Hilde Spiel: Zu Ilse Aichingers Gedicht „Widmung“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ilse Aichingers Gedicht „Widmung“ aus Ilse Aichinger: Verschenkter Rat. –

 

 

 

 

ILSE AICHINGER

Widmung

Ich schreibe euch keine Briefe,
aber es wäre mir leicht, mit euch zu sterben.
Wir ließen uns sacht die Monde hinunter
und läge die erste Rast noch bei den wollenen Herzen,
die zweite fände uns schon mit Wölfen und Himbeergrün
und dem nichts lindernden Feuer, die dritte, da war ich
durch das fallende dünne Gewölk mit seinen spärlichen Moosen
und das arme Gewimmel der Sterne, das wir so leicht überschritten,
in eurem Himmel bei euch.

 

Zwischen Leben und Tod

Es ist möglich, ein Gedicht wie dieses zu lieben, ohne es völlig entschlüsseln zu wollen. Man folgt ihm einfach in seinem Gleitflug in unbekannte Bereiche, man überläßt sich den bedeutungsschweren Wörtern, verzichtet auf Klarheit und tauscht Beziehungsreichtum dafür ein. Aber so leicht dürfen wir es uns nicht machen, müssen vielmehr wagen, Ilse Aichingers Bildern einen vermutlichen, obschon unbeweisbaren Sinn zu unterlegen, auf die Gefahr hin, daß dadurch ihr Gehalt verarmt und ihre Geltung eingeschränkt wird.
In den ersten Zeilen ist auf knappste Weise viel gesagt: Die Dichterin lebt in einer Abgeschlossenheit, die keine ständige Kommunikation zuläßt, aber sie hat Freunde, mit denen sie bereit ist, in den Tod zu gehen. Das mag übertrieben klingen, doch die Imagination, mit der sie den Gedanken weiterspinnt, steht dafür ein. Es beginnt, gemeinsam, jene Wanderung, die nach dem Augenblick des Sterbens einsetzt. Der Seele, oder dem Nachhang einer Identität, die es auf Erden gegeben hat, ist eine Zeitspanne allmählichen Sich-Loslösens von der irdischen Begriffswelt gewährt.
Von der Vorstellung einer Region zwischen Leben und Tod waren andere Schriftsteller vor Ilse Aichinger ergriffen, so ihr Landsmann Alexander Lernet-Holenia, der lange Stücke seiner Erzählung „Nächtliche Hochzeit“, seiner Novelle „Der Baron Bagge“ und seines Romans Der Graf Luna in jenem Schwebezustand, jenem Niemandsland spielen läßt. Bei Gerhart Hauptmann fragt der Florian Geyer das Mädchen Marei:

Wo ist man die erste Nacht nach dem Tode?

Darauf sie:

Bei St. Gertrauden.

Und er:

Wo ist man die zweite Nacht nach dem Tode?

Die Marei:

Bei St. Michael.

Ilse Aichinger tritt die Reise an in einen Raum, der kein oben und unten kennt, denn zuerst geht es sacht an den Monden hinunter und endet doch im Himmel, der gewißlich oben liegt. Ein kosmischer Raum denn, dessen Stationen sich immer weiter von der Erde entfernen. Die erste Rast verbringt man noch bei den wollenen Herzen – das „noch“ will heißen, man habe die vertraute Umgebung nicht völlig verlassen, befinde sich an einem Ort, wo es Herzen gibt, warme und weiche Herzen, wofür der Begriff Wolle wohl bürgen kann. Es ist, um ein Wort der Autorin aus anderem Kontext zu entlehnen, noch „erträglich“, aus der Aura des Irdischen nicht getilgt.
Unheimlicher wird es an der zweiten Rast, denn hier gibt es Wölfe, die man bereits apokalyptisch deuten darf, als Fenriswölfe vielleicht, die in der alten Sage die Götterdämmerung begleiten. Auch die Himbeeren sind nicht appetitlich rot wie in den Kindertagen, sondern bitter und unreif, ja zur ewigen Unreife verdammt. Ein nichts linderndes Feuer lodert, man muß hindurch, es gelingt im Verein mit den Freunden. Nun aber treten wir ein in ein wunderschönes, ein wahrhaft surreales Bild, wie es von Magritte oder Dali oder Tanguy hätte gemalt werden können: fallendes dünnes Gewölk, auf dem spärliche Moose wachsen, dann ein kleiner Sternenhaufen, dürftig, schütter, man schreitet mühelos hindurch.

Hilde Spielaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierter Band, Insel Verlag, 1979

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