Horst Krüger: Zu Hans Sahls Gedicht „Strophen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hans Sahls Gedicht „Strophen“ aus Hans Sahl: Das Exil im Exil. –

 

 

 

 

HANS SAHL

Strophen

Ich gehe langsam aus der Welt heraus
in eine Landschaft jenseits aller Ferne,
und was ich war und bin und was ich bleibe
geht mit mir ohne Ungeduld und Eile
in ein bisher noch nicht betretenes Land.

Ich gehe langsam aus der Zeit heraus
in eine Zukunft jenseits aller Sterne,
und was ich war und bin und immer bleiben werde
geht mit mir ohne Ungeduld und Eile,
als wär ich nie gewesen oder kaum.

 

Heiteres entgleiten

Um ein Gedicht dieser Art schreiben zu können, muß man, wie mir scheint, alt, sehr alt geworden sein. Bilanz und Abschied – ein Hauch von Goethes Altersweisheit schwebt über diesen Zeilen. Ob das heute immer noch als Empfehlung verstanden wird? Oder gar als Warnung? Das Verblüffende hier ist, daß in den zehn Versen dennoch nichts epigonal anmutet. Sie sind frisch, authentisch und in jeder Zeile originell. Eine lange Lebenserfahrung wird ganz unfeierlich und doch in einer Sprache ausgedrückt, die dem Gegenstand eine stille Würde verleiht. Immerhin geht es hier um nichts Geringeres als um die Begegnung mit dem menschlichen Ende. Aber es sind nicht Strophen gegen den Tod. Sie leiten einverständlich und ruhig zu ihm über, ganz ohne die übliche (vielleicht sollte man sagen: landesübliche) Klage.
Der Verfasser Hans Sahl, in Dresden geboren, lebt heute, achtundachtzigjährig, nach vielen Jahrzehnten einer ruhelosen Emigration wieder in Deutschland, jetzt in Tübingen. In Amerika, in New York, hat er in einer kleinen bücherüberfüllten Junggesellenwohnung die Nazizeit überstanden und dort auch später für lange Zeit ein provisorisches Domizil gefunden. Ein Literat und Lyriker von hohen Graden, verdiente er sein Brot zunächst als Kritiker und Übersetzer. Er hat Thornton Wilders und Tennessee Williams’ berühmte Bühnenstücke ins Deutsche übertragen. Sein Roman Die Wenigen und die Vielen, 1959 erschienen, machte ihn wieder in Deutschland bekannt. In letzter Zeit kam er durch zwei hervorragende Bücher mit Erinnerungen ins Gespräch: Memoiren eines Moralisten (1983) und Das Exil im Exil (1990). In seinem Leben hat sich das alte Wort bestätigt: Einmal Exilant – immer Exilant. Es blieb sein Thema – lebenslänglich.
Ich liebe dieses Gedicht, weil es in Gelassenheit und Reife dem größten Abenteuer des Menschen entgegenhofft: Wie einfach und klar hier alles geworden ist. Und es wird kein konventioneller Unsterblichkeitsglaube bemüht. Es ist eher die zarte Ahnung des Lyrikers von einer Landschaft „jenseits aller Ferne“, „jenseits aller Sterne“ – nur die Lyrik erlaubt solche Aufschwünge, die schwebend sind und doch wahrnehmbar für unser inneres Auge. Todesgedichte deutscher Lyriker sind fast immer ernst, schwer, voller Traurigkeit. Ob es das hohe Alter dieses Lyrikers ist, das seine Strophen so ganz anders wirken läßt? Ihr spezifisches Gewicht ist leicht, sie sind fast heiter. Gottergeben hätte man eine solche Haltung früher genannt. Das Wort stimmt aber nicht. Es ist die alte Weltfrömmigkeit Goethes, die hier durchscheint. Welch eine poetische Schlußsequenz:

Und was ich war und bin und immer bleiben werde
geht mit mir ohne Ungeduld und Eile,
als wär ich nie gewesen oder kaum.

Horst Krügeraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfzehnter Band, Insel Verlag, 1992

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