Hermann Burger: Zu Erika Burkarts Gedicht „Flocke um Flocke“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Erika Burkarts Gedicht „Flocke um Flocke“ aus Erika Burkart: Die Transparenz der Scherben. –

 

 

 

 

ERIKA BURKART

Flocke um Flocke

EINE
Flocke,
hexagonal,
der sechste Sinn freut sich
am Signum eines Gesetzes,
das über unser Auge Bescheid weiß:
wir lieben es, einen Stern zu sehn.

Fünf Sterne. Elf.
Siebzehn mit ihrer Zahl
identische Flocken.

Mit geschlossenen Augen
zählen wir weiter.
Flimmerpunkte, pulsierendes Dunkel,
bis uns die Un-Zahl hinabschlingt.

Flocke zu Flocke auf Flocke.
Unterm Schnee dieser Nacht
der Schnee der Kindheit.
Im Schlaf gräbst du dich durch.

Wirklichkeit Schnee,
wenn du erwachst.
Abstrakte Fülle. Du tauchst.

Durch weiße Wimpern siehst du
die Wasserzeichen
in deinen Jahren.

 

Spuren im Schnee

Erika Burkart, Jahrgang 1922, ist in der Schweiz eine bekannte Lyrikerin. Seit über dreißig Jahren publiziert sie mit stiller und zäher Beharrlichkeit ihre Gedichtbände, zuletzt Sternbild des Kindes (1984). Zurückgezogen lebt sie in der einstigen Sommerresidenz der Äbte des Klosters Muri im Kanton Aargau.
Man spricht deshalb gerne von Naturlyrik und sieht sie in der Tradition Annette von Droste-Hülshoffs. Näher scheint mir die Hieroglyphik eines Günter Eich zu liegen, denn Erika Burkart ist, wie das Gedicht „Flocke um Flocke“ aus dem Band Die Transparenz der Scherben von 1973 zeigt, weit davon entfernt, in pseudomystischer Schwärmerei die Natur zu verherrlichen.
Zwar ist es ein Wintergedicht und somit nicht zuletzt ein Stimmungsbild, aber es spricht auch vom „sechsten Sinn“ des Poeten, der das Übersinnliche wahrnimmt. Die Lyrik dieser Autorin ist erfüllt vom Zauber der Elementargeister, Kobolde sind ihr ebenso vertraut wie die Geister der Bäume und Fluren. „Elfen“, sagt Erika Burkart einmal, „sind Energien der Seele“. Wie Merlin ist sie eingeweiht in die Geheimnisse der Natur, vermag sie die Nebelschemen und die Verzierungen des Rauhreifs zu lesen.
Der Mystiker Jakob Böhme sagt:

Ein jedes Ding hat seinen Mund zur Offenbarung.

Wilhelm Lehmanns berühmtes Gedicht „Signatur“ sieht in den Tierspuren die Geheimschrift der Kreatur. Wenn sie der Dichter zu entziffern weiß, braucht er nicht mehr besorgt zu sein um den „Sinn“ seines Daseins. Hier knüpft Erika Burkart an, doch sie kehrt Goethes „Wär nicht das Auge sonnenhaft, / die Sonne könnt es nie erblicken“ um: weil im Buch der Natur auch der Schlüssel zu unseren Sinnesorganen liegt, können wir, selbst mit geschlossenen Augen, die Ideogramme erkennen. Da wir von der hexagonalen Flocke „verstanden“ werden, lieben wir die Sterne. Nicht umsonst ist das Wort „EINE“ in Großbuchstaben gesetzt: das einzelne steht für das Ganze, der Mikrokosmos für den Makrokosmos.
Doch dann flimmert das mathematisch Umgrenzte, wird zur „Un-Zahl“ und schlingt uns hinab. Unter der weißen Decke liegt der Altschnee der Kindheit, im Schlaf, im Traum gräbt man sich durch bis zu den tiefsten Schichten. Kindheit und Märchen sind bei Erika Burkart oft Synonyme, erwachsen werden heißt in die Verbannung gehen. Der Träumende ist seinem Ursprung näher, doch im Erwachen wird er mit der „abstrakten Fülle“ konfrontiert.
„Abstrakt“ will sagen: vom Sinnlichen abgezogen. Indem das Ich „taucht“, wird es zu einer Art Schneenixe, worauf die weißen Wimpern deuten. Man denke an Ingeborg Bachmanns Gedicht „Nebelland“, an die Verwandlung der Geliebten in eine winterliche Dryade. Erst wenn sich das Ich mit dem Element vermischt hat, entschlüsselt es die eigene Signatur, die „Wasserzeichen“ in den Jahren. Nun heißt „signum“ nicht nur Merkmal, Zeichen, sondern auch Bildnis, Figur. So wäre denn der von der Flocke Inspirierte auch fähig, die abstrakte Fülle umzusetzen. Spuren im Schnee, eine alte Metapher für das poetische Wort. Lauschen, sagt Erika Burkart im Poem „Dazwischen“, sei ein Gespräch mit dem Schweigen, Gedichte seien „Grade des Schweigens“. Bei Paul Celan („Mit wechselndem Schlüssel“) treibt das Wort im „Schnee des Verschwiegenen“.
„Flocke um Flocke“ spricht vom Erkanntwerden und Erkennen, vom Lesen und Erzeugen der Schrift. Unverwechselbar eigen aber ist Erika Burkart der „sechste“ Sinn für das Kleine und Kleinste, ihre Fähigkeit, die Natur so zu erleben und zu verwandeln, als sähe sie alles zum ersten Mal. Von einem Mann, der irgendwo im Gelände steht, sagt sie in „Homo faber“, ist alles zu erwarten: daß er eine Siedlung planen, eine Schnellstraße legen, einen Bach zubetonieren will. „Gesetzt“, fragt die Dichterin mit einem Funken Hoffnung uns Technokraten, „er schaute sich einfach ein Gras an“?

Hermann Burgeraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zehnter Band, Insel Verlag, 1986

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