Hubert Spiegel: Zu Ror Wolfs Gedicht „der vater spricht von dem franzos“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ror Wolfs Gedicht „der vater spricht von dem franzos“ aus Ror Wolf: Die Gedichte. 

 

 

 

 

„der vater spricht von dem franzos“

der vater spricht von dem franzos
des kaisers maßkrug schwarzweißrot
steht zugeklappt auf der kommod
der vater spricht der krieg ist groß

der vater mittlerweile spricht
von dem franzos das kind lauscht still
die mutter lauscht es lauscht die magd
es lauscht der knecht der hund lauscht nicht

magd mutter knecht und kind und hund
die sitzen stumm am heißen herd
der vater spricht von dem franzos
tut auf den mund bis auf den grund

und hebt sein langes schießgewehr
der vater hat die zipfelmütz
die mutter hat die haube an
und knecht und magd die atmen schwer

auf dem gestell der gugelhupf
an dem die mutter gestern buk
auf der kommod der maßkrug steht
und der franzos im unterschlupf

der vater sich die pfeife stopft
moment franzos ist noch nicht tot
das zündholz brennt der maßkrug steht
auf der kommod die standuhr tropft

die mutter hat die haube an
der vater spricht der knecht ist stark
die magd ist rund das kind ist klein
der hund hat seine pflicht getan

der schinken in der kammer hat
die maden und am harten käs
macht sich die ratte fett und pfeift
die fliege schwirrt die magd wird matt

die mutter macht die haube los
das kind muß auf den topf und schreit
und knecht und magd die sind zu zweit
der vater spricht von dem franzos

 

Der Blick in die Speisekammer macht dem Idyll ein Ende

Ein ländliches Sittenbild, ein Abend auf dem Bauernhof: das lange, eintönige Ende eines langen, eintönigen Tages. Abwechslung gibt es nicht, die Requisiten – Maßkrug und Pfeife, Zipfelmütze des Vaters und Haube der Mutter, Standuhr, Gugelhupf und heißer Herd – kennen die Variation ebensowenig wie die Dialoge. Der Vater raucht die Pfeife. Er tut, was er immer tut, und sagt, was er immer sagt: Der Vater spricht von dem Franzos.
Es ist ein Monodrama, das Ror Wolf in seinem Gedicht inszeniert. Hier redet nur einer. Sein Text ist allen im Auditorium nur allzu gut bekannt. Magd, Mutter, Knecht und Kind und Hund sind zum Schweigen verdammt:

die sitzen stumm am heißen Herd.

Alles lauscht, und wie um die Bedeutsamkeit des Vorgangs zu betonen, wird jeder Zuhörer einzeln aufgezählt. Nur der Hund lauscht nicht.
Wolfs Wohnstuben-Patriarch ist ein Veteran des Ersten Weltkriegs, der seine Kriegserlebnisse glorifiziert: „der krieg ist groß“, heißt es am Ende der ersten Strophe, und also sind es seine Teilnehmer. Es ist geborgte Größe, die selbstgefällig schwadronierend vorgeführt wird. Aber Wolfs Verse sind kein Antikriegsgedicht, der Krieg ist zum Anekdotenstoff, auf Stubenformat geschrumpft. Die Materialschlachten in den Ardennen sind wie der Maßkrug in den Farben des Kaiserreichs oder die Pfeife Zutaten zu jener bleischweren, sauerstoffarmen häuslichen Gemütlichkeit, die noch in den fünfziger, sechziger Jahren als typisch deutsch gelten konnte.
Gegen diese familiäre Gemütlichkeit ist Wolfs Gedicht gerichtet. Es zeigt den langsamen Verfall der väterlichen Autorität, gar der ganzen Familiengemeinschaft. Denn die Situation, die die ewige Wiederkehr des Immergleichen beschreibt, wird bald ein Ende finden. Noch geht alles den gewohnten Gang, Knecht und Magd atmen schwer unter dem Joch des altbekannten Sermons, der keine Ungeduld erlaubt:

moment franzos ist noch nicht tot.

In der nächsten Zeile scheint das Bild wie eingefroren:

das zündholz brennt der maßkrug steht.

Die Zeit fließt nicht mehr, sondern sie tropft aus der Standuhr wie das Wasser aus dem undichten Wasserhahn: zäh und mit einem nervtötenden Geräusch verbunden. Die folgende, siebente Strophe hält noch einmal das Idealbild fest: Der Vater spricht, die Mutter hat sittsam das Haar unter der Haube verborgen, der Knecht ist stark, das Kind klein, die Magd rund und auch der Hund, eben noch Vorbote drohenden Ungehorsams, hat jetzt seiner Pflicht entsprochen. Alles ist, wie es sein soll.
Nun erfolgt abrupt der Szenenwechsel. Ein Blick in die Speisekammer macht dem falschen Idyll ein Ende und offenbart den Verfall: Im Schinken sitzt die Made, am Käse nagt die Ratte. Mit einem Mal ist alles in Auflösung begriffen: Mutters Haube löst sich, das Kind schreit, Magd und Knecht vergnügen sich miteinander. Der Veteran, Verkörperung des Stillstands und der Gestrigkeit, hat das letzte Wort, dem niemand mehr lauscht. So endet die Familienmoritat des 1932 geborenen Ror Wolf mir dem Schreckbild einer alten, preußisch geprägten Welt, der Disziplinlosigkeit.

Hubert Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.12.2001

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