hätten sich ausschließlich dem Bösen zugewandt:

Eines Tages spiel ich das alte
Puppenspiel vom Doktor Faust
der seine Seele verschachert
– Warum spielst du den Bösen
so gut – fragt mein Sohn
– und der Gute hat so häßliche Haare –
– das kommt weil mein Volk
in diesem Jahrhundert noch
keinen Faust gespielt hat immer
nur einen Mephisto –
[GG 48].

Der Versuch, Deutschland neu zu definieren und seine neueste Geschichte zu beurteilen, kommt im Schaffen von Helga M. Novak oft vor. Die Staatskritik findet Widerhall in der Auffassung der Sprache, die einen zwiespältigen Charakter aufweist. Im Gedicht „Bekenntnis“ [unwirtliches exil (1961–1967) GG 128] definiert Novak ihre ostdeutsche Identität, die sich aus der Sprache und der DDR-Herkunft ergibt. Die sich wiederholende Anapher „ich bin deutsch“ und „ich bin ostdeutsch“ betont den Zusammenhang der Sprache mit dem Land. Das Ostdeutsch-Sein hat etwas Widersprüchliches an sich, ist wie ein „Klumpen Hoffnung“, der hinter sich hergezogen wird: „ich bin deutsch und nicht nur / der Sprache nach“ [ebd.], es bedeutet den Zwang, sich mit Sprache und Heimat ohne Umstände zu identifizieren. Es wird einem kaum die Wahl gegeben zu entscheiden, wer man sein kann.
Im Gedicht „meine doppelte Zunge“ aus Legende Transsib von 1985 [GG 526] wiederholt die Lyrikerin das Konzept der zwiespältigen Identität. Diese „doppelte Zunge“ eignet sich gleichermaßen dafür, über philosophische Themen wie über lüsterne Sinnlichkeit zu sprechen. Sie redet „vom Kopfstand / eines Hegelianers“, vom „angeblichen Naturgesetz nach dem die Systemhierarchien / praktiziert werden“, wie auch von „patschnassen Gleisarbeiter[n] / die den Hülsenpuffer so lebhaft nachahmen“ oder von einem „Kerl der […] / zwinkert als sei ich extra für ihn gemacht“ [ ebd.]. Diese Geschicktheit der Sprache wird bei Novak zum Bild der janusköpfigen Natur der (deutschen) Sprache.
Die Widersprüchlichkeit des Denkens und des Sprechens wird insbesondere an jenen Stellen enthüllt, wo von der Philosophie heuchlerisch geredet wird:

Meine doppelte Zunge redet vom Kopfstand
Eines Hegelianers der die Welt veränderte
[GG 526].

In der Phänomenologie des Geistes bewies Hegel, dass das natürliche Bewusstsein für die Beschäftigung mit der philosophischen Wissenschaft nicht ausreicht. Dies hat dazu geführt, dass dem Menschen eine verkehrte Welt erschienen ist. Um diese verfälschte Denkweise auszuschließen, wäre es nötig, sich auf den Kopf zu stellen, das bedeutet: sich vom natürlichen Bewusstsein zu befreien und sich auf das reine Denken umzustellen.28
Mit dem Begriff Hegelianer, der die Welt verändert haben soll, ist im Gedicht wohl Karl Marx gemeint, der die Metapher des Kopfstandes von Hegel übernahm, um an ihr eine Umkehrung zu vollziehen. Wenn Hegel an den Kopfstand dachte, meinte er damit etwas anderes als Marx, der als Materialist und „linker“ Hegelianer eine Umkehrung der Theorie Hegels vollziehen wollte, indem er das Gegensätzliche anstrebte und zwar, die Philosophie aus dem vermeintlichen Kopfstand in ihre rechte, d.i. materialistische Stellung umzustellen. Marx’ Rede von Hegelschen Kopfstand ist eine Rede, die die Sprache Hegels benutzt und das andere meint.29
In einem anderen Gedicht wendet sich Novak gegen den totalitären DDR-Staat und weist auf Mechanismen in der Politik hin, die sich in der Geschichte wiederholen und dadurch überzeitlich zu sein scheinen. Wie überraschend es auch sein mag: sie vergleicht den Tod des „Schuldlosen“, Sokrates, mit dem Tod des marxistischen Politikers Nikolaj Bucharin, der infolge der Stalinschen Säuberungen erschossen wurde („Furcht macht einsam“, 1985, GG 531f.). Nicht selten stehen die intertextuellen Bezüge im Zusammenhang mit der Reflexion über die neueste Geschichte Deutschlands, die in verblüffenden Kontexten in ein neues Licht gerückt wird.
Auf den Spruch „Ich weiß, dass ich nicht[s] weiß“, der Sokrates zugeschrieben und in dieser Form bei Cicero (106–43 v. Chr.) in seinem Dialog „Academica“ bezeugt wurde.30 geht die Dichterin noch einmal im kurzen Gedicht „Sinn finden“ [PA 8] ein, dem ein persönlicher Klang verliehen wird. Den chaotischen Gedankenfluss schließt eine philosophische Frage ab:

für wen für alle was sind wir alle
„ich weiß nicht
was ich weiß: ein Ding und nicht ein Ding
Ein Tüpfel und ein Kreis“
[PA 8].

Es wäre irreführend, zu denken, dass man es im Gedicht „Sinn finden“ mit einer direkten Anspielung auf Sokrates zu tun hätte, wie es im Gedicht nahegelegt wird. Es geht hier um eine Paraphrase oder eher ein ungenaues Zitat aus dem Cherubinischen Wandersmann von Johannes Scheffler, einem mystischen Dichter des Barock, der als Angelus Silesius bekannt war, was auch im Gedicht markiert wird. Der Sokrates zugeschriebene Satz („ich weiß, dass ich nicht weiß“) lautet auch bei Silesius anders:

Ich weiß nicht, was ich bin; ich bin nicht, was ich weiß;
Ein Ding und nicht ein Ding, ein Stüpfchen und ein Kreis
.
31

Bei Silesius scheint der Menschenstand auf die negative Theologie bezogen zu sein, in die Selbstdefinition des Menschen und dessen Nichtigkeit Gott gegenüber erst per Negatio entstehen kann, weil Gott unerkennbar ist und nur mit Hilfe der Verneinung definiert werden darf. Dieser menschliche Zustand ist in Novaks Gedicht auf den Sinn der irdischen Existenz und psychische Reaktionen eingeschränkt, wie es vorher im Text signalisiert wird:

Drehbühne im Kopf lebende Bilder Gesichter
das redet auf mich ein das hacke und bohrt
[PA 8].

Fazit
Im poetischen Werk von Helga M. Novak stoßen wir auf Zitate, Textfragmente und Anspielungen auf Bibel und Mythologie, die den intertextuellen Charakter der Lyrik aufscheinen lassen. Die Dialogizität der Lyrik manifestiert sich in der Weise, wie die Autorin literarische Werke, religiöse Motive und philosophische Ansätze aufgreift. Sie ergänzt sie und verleiht ihnen eine neue, aktualisierte Bedeutung. Intertextuelle Bezugnahmen dienen dazu, Ereignisse der neuesten deutschen Geschichte und die sozialistische Realität mit der Kultur und ihren Phänomenen zu konfrontieren sowie die eigene Identität neu zu definieren.
Es sei hinzugefügt, dass die Untersuchung der Intertextualität im poetischen Werk von Helga M. Novak sich nicht nur auf die nachgewiesene Einbettung der Texte in den literarischen oder kulturellen Kontext beschränken soll, denn dieses Phänomen ist nicht nur als „textuelle Transzendenz des Textes“ aufzufassen, sondern auch als „der charakteristische Mechanismus literarischen Lesens“,32 wie Gérard Genette feststellt und wie er nach Michael Riffaterre wiederholt:

Ein Intertext liegt dann vor […], wenn der  L e s e r  Bezüge zwischen einem Werk und anderen wahrnimmt, die ihm vorhergegangen oder nachgefolgt sind“ [hervorgeh. A.K. H.].33

Aus den angeführten Textbeispielen, die den intertextuellen Charakter der Poesie von Helga M. Novak bestätigen sollten, geht hervor, dass sich das Dialogizitätsprinzip im Prozess der Lektüre manifestiert, der sich von den vorliegenden Aussagen der Autorin verselbständigt. Mit dem von Roland Barthes angekündigten Tod des Autors entstehen Möglichkeiten der Interpretation, in denen auch potenzielle Textwirkungen berücksichtigt werden können, die unabhängig von den primären, bewussten oder unbewussten Absichten des Autors/der Autorin, ausgelöst werden.
Eine interessante Gruppe von Texten, die aus räumlichen Gründen in diesem Beitrag nicht besprochen werden konnten, bilden Anspielungen auf die griechische Antike mit ihren Mythen, die im Werk Novaks ebenso stark aktualisiert werden. Griechische Mythen (über Daidalos und Ikaros, Medea, Artemis, Argonautensage), werden von Novak in einen neuen Kontext eingebettet. Auch in diesem Fall kann man von einem Dialog der Dichterin sowohl mit dem europäischen Kulturgut als auch mit den Werken vieler zeitgenössischer Autoren, sprechen.

Agnieszka K. Haas, in Marion Brandt (Hrsg.): Unterwegs und zurückgesehnt. Studien zum Werk von Helga M. Novak. Mit Erinnerungen an die Dichterin. Wydawnictwo Uniwersytetu Gdańskiego, 2017

 

 

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Lebenswege

Die Dichterin Helga M. Novak. Ein Feature von J. Monika Walther

Die verlorene Tochter. Ein Skandal: Helga M. Novak darf nicht nach Deutschland

Ulrich Schäfer-Newiger: Sprache. Freiheit. MelancholieÜber Helga M. Novak als Dichterin.

Utz Rachowski: Wie ich die große Dichterin Helga M. Novak verpasste

Bernd Markowsky: „Wenige haben so viele Grenzen hinter sich gelassen wie wir“

Andreas Reimann: DDR ausprobieren

Hannes Schwenger: „Ich wohne bei der Eule“

Hans Altenhein: Transsibirische Reise

 

 

Zum 70. Geburtstag der Autorin:

Michael Braun: Schöne Verwilde­rung
Neue Zürcher Zeitung, 8.9.2005

Fries, Fritz Rudolf: Versuch einer Liebeserklärung
Neues Deutschland, 8.9.2005

Thomas Poiss: Dichtermut, Dichterjubel
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.9.2005

Zum 75. Geburtstag der Autorin:

Ulf Heise: Anarchin in polnischer Klausur
Märkische Allgemeine Zeitung, 7.9.2010

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Nachrufe auf Helga M. Novak: FAZ ✝ Mitteldeutsche Zeitung ✝
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1 Antwort : Helga M. Novak: Poesiealbum 320”

  1. Redaktion sagt:

    KI verbildlicht Helga M. Novaks Gedicht „Bekenntnis“

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