Hermann Wallmann (Hrsg.): Als ihr Alphabet mich in die Hand nahm

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Hermann Wallmann (Hrsg.): Als ihr Alphabet mich in die Hand nahm

Wallmann (Hrsg.)-Als ihr Alphabet mich in die Hand nahm

Annäherungen aus Annäherungen,
Annäherungen über Annäherungen
Annäherungen ins Leere oder
aaaaaAnnäherungen, welche die Leere
erst schaffen.
Was nicht
und zwar in keinem Fall
eine an sich
schlechte
Sache ist

Caius Dobrescu: Fragmente über das Übersetzen

 

 

 

Vorwort

Die Beschäftigung mit Literatur hat in Münster eine gewachsene Tradition, die sich in einer ausgeprägt lebendigen literarischen Szene vergegenwärtigt – sowohl im Hinblick auf die Produktion als auch im Bereich der Vermittlung. Seit Jahrzehnten schließt dies die Auseinandersetzung mit Literaturen anderer Länder ein.
Mit dem seit 1979 im Biennale-Rhythmus durchgeführten Internationalen Lyrikertreffen hat Münster auf diesem fruchtbaren Boden eine der wichtigsten literarischen Veranstaltungen in Deutschland ins Leben gerufen. Lesungen, Vorträge und Gespräche schaffen fruchtbare Begegnungen zwischen dem Publikum und den Autoren, Lyrikerinnen und Lyrikern, Literaturwissenschaft und Schule.
Im Rahmen dieses Lyrikertreffens wird seit 1993 der Preis der Stadt Münster für Europäische Poesie verliehen. Mit dem Preis wird nicht nur das literarische Werk, sondern auch dessen Übersetzer ausgezeichnet – zu gleichen Teilen. Die Kombination eines Internationalen Lyrikertreffens mit einer Preiskonzeption, die den Übersetzer gleichrangig mit dem Autor würdigt, ist in Deutschland einmalig.
Anlässlich seiner zehnten Verleihung wird der „Einzugsbereich“ des Preises über die Grenzen Europas hinaus erweitert; er heißt jetzt Preis der Stadt Münster für Internationale Poesie. So kann er auf die politische Globalisierung eine weltliterarische Antwort geben.
Die Idee, einen Gedichtband zusammen mit seiner Übersetzung zu würdigen, verfolgt das Ziel, wichtige zeitgenössische fremdsprachige Lyrik in kongenialer Übersetzung ins Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit zu heben und Literatur in ihrer Brückenfunktion für das Verständnis fremdsprachiger Nationen zu zeigen.
Ich freue mich, dass das gewohnt facettenreiche und qualitativ hochwertige Programm anlässlich des diesjährigen Jubiläums nicht nur von einem vielfältigen Rahmenprogramm begleitet wird, sondern mit der vorliegenden Jubiläumspublikation die Tradition des Preises ebenso nachhaltig sichtbar gemacht wird wie seine neue Perspektive.
Der Rückblick auf die gewürdigten Lyriker und Lyriker und Lyrikerinnen sowie ihre Übersetzerinnen und Übersetzer stellt nicht nur eine erstmalige und einzigartige Zusammenstellung bisher zum Teil unveröffentlichten Materials dar, sondern spiegelt zudem die gesellschaftliche Relevanz der Lyrik und ihrer Übersetzung im Wandel der Zeit. Junge Talente und große Namen – sowohl unter den Dichtern als auch unter den Übersetzern – haben die Chronik seit der ersten Preisverleihung geprägt und der internationalen Veranstaltung ihr Gesicht gegeben.
Dem diesjährigen Preisträger Ben Lerner und seinem Übersetzer Steffen Popp, die für den Gedichtband Die Lichtenbergfiguren geehrt werden, möchte ich auch an dieser Stelle gratuIieren und der Jury und ihrer Vorsitzenden Beate Vilhjalmsson – in ihrer Funktion als Vorsitzende des Kulturausschusses – meinen Dank aussprechen. Dem künstlerischen Leiter des Lyrikertreffens, Hermann Wallmann, und allen engagierten Partnern und Förderern, dem Kulturamt und dem Literaturverein Münster als Veranstaltern gilt ebenso mein herzlicher Dank.

Markus Lewe

Die eine und die andere Seite der Poesie

„1.200 Jahre Münster“ – mit dem Stadtjubiläum im Jahr 1993 verbinden sich drei „Einrichtungen“, die aus dem kulturellen Leben der Stadt nicht mehr wegzudenken sind, und sie alle haben etwas mit Literatur zu tun – und sie alle stehen einer Stadt gut an, in der 1648 schwierigste Verhandlungen nur deswegen erfolgreich beendet werden konnten, weil es den Leitsatz „audiatur et altera pars“ gegeben hat – und Übersetzer…

Da ist zum einen der inspirierte zweiflügelige Neubau der Stadtbücherei am Alten Steinweg, da ist zum anderen – auf dem Platz des Westfälischen Friedens – die von dem baskischen Bildhauer Chillida geschaffene Skulptur Toleranz durch Dialog – mit ihrer so geistreichen wie sinnlichen Anspielung auf Goethes Gingo Biloba-Gedicht aus dem Westöstlichen Divan. Und da ist schließlich der Preis der Stadt Münster für Europäische Poesie, eine Auszeichnung, die zu gleichen Teilen einem Gedichtband und der Übersetzung dieses Bandes gilt – in dieser Form nach wie vor ein einzigartiger Preis, der eben auch die andere Seite eines Gedichtbandes würdigt. Als Vorsitzender des Literaturvereins Münster, der 1993 die Durchführung des Lyrikertreffens von der verdienstvollen Annette-von-Droste-Hülshoff-Gesellschaft übernahm, hatte ich – zusammen mit Norbert Wehr – diesen Preis dem damaligen Kulturdezernenten und Stadtdirektor Hermann Janssen vorgeschlagen, der die Idee sofort aufnahm und mit großem Elan umsetzte. Es ist ein Preis, der längst zu einem integralen Bestandteil des Lyrikertreffens geworden ist, das erstmals im Jahr 1979 stattfand und seither alle zwei Jahre internationale Dichter und Dichterinnen in Münster versammelt.

In diesem Jahr wird der Preis zum zehnten Male verliehen, und es ist dieses Jubiläum, das die Stadt Münster veranlasst hat, den Geltungsanspruch und Wahrnehmungsbereich des Preises über Europa hinaus auszuweiten – auch weil Europa in dieser globalisierten Welt bisweilen schon Gefahr zu laufen droht, ein Ausgrenzungsbegriff zu sein. Er heißt jetzt: Preis der Stadt Münster für Internationale Poesie.
Dieser Wendepunkt ist jetzt ein Anlass, auf die Geschichte des Preises zurückzublicken. Wir tun das in Form einer Dokumentation, die zwar auch die Gedichte und Übersetzungen der Preisträger in Erinnerung ruft, insbesondere aber jene Texte zugänglich machen möchte, die in der Regel erst zum Festakt vorliegen und danach nur selten einmal vollständig veröffentlicht werden: die Laudationes. Wo die Gedichtbande der ausgezeichneten Lyrikerinnen und Lyriker zumindest in Bibliotheken noch zugänglich sind, ist es umso bedauerlicher, dass ausgerechnet diese Texte unveröffentlicht bleiben, die ja nicht nur einen Autor und einen Übersetzer „loben“, sondern auch jeder für sich – einen neuen Baustein für die Theorie und Praxis der Lyrikübersetzung liefern – und bisweilen auch Facetten einer ungeschriebenen Literaturgeschichte oder Werkgeschichte.

Der große argentinische Schriftsteller – und Übersetzer – Jorge Luis Borges (1899–1986) hat im Jahr 1968 an der Harvard-Universität einen universal belesenen Vortrag gehalten mit dem Titel Wortmusik und Übersetzung. Auch dieser Vortrag wäre für die Nachwelt verloren gewesen, hätten sich nicht zufällig Tonbänder gefunden, die eine Transkription ermöglichten. Ein Auszug aus diesem Vortrag sei dieser Dokumentation vorangestellt – auch weil der erblindete Borges ein besonders gutes Ohr hatte für die Musik der (übersetzten) Wörter…

Hermann Wallmann

 

Die belebenden Farben der Fremdheit

– Kurzer Bericht aus dem Innenleben der Poesiepreis-Jury. –

Ein besonders hässliches Gerücht über die Arbeit von Literaturjurys besagt, dass dort die Korrumpierbarkeit der Mitwirkenden fast noch höher ist als in vergleichbaren Institutionen im politischen Raum. Wem je die Ehre zuteil wurde, als Autor, Journalist, Kritiker, Lektor, Übersetzer oder Verleger in eine Literaturjury berufen zu werden, der hat die Tücken dieser Arbeit kennengelernt. Kontraproduktiv sind nämlich die vorab gefassten Urteile, die Einstufung der Preiskandidaten nach dubiosen Wert-Hierarchien und Rankings, die uneingestandene Protektion von Autoren, denen man sich aus Freundschaft verpflichtet fühlt oder auch die opportunistische Favorisierung von Schriftstellern, die der Literaturbetrieb gerade als neue Lieblinge in Umlauf gebracht hat.
Die Primärtugend eines Literaturjurors bemisst sich aus meiner Sicht an seiner Fähigkeit, sich an rein textimmanenten Qualitätskriterien zu orientieren – und nicht an machtstrategischen Überlegungen oder gar an generösem Gefälligkeitsdenken. Selbst der seriöseste Juror gerät manchmal in Versuchung, die Originalität einer Preisträger-Findung über die strenge Qualitätsprüfung zu stellen und sich aus Eitelkeit für einen relativ unbekannten Kandidaten zu entscheiden, um dadurch literarische Distinktionsgewinne einzuheimsen. Mit all diesen Fallstricken hat zu rechnen, wer sich in den Prozess einer kollektiven Entscheidungsfindung in einer Literaturjury hineinbegibt.

Im Rückblick auf rund zwanzig Jahre Mitarbeit in der Jury des von der Stadt Münster eingerichteten Preises für Internationale Poesie und ihre Übersetzung darf ich von einer glücklichen Erfahrung berichten: Denn die äußerst schädlichen Denkfaulheiten, Bequemlichkeiten und Opportunismen, die ich durchaus in einigen literarischen Entscheidungsgremien dieses Landes kennengelernt habe, sind mir in der Jury des münsterschen Preises nie begegnet. Stattdessen sind mir dort Kolleginnen und Kollegen begegnet, die unprätentiös, mit viel Esprit und Witz etwaige Laxheiten im literarischen Werturteil umgehend mit guten Argumenten korrigierten. Sofern vorab gefasste Gewissheiten in die Diskussion eingeschmuggelt wurden, dauerte es nicht lange, bis diese demontiert waren.

Für alle Beteiligten ermöglichte die sorgsame, über viele Stunden sich erstreckende Entscheidungsfindung auch einen Lernprozess. Denn die eigenen Argumente und Maximen hatten sich hier in einer am Einzeltext geführten Diskussion zu bewähren. Wer unbemerkt Ressentiments gegenüber bestimmten Texten oder Autoren mitschleppte, wurde sehr bald über die eigenen intellektuellen Scheuklappen aufgeklärt.
In der Gründungsjury des Preises für Europäische Poesie und ihre Übersetzung saßen sich 1992 sehr unterschiedliche Temperamente gegenüber: der Lyriker, Übersetzer und Anthologist Joachim Sartorius, die Übersetzerin Renate Birkenhauer (heute Vizepräsidentin des Übersetzerkollegiums in Straelen), der Literaturkritiker und Lyriker Harald Hartung, der Zeitschriftenherausgeber und Hörfunkautor Norbert Wehr und der Literaturkritiker Michael Braun. Später, nach einem Wechsel in der Jury-Besetzung, kamen die Literaturkritikerin und Essayistin Cornelia Jentzsch, der Lyriker und Poesie-Performer Urs Allemann und der Dichter, Übersetzer und Zeitschrifteneditor Johann P. Tammen hinzu.
Die Jury hat ja die Aufgabe, die Poesie und ihre Übersetzung in gleichem Maße und identischer Wertigkeit zu berücksichtigen. Ein nicht ganz leichtes Unterfangen, da von keinem Juror eine universelle polyglotte Sprachkompetenz erwartet werden kann. Und so kam es immer wieder zu hilfreichen Ernüchterungen. Etwa wenn ein Juror allzu naiv von der Großartigkeit eines großen europäischen Poeten zu schwärmen begann und Frau Birkenhauer dann en detail die Schwächen der Übersetzung bloßlegte. So entwickelte sich von Beginn an in reizvoller Widerstreit zwischen unterschiedlichsten Qualitätskriterien und Übersetzungskonzepten.
Bereits bei der Premiere des Preises, der 1993 dem damals in Deutschland kaum bekannten italienischen Dichter Andrea Zanzotto und seinen Übersetzern Donatella Capaldi, Ludwig Paulmichl und Peter Waterhouse zugesprochen wurde, gehörte es zu den grundlegenden Erfahrungen, dass man sich in Sachen Poesie und ihrer Übersetzung nicht auf irgendwelche Routinen der Urteilsbildung verlassen kann. Denn gerade im Fall von Andrea Zanzotto verfocht sein Übersetzer Peter Waterhouse eine sehr eigenwillige Übersetzungstheorie. „Große Übersetzungen“, schrieb Waterhouse, „dienen der Kreolisierung (Echoisierung) von Sprachen.“ Das war eine radikale Auslegung von Wilhelm von Humboldt, dass eine gute Übersetzung „eine gewisse Farbe der Fremdheit in sich“ trägt. Mit diesen belebenden Farben der Fremdheit hat sich die Jury des Preises für Internationale Poesie und ihre Übersetzung ebenso zu beschäftigen wie mit den so irritierend heterogenen Stimmen der modernen Dichtung unserer Tage. Es gibt für unsere Jury dabei keine schnellen Erkenntnismechanismen, es gibt keine hilfreichen Schemata, keine abrufbaren Gewissheiten. Es gibt nur das tastende, suchende, zu Selbstkorrekturen bereite Gespräch über Dichtung.

Michael Braun

 

Inhalt

– Markus Lewe, Oberbürgermeister der Stadt Münster: Vorwort

– Hermann Wallmann: Die eine und die andere Seite der Poesie

– Jorge Luis Borges: Wortmusik und Übersetzung (Auszug)

– Michael Braun: Die belebenden Farben der Fremdheit.
Kurzer Bericht aus dem Innenleben der Poesiepreis-Jury

– Preis der Stadt Münster für Europäische Poesie 1993
Andrea Zanzotto & Donatella Capaldi, Ludwig Paulmichl, Peter Waterhouse

– Preis der Stadt Münster für Europäische Poesie 1995
Inger Christensen & Hanns Grössel

– Preis der Stadt Münster für Europäische Poesie 1997
Zbigniew Herbert & Klaus Staemmler

– Preis der Stadt Münster für Europäische Poesie 1999
Gellu Naum & Oskar Pastior

– Preis der Stadt Münster für Europäische Poesie 2001
Hugo Claus & Maria Csollány, Waltraud Hüsmert

– Preis der Stadt Münster für Europäische Poesie 2003
Miodrag Pavlović & Peter Urban

– Preis der Stadt Münster für Europäische Poesie 2005
Daniel Bănulescu & Ernest Wichner

– Preis der Stadt Münster für Europäische Poesie 2007
Tomaž Šalamun & Fabjan Hafner

– Preis der Stadt Münster für Europäische Poesie 2009
Caius Dobrescu & Gerhardt Csejka

– Preis der Stadt Münster für Internationale Poesie 2011
Ben Lerner & Steffen Popp

 

Kurzbeschreibung

Der Preis der Stadt Münster für Internationale Poesie wird 2011 zum 10. Mal verliehen. Der Band stellt die 10 Autor(innen) und ihre Übersetzer(innen) vor. Biografische Daten, zweisprachige Gedichtbeispiele, Jurybegründungen und die jeweiligen Laudationes vermitteln ein komplexes Bild von diesem bedeutenden deutschen Literaturpreis.Im Rahmen dieses Lyrikertreffens Münster wird seit 1993 der „Preis der Stadt Münster für Europäische Poesie“ verliehen. Mit dem Preis wird nicht nur das literarische Werk, sondern auch dessen Übersetzer ausgezeichnet zu gleichen Teilen. Die Kombination eines Internationalen Lyrikertreffens mit einer Preiskonzeption, die den Übersetzer gleichrangig mit dem Autor würdigt, ist in Deutschland einmalig.
Anlässlich seiner zehnten Verleihung wird der Wirkungsbereich des Preises über die Grenzen Europas hinaus erweitert; er heißt jetzt Preis der Stadt Münster für Internationale Poesie.
Mit der vorliegenden Jubiläumspublikation wird die Tradition des Preises ebenso sichtbar gemacht wie seine neue Perspektive.
Der Rückblick auf die gewürdigten Lyriker und Lyrikerinnen sowie ihre Übersetzerinnen und Übersetzer stellt nicht nur eine erstmalige und einzigartige Zusammenstellung bisher zum Teil unveröffentlichten Materials dar, sondern spiegelt zudem die gesellschaftliche Relevanz der Lyrik und ihrer Übersetzung im Wandel der Zeit. Junge Talente und große Namen sowohl unter den Dichtern als auch unter den Übersetzern haben die Chronik seit der ersten Preisverleihung geprägt und der internationalen Veranstaltung ihr Gesicht gegeben.

Daedalus Verlag, Ankündigung

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope

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