Hermann Kasack: Poesiealbum 291

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Hermann Kasack: Poesiealbum 291

Kasack/Gramatte-Poesiealbum 291

WEG DES LEBENS

Ich stieg die Treppenstufen in mein Zimmer,
Mit jedem Schritt versank ein Jahr.
aaaAm Boden lag in trübem Schimmer
aaaDie Zeit wie ausgebleichtes Haar.

Ein zweites Dasein brach aus seiner Hülle,
Schon nicht mehr ich – glich es mir an Gestalt.
aaaEs war der Tisch, der Stuhl – des Raumes Fülle,
aaaMit Flügeln jung, an Wissen alt.

Der Schatten sprach: „Mein ist die Dauer,
Und dein des Lichtes kurzes Weilen.
aaaDer Tod liegt deinem Leben auf der Lauer,
aaaDu bindest dich umsonst mit Narrenseilen.“

Wes Hände sind es, die ins Leere schrecken?
Ich legte sie nicht müßig in den Schoß.
aaaDie Welt der Träume kann nur Bilder wecken,
aaaDoch spricht sie mich von meinem Tage los.

Brenn ich auch niederer als eine Kerze,
Vom Schicksal in die Einsamkeit gestellt:
aaaSo hab ich doch das Reich der Schwärze
aaaFlüchtig an seinem Rand erhellt.

 

 

 

Stimmen zum Autor

Er brachte vier wunderbare Gedichte mit… Ich bin glücklich, wenn sich der Vorrat des Bleibenden vermehrt.
Oskar Loerke

Kasacks Lyrik zeigt eine ebenso eigenwillige Prägung wie sein Roman. Visionäre Kraft, ursprüngliche Schau verschmelzen mit dem lebendigen Wissen um die Schätze abendländischer und fernöstlicher Kulturen zu einer vollendeten Klassik der Form und des Gedankens, wie sie kaum ein anderer deutscher Lyriker der Gegenwart besitzt. Schon als jugendlicher Expressionist fiel er der damaligen Kritik auf wegen der Zucht seiner Rhythmen, der Klarheit seiner Bilder.
F.W. Müller

Wie oft habe ich abends zur Labsal die Wasserzeichen in die Handgenommen! Die kurzen Gedichte strömen eine unvergleichliche Ruhe aus; es sind Keimzellen von weitausschwingenden Gedanken, Konzentrate nicht des eigenen, leidgeprüften Schicksals, sondern des Schicksals einer ganzen Zeit, und jeder fühlt sich – betroffen und beglückt – in ihnen widergespiegelt und aufgehoben.
Robert Minder

Das Chinesische Bilderbuch hat mich entzückt. Kasack ist so gelöst und selbstverständlich darin, daß der Leser an der Verzauberung unversehens teilhat. In diesen Versen wohnt – mitten in der Zerstörung der Zeit – Leben und Glück.
Günter Eich

MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2010

Poesiealbum 291

Zwischen fernöstlichen Tuschezeichnungen und der wohlgeordneten Abfolge antiker Tempelsäulen spannt sich schon früh der Bogen von Kasacks Lyrik, grenzgängig zum Jenseitigen und zugleich mit wachem Blick auf die Abgründe des Diesseits. Sein sich auch durch die Katastrophen des 20. Jahrhunderts verändernder Lebensrhythmus wird in den Gedichten unmittelbar spürbar, die üppig dahinfließende Sprache der jungen Jahre stößt sich an Widerständen, verstummt nahezu, versucht sich verzagend am Unsagbaren und findet, noch zweifelnd, mit leisen Worten aus der Starre.

MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2010

 

Beitrag zu diesem Buch:

Gerold Paul: Ohne Prickeln
Potsdamer Neueste Nachrichten, 26.2.2011

 

Denktraum

Ich besuchte Hermann Kasack Anfang der sechziger Jahre zweimal in Stuttgart. Am deutlichsten in Erinnerung geblieben ist mir seine Begeisterung für das Schachspiel. Er sprach – so die Notiz in meinem Tagebuch – über das Ineinander von Denken und Phantasie, das dafür notwendig sei. Wichtig schien ihm die Tatsache, daß keine Schachpartie eine frühere wiederhole. Vergleichbar sei sie einem Dialog. Anders als im Kartenspiel hätten die Spieler alles vor Augen. Dem gegenwärtigen Augenblick seien sie mit ihren Überlegungen immer voraus. In ihrer Versunkenheit ähnelten sie Somnambulen oder Fakiren. Ihre Besessenheit rühre her von dem Wissen, daß jeder Zug unwiderruflich sei. Sie folgten nur – auf dieses Wort lief alles hinaus – ihrem Denktraum. Mit seiner gedämpften Stimme wiederholte er es, nahm einen Augenblick seine Brille ab, sagte: Sie glauben nicht, wieviel mir dieses Spiel bedeutet hat.
Zum Abschied gab er mir – unter dem Titel Antwort und Frage – ein Heft, einen Privatdruck mit dreizehn Gedichten, den ihm die Akademie zu seinem fünfundsechzigsten Geburtstag zugedacht hatte. Das darin enthaltene Gedicht „Zustand“ endet mit den Zeilen:

Sprachlos stehst du, ohne Laut,
Tappst durch Schrunden und durch Risse
langsam in das Ungewisse,
Deiner selbst schon nicht mehr kenntlich.

Walter Helmut Fritz, aus Walter Helmut Fritz: Offene Augen, Hoffmann & Campe Verlag, 2007

 

HERMANN KASACK
Treppenstufenruf

Ich zähle die Bisse
Ich messe die Zeit
Das Rot ist verloren
Ich höre die Schritte
Ich stoppe die Uhr
Das Rot ist verloren
Ich höre es klopfen
Ich bin wohl bereit
Das Rot ist verloren
Ich zähle die Bisse
Ich fletsche die Zähne

Peter Wawerzinek

 

 

Fakten und Vermutungen zum Poesiealbum + wiederentdeckt +
Interview
50 Jahre 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Kalliope

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00