Henri Meschonnic

Mashup von Juliane Duda zu der Kategorie „adhoc“

adhoc

Wie Felix Philipp Ingold bei einer kurzen Inhaltsrecherche auf planetlyrik.de richtig festgestellt hat, ist der Autor Henri Meschonnic bisher leider nur innerhalb des Artikels zu Oswald Eggers Rhythmusheft des Prokuristen aufgetaucht. Das ändert sich jetzt mit einem Vorspruch von Felix Philipp Ingold und einigen von ihm bisher unpublizierten Erstübersetzungen. Nun kann Henri Meschonnic Spuren auf planetlyrik.de hinterlassen.

 

 

Meschonnic_Ingold

Dass der französische Dichter, Übersetzer und Sprachtheoretiker Henri Meschonnic (1932–2009) im deutschen Sprachbereich noch immer eine unbekannte Grösse ist, steht in eklatantem Gegensatz zum Umfang, zur formalen Vielfalt und thematischen Reichweite seines Werks: Rund zwei Dutzend Lyrikbände, acht Einzelübersetzungen alttestamentlicher Schriften sowie vierzig Sachbücher zur Sprachphilosophie, Dichtungstheorie und Kulturwissenschaft hat er vorgelegt – Summa eines enthusiastisch engagierten Denkens und Schreibens, dessen Impulse (auch in Frankreich) noch kaum genutzt und dessen Erträge noch immer nicht adäquat gewürdigt werden. Grund dafür ist wohl die enge Verquickung von Theorie und Polemik, die sich Meschonnic zueigen gemacht und die er in ständiger frontaler Auseinandersetzung konsequent durchgehalten hat, sei es mit Koryphäen wie Barthes, Derrida, Badiou, Rancière, mit der Pariser Dichterwerkstatt Oulipo und letztlich der französischen Gegenwartsdichtung insgesamt. Zu oft haben seine kritischen Zuspitzungen die von ihm angestrebte Debatte auf persönliche Fehden reduziert und damit vom Sachinteresse abgelenkt – abgelenkt vorab von seinem dichterischen Tun, das man bestenfalls für eine linkshändige Nebenbeschäftigung hielt, derweil er selbst eben darin seine gewichtigste Leistung als Autor zu erkennen glaubte. Felix Philipp Ingold hat 1982 (in der Neuen Rundschau) und 1986 (in der Neuen Zürcher Zeitung) erstmals Gedichte von Henri Meschonnic in deutscher Übersetzung vorgelegt; hier folgt nun, ebenfalls in Erstübersetzung, eine weitere kleine Auslese aus dem Band Puisque je suis ce buisson (Éditions Arfuyen, Paris-Orbey 2001).

 

auch schreiten ist brennen
ohne nachzudenken
und die flammen
man sieht nicht dass sie
von uns sind dass sie aus uns heraus
als wörter kommen sie brennen
wir durch sie
nur durch sie sehn wir
wir sprechen
von feuer zu feuer
näher bei uns
jedes feuer

 

 

und ich weiss nicht höre ich
worte oder schritte die kommen
ob ich auf mich zu oder ob
du in mir und warte
aufs verstehn
es ist wie im gehn zu schlafen und ich
weiss nicht mehr bin ich ein
traum in dir oder du ein traum
in mir und um zu wissen
rede ich
schreite ich

 

 

mehr lärm
in meinem kopf welt
als in den heeren
der sterne

nicht ein schrei
doch eine stille
von so vielen mündern
fern der worten

ich komme
aus diesen mündern
ich schweige
in allen worten

 

 

brennt
brennt
ohne sich zu sehn
ist es das fest
im grund der zeit
am ende der nägel
umso stärker
jeder augenblick zu sein
als der beginn
einer welt

 

 

auch ich
recke meine stimme
zu deinem licht
ich bin vor ort
mehr und
mehr entfernt
ich kehre
ohne worte heim
zu mir zu dir
um unsre
sprache zu sein

weil ich mich du
nenne
vergesse ich nicht
zu leben

 

 

sie ist die schöne zu sehn die
hand und augen
nah den dingen
eine stufe
des sinns
ein geräusch zu
dir hin ich das kraut
ich der baum
der schatten
der aufklart
in deinem blick

 

 

das geschlossne fenster eröffnet
das unsichtbare
durch es hindurch
sieht man ins drüben und kein
offnes fenster
zeigt mir
alles so klar was ich seh

 

 

bisweilen kann ich hören dass ich mein leben
verbringe mein leben das mich erwartet
mich aber schon
kennt
mich erfindet
ich begegne mir in dir
wir sind unsre begegnung
als solche sind wir
gegenwärtig
in jedem augenblick zwischen uns
beginn ich noch einmal

 

 

ich bin nicht immer ich
manchmal bin ich ein baum ein
geräusch ich bin ein baum ein
geräusch in der luft ein luftzug ein flug
schritte
eine wärme in dir
eine flaute
die du atmest

 

 

und die sicht weitet sich und schliesst sich
wie die hände
um eine sonne
eine andre eine andre
sonne

 

 

reisen aber mein gedächtnis
was soll’s da es
allein geht
wohin es will und ein pferd
läuft um
die welt und bleibt
ein pferd

 

 

die augen sind da das gesicht
sieht nach gesicht aus
doch die hände
sind vorm gesicht geblieben
um die augen am sehn
dessen zu hindern was man nicht sehn kann
und diese hände lassen nicht ab
nicht mehr die augen sind’s
die sehn jetzt sind es diese
hände

 

 

Henri Meschonnic, Puisque je suis ce buisson, Éditions Arfuyen, Paris-Orbey 2010

 

 

von dir zu dir

 

 

ich bin schon weit über mich hinaus
in den augenblicksjahren komme ich
uns näher aus dem innern der nacht
wenn
auch der morgen erst eine hellere
nacht ist und du
beim fortgehn dich verjüngst

 

 

ich bin weit gegangen ich
habe nie gesagt dass dies
mein weg sei meine namen verwischen
meine spuren ich muss das kind
nicht weit suchen auf dem foto hebe
die arme meine zehn jahre sind ein weisses
buch

 

 

wir haben unsre fahrt wir haben einzig
unsre wege
wo warst du morgen
zumal man sich heute
nicht mehr sieht

 

 

mein kopf enthält einen vogel
es ist die nachtigall die so viel
gesungen hat und dran gestorben ist
dein schlaf flieht mich nicht
denn du hast sämtliche gesichter

für eine feder gebe ich nicht
einen ganzen vogel her

 

 

ein kind zeigt seine hände
seine finger sind ein kerzenständer
man braucht kein wasser im haus
die hergeschickten waschen
ihre messer mit wasser        wir
gehn durch die östliche mauer
weil sie durchsichtig ist             man
tat nichts andres als hindurchzugehn        meine
worte ähneln mehr einer
vergessnen melodie als mir selbst
ich setze sie mir nicht auf wie die
die unter ihrem grabspruch leben da
sie sich mit ihren worten gleichsetzen          ich
suche nicht nach dem letzten wort ich
spreche weil ich das erste
suche

 

 

eine träne trägt ein kind
mag sein die augen sind geschlossen oder
geöffnet um zu sehn was das gesicht
nicht sehn will
der leib kennt seine ausmasse nicht mehr
mit den augen
die man in der haut hat
lauscht er
den mündern die man nicht hört
gesang ist alles was bleibt vom raum

 

 

viele jahre
hinterlassen bloss
ein paar worte

unserm schweigen näher
als zuvor

 

 

ich erlerne mich nochmals ich enträtsle
sprechen heisst noch und noch geboren werden
womöglich sucht man endlos den anschluss
an seine muttersprache
womöglich erreicht man ihn wenn
das sprechen uns selbst so sehr gleicht
dass ich deine regungen spüre in meinem leib           nur
schon beim hören auf dich

 

 

wie ist gestern
heute nichts als heute

ein wort
und wir sind daheim

ich komme zu mir heim und bin bei dir
denn auf meiner tür sind zwei brüste

 

 

gesichter haben ihr vergessen in uns angehäuft
und wir liebkosen es
in der erinnerung
drumrum

 

 

wie kommt man dazu so weiss zu sein
ich hab zuviel nacht eingenommen sie tritt mir aus der haut
jener sprung von einem lastwagen im sommer
es war ein vorposten der zukunft

 

 

die nacht packt eine koppel schwarzer stiere bei den hörnern
man kann ihren atem spüren
man trickst mit der luft
mit dem raum
um durchzukommen
niemand sonst weiss davon

 

 

mein schlüssel ist grösser als mein schloss
er öffnet was andres als eine tür
er eröffnet einen tag er eröffnet einen markt
er öffnet eine stadt einen augenblick
den wir geteilt haben
es ist ein echter schlüssel gleichwohl
ist er schwer und sehr einfach
doch dieser schlüssel schliesst nichts ab
ich brauch ihn nur zum öffnen

 

 

die landschaften leeren sich
verlieren ihre bäume ihre häuser
derweil jemand sehr schnell spricht
bevor auch den büchern die worte ausgehn
und schwarz ist wie
weiss

 

 

ich hab keine zeit mehr
zum verstehn zum räumen und mich zu erinnern ich
bin ganz ohr
um mich im raum niederzulassen
und ich brauche einzig die geräusche
die man so bewohnt
um keinen tag ohne prophezeiung
hinter sich zu lassen

(Variante : )

ich habe die zeit nicht mehr
zum verstehn zum räumen zum erinnern mir bleibt
nichts als das gehör
um mich in den raum zu finden
und ich brauche einzig die geräusche
denen man innewohnt
um keinen tag ohne weissagung
zu belassen

 

 

ich hab die geschichte nicht begonnen
die ich erzählen wollte
ich hab nach ihr gesucht konnte sie
aber nicht berichten
je mehr ich sie meide desto mehr
steht sie mir bevor

 

 

wenn das ganze leben sich
in sich verknäult
ist man tot

meine worte trag ich mehr in deinem mund
als in mir
das leben ist mit
deinem mund

 

 

man tut sich weh sieht dabei zu
so sehr ist man
eins

 

 

alles was lebt hülle ich
in einen gebetsschal
ich decke mit ihm die strasse zu die tür
ich leg ihn aufs haus
ich leg ihn auf das was
in die liebe einbricht
nur das vergessen behalte ich für mich

 

 

ich geh
das leben altert nicht

 

 

man trägt seine träume hoch auf dem kopf
man blickt vor sich hin
so schreitet man aus im schlaf
allmählich verwandelt man sich
die tage reichen nicht mehr aus
den nächten hat man so viel abgewonnen
dass der blick davon bewahren kann
das zärtliche an den dingen

 

 

Aus dem Französischen von Felix Philipp Ingold nach der Erstausgabe von Henri Meschonnic, «Voyageurs de la voix», Éditions Verdier, Lagrasse 1985.

 

 

die stimme in der stimme

 

 

die augen waren im morgen doch der kopf war von der nacht
wir haben keine erinnerung daran ob’s jeden tag tag wurde
denn es war mehr als nacht mehr als wir zu einer andern
zeit stand das bevorstehende noch nicht bevor es war die offenheit
fürs leben

 

 

das liebreiche licht
und wir mit dem himmel auf der haut
für immer
und für einen tag

 

 

wir wissen nicht was uns geschah am fluss
er gleisst unter einer sonne die nie mehr untergeht
oder was sie aus uns gemacht hat je wenn wir das bild sind
und die landschaft sich ergiesst
die augenblicke ohne zukunft
tragen uns
und was man sich nicht zu sagen wusste
überbietet jäh die worte die mehr geben als man nehmen kann
es ist die falte die geblieben von einem gedicht im mundwinkel
der büste von Ronsard1
die liebe glatt wie eine statue
sie hält inne auf den plakaten sie setzt unsern fingern augen auf
und finger über die beine hin
sie bewegt die rote und die andern schönen die sich einlassen
sie wühlt die nacht auf die blüht den mond und die sternenherden
bringt den turm zum fliegen die vögel durchs fenster
derweil die wissenden wissen was
von poesie

 

 

wir entstammen nicht der gleichen familie
wie die gezeiten
doch stammen wir von der quelle deren fluss wir sind
mit dem steuermann
in seinem boot aus papier
wenn die welt das licht ist
sind wir die welt
nacht bei tag tag bei nacht
gewiegt gewiegt vom meer

 

 

wenn der blick liebe macht
so deshalb weil das licht
die materie der liebe ist
und weil der mensch und das licht
als eins und dasselbe sich wiederfinden

 

 

selbst wenn wir so nackt sind wie
die nacht
sind nicht wir
die kraft sondern
das schweigen zwischen uns

 

 

hab ich nicht zuviel erinnerung
an das vergessene
ich du wer mich ihm angleicht
durchquert’s
unsre adresse
das vergessene sagt
mehr als das erinnerte

 

 

ein abstand
ersetzt
eine stimme
eine unbekannte welt
hebt an

 

 

die toten die wir unter
den lidern tragen
wissen nicht dass sie tot sind
sie gehen durch uns hindurch die wüste
und die wanderung
auch uns hat man durchquert
eine nacht die keiner andern gleicht
weil sie uns durchquert
so ist’s seitdem
die zeit unseretwegen humpelt
und unsre worte der
durchgang sind und du hast’s gesagt
ich bin deine zukunft
wir leben von mund zu mund

 

 

ich rede weil mir die worte fehlen
nicht dass mir die worte fehlten um die dinge zu benennen
sondern weil im innern eines jeden worts
in mir ein schweigen anhebt
der mangel an worten bin ich selbst
ich rede gegen das orakel das mich trifft
wenn ich zuviel weiss bin ich verloren
ich darf nicht hören um zu hören
dass du aufstehst dass du dich fortbewegst in dem was ich sage
und ich halte still um dir zu folgen ich lausche doch da bist du nicht
ich will dieses schweigen erfüllen es quert die sprache
es ist da nur wenn ich spreche
meine worte haben sinn nur dann wenn
sie ihm raum bieten dem deinen meinen
in dem was sie nicht sagen
nur deshalb reden wir dir raum zu bereiten
jedes ding zu sagen damit es dich erwarte
solang du nicht zu hause bist auch in den worten für andre
jene die dich nicht empfangen
reden und sagen aber nichts
du verbleibst in all meinen worten du

 

 

im bauch ein tumult
eine meute die schweigt
ein cello
hingestreckt am boden

 

 

ein passant
mit einer orange in der hand
enger raum wieviele
worte zwischen uns und diese
leere in uns mehr als die worte

 

 

der schnee fiel in dunklen
flecken auf den weissen himmel herab
wir traten aus einem gedenken heraus
das lachen verlor seinen mund

 

 

ein gesicht die augen
haben keinen raum mehr
für den tag

eine stimme im kopf
wie ein wenig schnee
in der hand

doch eine erinnerung ist das nicht
weil es in unserm leib
überall ist

was weint
ist immer nur der name
den man nicht ausspricht

 

 

alles führte zum heute hin
doch vergesse ich aus welchem jahr
kommt der tag komm ich zum tag
eine maske trägt für mich
den bart
und all meine köpfe
sind für dich

 

 

wir waren auf reisen
weil wir nicht als die selben
zurückgekehrt sind und
weil unsre rückkünfte auch
abreisen sind
denn sie eröffnen
schriften die in uns mehr lesen
als wir in ihnen
sie halten uns jung von zeitalter zu zeitalter
sie die wir hergetragen haben
aus grösserer nähe aus grösserer ferne
als China

 

 

unsre augen lassen bloss
die flucht des sichtbaren zu
sie halten das licht zurück
das in uns zu zeit gerinnt
über uns schliessen sie sich
wenn sie verwandeln was uns lieb war
unsre materie
jetzt
so unsichtbar
dass alle dinge die man zu sehn bekommt
nur noch anspielungen sind
das ist der grund weshalb man
nichts mehr beschreiben kann

 

 

Henri Meschonnic, «Nous le passage», Éditions Verdier, Lagrasse 1990; aus dem Französischen von Felix Philipp Ingold.

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