Hilde Spiel: Zu Hugo von Hofmannsthals Gedicht „Manche freilich…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hugo von Hofmannsthals Gedicht „Manche freilich…“ aus Hugo von Hofmannsthal: Die Gedichte und kleinen Dramen. –

 

 

 

 

HUGO VON HOFMANNSTHAL

Manche freilich…

Manche freilich müssen drunten sterben,
Wo die schweren Ruder der Schiffe streifen,
Andre wohnen bei dem Steuer droben,
Kennen Vogelflug und die Länder der Sterne.

Manche liegen immer mit schweren Gliedern
Bei den Wurzeln des verworrenen Lebens,
Andern sind die Stühle gerichtet
Bei den Sibyllen, den Königinnen,
Und da sitzen sie wie zu Hause,
Leichten Hauptes und leichter Hände.

Doch ein Schatten fällt von jenen Leben
In die anderen Leben hinüber,
Und die leichten sind an die schweren
Wie an Luft und Erde gebunden:

Ganz vergessener Völker Müdigkeiten
Kann ich nicht abtun von meinen Lidern,
Noch weghalten von der erschrockenen Seele
Stummes Niederfallen ferner Sterne.

Viele Geschicke weben neben dem meinen,
Durcheinander spielt sie alle das Dasein,
Und mein Teil ist mehr als dieses Lebens
Schlanke Flamme oder schmale Leier.

 

 

Uralte Müdigkeiten

Er war einundzwanzig oder zweiundzwanzig, als er diese Verse schrieb, ein erleuchteter junger Mensch, eben erst aus der Vermummung des „Loris“ geschlüpft, in die er sich hatte hüllen müssen, weil dem Gymnasiasten das Publizieren verboten war. Frühgereift und zart und traurig, wie er in der Vorrede zur Schnitzlers Anatol schrieb. Schon vor Jahren hatte er bekannt, er sei „alles Feinen, Subtilen, Zerfaserten, Impressionistischen, Psychologischen recht müde“. Aber woraus bestand denn seine „Nervenkunst“, wenn nicht aus einer diffizilen Neubelebung klassischer Formen, aus neoromantischen Gefühlsinhalten, aus einem den Symbolisten entlehnten, von Wildeschen Wortjuwelen glitzernden Vokabular? Die letzte Dekade des neunzehnten Jahrhunderts war überladen mit Ornamenten, historisierenden Elementen, sinnlosem Bric-à-brac wie ein plüschener Makart-Salon. Undenkbar, daß dergleichen in Hofmannsthals Lyrik nicht Eingang gefunden hätte. Und doch gibt es Gedichte, in denen nahezu alle selbstgefälligen Ästhetizismen ausgemerzt sind, die nur Empfindung atmen, nur die komplizierte Seelenhaltung wiedergeben, der dieser Nachfahr grundverschiedener Familien und Geschlechter ausgeliefert war. „Manche freilich…“ ist ein solches Gedicht. Es erfaßt jenen Widerspruch zwischen dem Schwerblütigen und dem Leichtlebigen, den Hofmannsthal immer in sich trug und dem er zu der Zeit, als er es schuf, in seiner Umgebung allenthalben begegnen mußte.
Die Jahre 1895 und 1896 – das genaue Entstehungsdatum ist ungewiß – waren bestimmt von Hofmannsthals Freiwilligendienst bei den Dragonern und einer Waffenübung im darauffolgenden Mai. Er sah um sich ältere Rittmeister, „sehr liebe Menschen, wirkliche österreichische Soldaten“, Subalternoffiziere, „nicht gut und nicht schlecht, unzufrieden, roh, kindisch, von einer wortlosen Gutmütigkeit“, ruthenische Ulanen „mit treuen blonden Gesichtern“, kurzum, die einfachen, ja einfältigen, aber frohsinnigen Angehörigen der k. und k. Armee. Doch zum Soldatenspiel im galizischen Tlumacz nahm er Plato, Pindar, Catull, Goethe, Balzac und Nietzsche als Lektüre mit. Und seine Freunde, mit denen er so feinsinnige wie gedankenschwere Briefe tauschte, waren die jungen Freiherren Edgar Karg von Bebenburg, Clemens und Georg Franckenstein und Leopold Andrian von Werburg – dieser letztere, als Sohn einer Tochter Meyerbeers, seiner eigenen Aussage nach ebenso ein Ergebnis „hastiger Vermischung zweier sehr avancierter Racen“ wie Hofmannsthal.
„Dem guten Edgar in seiner Verworrenheit und dem Durcheinandergehen von innerem und äußerem Leben, Verträumen und übertriebenem Schwernehmen, ist sehr schwer auch nur ein bissel zu helfen“, schrieb Hugo von Hofmannsthal im Februar 1896 an „Poldi“ Andrian. Hier ist es, das nicht allzu gebräuchliche Wort „verworren“, das auch im Gedicht Aufnahme gefunden hat: vielleicht hilft es, den Zeitpunkt der Niederschrift zu präzisieren. Ob die Brüder Franckenstein eher zu jenen gehörten, die leichten Hauptes und leichter Hände bei den Sibyllen, den Königinnen saßen, ist nicht bekannt. Wie Karg von Bebenburg aber war Hofmannsthal gezeichnet von jenem Mal du siècle, der unerklärlichen Wehmut, die so viele junge Leute der Epoche ergriff. Die Wurzeln seiner Verworrenheit freilich lagen tiefer. In dem schönsten Vers dieses schönen Gedichtes spielte er auf seine – und Andrians – Abkunft an, auf die Müdigkeiten des uralten Volkes, dem sein Ahnherr, der geadelte Seidenhändler Isak Löw Hofmann angehört hatte und dessen Erbe ihn so erschreckte wie die Unendlichkeit des kosmischen Raums.

Hilde Spielaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierter Band, Insel Verlag, 1979

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