Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik

Friedrich-Die Struktur der modernen Lyrik

I. VORBLICK UND RÜCKBLICK

Vorblick auf die gegenwärtige Lyrik; Dissonanzen und Abnormität

Die europäische Lyrik des 20. Jahrhunderts bietet keinen bequemen Zugang. Sie spricht in Rätseln und Dunkelheiten. Aber sie ist von einer auffallenden Produktivität. Das Werk der deutschen Lyriker vom späten RILKE und von TRAKL bis zu G. BENN, der französischen von APOLLINAIRE bis zu SAINT-JOHN PERSE, der spanischen von GARCÍA LORCA bis zu GUILLEN, der italienischen von PALAZZESCHI bis zu UNGARETTI, der angelsächsischen von YEATS bis zu T.S. ELIOT kann in seiner Bedeutung nicht mehr angezweifelt werden. Es zeigt, daß die Aussagekraft der Lyrik für die geistige Lage der Gegenwart nicht geringer ist als die Aussagekraft der Philosophie, des Romans, des Theaters, der Malerei und der Musik. Der Leser macht bei diesen Dichtern eine Erfahrung, die ihn, auch ehe er sich darüber Rechenschaft ablegt, sehr nahe an einen Wesenszug solcher Lyrik heranführt. Ihre Dunkelheit fasziniert ihn im gleichen Maße, wie sie ihn verwirrt. Ihr Wortzauber und ihre Geheimnishaftigkeit wirken zwingend, obwohl das Verstehen desorientiert wird. „Poesie kann sich mitteilen, auch ehe sie verstanden ist“, bemerkte T.S. ELIOT in seinen Essays. Man darf dieses Zusammentreten von Unverständlichkeit und Faszination eine Dissonanz nennen. Denn es erzeugt eine mehr nach der Unruhe als nach der Ruhe hinstrebende Spannung. Dissonantische Spannung ist ein Ziel moderner Künste überhaupt. STRAWINSKY schreibt in seiner Poétique musicale (1948): „Nichts nötigt uns, die Befriedigung immer nur in der Ruhe zu suchen. Seit mehr als einem Jahrhundert häufen sich die Beispiele für einen Stil, worin die Dissonanz sich selbständig gemacht hat. Sie wurde zu einem Ding an sich. Und so geschieht es, daß sie weder etwas vorbereitet, noch etwas ankündigt. Die Dissonanz ist ebenso wenig ein Träger der Unordnung wie die Konsonanz eine Gewähr der Sicherheit.“ Das gilt in vollem Umfang auch für die Lyrik. Ihre Dunkelheit ist vorsätzlich. Schon BAUDELAIRE schrieb: „Es liegt ein gewisser Ruhm darin, nicht verstanden zu werden.“ Für BENN heißt Dichten „die entscheidenden Dinge in die Sprache des Unverständlichen erheben, sich hingeben an Dinge, die verdienten, daß man niemanden von ihnen überzeugt“. Ekstatisch redet SAINT-JOHN PERSE den Dichter an: „Zweisprachiger unter zwiefach spitzen Dingen, Du selbst ein Streit zwischen allem Streitenden, redend im Vieldeutigen wie einer, der irreging im Kampf zwischen Flügeln und Dornen!“ Und wieder nüchterner MONTALE: „Keiner schriebe Verse, wenn das Problem der Dichtung darin bestünde, sich verständlich zu machen.“ Man wird dem Willigen zunächst nichts anderes raten können, als daß er seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen sucht, die moderne Lyrik umhüllt. Überall beobachten wir ihre Neigung, so weit wie möglich von der Vermittlung eindeutiger Gehalte fernzubleiben. Das Gedicht will vielmehr ein sich selbst genügendes, in der Bedeutung vielstrahliges Gebilde sein, bestehend aus einem Spannungsgeflecht von absoluten Kräften, die suggestiv auf vorrationale Schichten einwirken, aber auch die Geheimniszonen der Begriffe in Schwingung versetzen. Jene dissonantische Spannung des modernen Gedichts äußert sich auch in anderer Hinsicht. So kontrastieren Züge archaischer, mystischer, okkulter Herkunft mit einer scharfen Intellektualität, einfache Aussageweise mit Kompliziertheit des Ausgesagten, sprachliche Rundung mit gehaltlicher Ungelöstheit, Präzision mit Absurdität, motivische Geringfügigkeit mit heftigster Stilbewegung. Das sind teilweise formale Spannungen, und oft nur als solche gemeint. Aber sie treten auch in den Gehalten auf. Wenn das moderne Gedicht Wirklichkeiten berührt – der Dinge wie des Menschen −, so behandelt es sie nicht beschreibend und nicht mit der Wärme eines vertrauten Sehens und Fühlens. Es führt sie ins Unvertraute, verfremdet sie, deformiert sie. Das Gedicht will nicht mehr an dem gemessen werden, was man gemeinhin Wirklichkeit nennt, auch wenn es sie, als Absprung für seine Freiheit, mit einigen Resten in sich aufgenommen hat. Die Wirklichkeit ist aus der räumlichen, zeitlichen, sachlichen und seelischen Ordnung herausgelöst und den – als präjudizierend verworfenen – Unterscheidungen entzogen, wie sie einer normalen Weltorientierung notwendig sind: zwischen schön und häßlich, zwischen Nähe und Ferne; zwischen Licht und Schatten, zwischen Schmerz und Freude, zwischen Erde und Himmel. Von den drei möglichen Verhaltensweisen lyrischen Dichtens – Fühlen, Beobachten, Verwandeln – dominiert in der Moderne die letztere, und zwar sowohl hinsichtlich der Welt wie hinsichtlich der Sprache. Nach einer an der romantischen Poesie abgelesenen (und sehr zu Unrecht verallgemeinerten) Bestimmung gilt Lyrik vielfach als die Sprache des Gemüts, der persönlichen Seele. Der Begriff des Gemüts deutet auf Entspannung durch Einkehr in einen seelischen Wohnraum, den auch der Einsamste mit allen teilt, die zu fühlen vermögen. Eben diese kommunikative Wohnlichkeit ist im modernen Gedicht vermieden. Es sieht ab von der Humanität im herkömmlichen Sinne, vom ,Erlebnis‘, vom Sentiment, ja vielfach sogar vom persönlichen Ich des Dichters. Dieser ist an seinem Gebilde nicht als private Person beteiligt, sondern als dichtende Intelligenz, als Operateur der Sprache, als Künstler, der die Verwandlungsakte seiner gebieterischen Phantasie oder seiner irrealen Sehweise an einem beliebigen, in sich selbst bedeutungsarmen Stoff erprobt. Das schließt nicht aus, daß ein solches Gedicht dem Zauber der Seele entspringt und ihn weckt. Aber das ist etwas anderes als Gemüt. Es ist eine Vielstimmigkeit und Unbedingtheit der reinen Subjektivität, die nicht mehr in einzelne Gefühlswerte zerlegbar ist, „Gemüt? Gemüt habe ich keines“, bekannte GOTTFRIED BENN von sich. Wo gemütsähnliche Weichheiten sich einstellen wollen, fährt ein Querschläger dazwischen, zerreißt sie mit harten, disharmonischen Worten. Man kann von einer aggressiven Dramtik modernen Dichtens sprechen. Sie waltet im Verhältnis zwischen den Themen oder Motiven, die mehr gegeneinander gerichtet als aufeinander zugeordnet werden, ferner im Verhältnis zwischen diesen und einer unruhigen Stilführung, die Zeichen und Bezeichnetes so weit wie möglich auseinandertreibt. Aber sie bestimmt auch das Verhältnis zwischen Gedicht und Leser, erzeugt eine Schockwirkung, deren Opfer der Leser ist. Er fühlt sich nicht gesichert, sondern alarmiert. Zwar war dichterische Sprache schon immer unterschieden von der normalen Sprachfunktion, Mitteilung zu sein. Von einzelnen Fällen abgesehen – DANTE etwa oder GÓNGORA −, handelte es sich aber um einen maßvollen, graduellen Unterschied. Plötzlich, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wird daraus eine radikale Verschiedenheit zwischen üblicher und dichterischer Sprache, eine übermäßige Spannung, die, im Verein mit den dunklen Gehalten, Verwirrung hervorruft. Die dichterische Sprache erhält den Charakter eines Experiments, der Kombinationen entsteigen, die nicht vom Sinn geplant wurden, vielmehr den Sinn erst erzeugen. Das geläufige Wortmaterial tritt in ungewohnten Bedeutungen auf. Wörter, die entlegenstem Spezialistentum entstammen, werden lyrisch elektrisiert. Die Syntax entgliedert sich oder schrumpft zu absichtsvoll primitiven Nominalaussagen zusammen. Die ältesten Mittel der Poesie, Vergleich und Metapher, werden in einer neuen Weise gehandhabt, die das natürliche Vergleichsglied umgeht und eine irreale Vereinigung des dinglich und logisch Unvereinbaren erzwingt. Wie in der modernen Malerei das autonom gewordene Farben- und Formengefüge alles Gegenständliche verschiebt oder völlig beseitigt, um nur sich selbst zu erfüllen, so kann in der Lyrik das autonome Bewegungsgefüge der Sprache, das Bedürfnis nach sinnfreien Klangfolgen und Intensitätskurven bewirken, daß das Gedicht überhaupt nicht mehr von seinen Aussageinhalten her zu verstehen ist. Denn sein eigentlicher Gehalt liegt in der Dramatik der äußeren wie inneren Formkräfte. Da ein derartiges Gedicht immerhin noch Sprache ist, aber Sprache ohne mitteilbaren Gegenstand, hat es die dissonantische Folge, daß es den, der es vernimmt, zugleich lockt und verstört. Solchen Erscheinungen gegenüber setzt sich beim Leser der Eindruck der Abnormität fest. Dazu stimmt, daß ein Grundbegriff moderner Theoretiker der Dichtung lautet: Überraschung, Befremdung. Wer überraschend befremden will, muß sich abnormer Mittel bedienen. Gewiß, Abnormität ist ein gefährlicher Begriff. Er erweckt den Anschein, als gäbe es eine zeitlose Norm. Immer wieder stellt sich ja heraus, daß das ,Abnorme‘ einer Epoche zur Norm der nächsten wurde, sich also assimilieren ließ. Dies freilich gilt nun nicht für diejenige Lyrik, mit der wir es hier zu tun haben. Es gilt schon nicht mehr für ihre französischen Gründer. RIMBAUD und MALLARMÉ sind von einem größeren Publikum nicht mehr assimiliert worden, noch heute nicht, so viel auch über sie geschrieben wird. Die Nichtassimilierbarkeit ist ein chronisches Merkmal auch der Modernsten geblieben. Indessen wollen wir die Bezeichnung ,Abnormität‘ heuristisch gebrauchen, ebenso wie die Bezeichnung ,normal‘. Ohne Rücksicht auf geschichtliche Verhältnisse setzen wir als normal diejenige Seelen- und Bewußtseinslage an, die etwa einen Text von GOETHE oder auch von HOFMANNSTHAL zu verstehen vermag. Dies gestattet, um so deutlicher diejenigen Erscheinungen zeitgenössischer Lyrik zu erkennen, die so weit von einem Dichten in der Art der Genannten abweichen, daß sie als abnorm bezeichnet werden müssen. ,Abnorm‘ ist kein Werturteil und heißt nicht ,entartet‘ das kann nicht kräftig genug unterstrichen werden. Der unkritische Bewunderer moderner Dichtung pflegt sie in Schutz zu nehmen gegen bürgerliche Befangenheit, gegen Schul- und Hausgeschmack. Das ist kindisch, trifft auch gar nicht den Antrieb solcher Dichtung und beweist im übrigen Ahnungslosigkeit gegenüber drei Jahrtausenden europäischer Literatur. Moderne Dichtung (und Kunst) ist nicht vorsätzlich zu bestaunen und nicht vorsätzlich zu verwerfen. Als ein beharrliches Phänomen der Gegenwart hat sie das Recht, von der Erkenntnis gewürdigt zu werden. Aber der Leser hat auch ein Recht, seine Maßstäbe älterem Dichten zu entnehmen und sie so hoch wie möglich anzusetzen. Wir enthalten uns, mit solchen Maßstäben zu werten. Aber wir gestatten uns, anhand ihrer zu beschreiben und zu erkennen. Denn Erkennen ist auch bei einer Dichtung möglich, die nicht primär das Verstehen erwartet, weil sie, nach einem Wort ELIOTS, keinen Sinn enthält, „der eine Gewohnheit des Lesers befriedigt“. ELIOT fährt fort: „Denn einige Dichter werden diesem Sinn gegenüber unruhig, weil er ihnen überflüssig erscheint, und sie sehen Möglichkeiten dichterischer Intensität, die dadurch entstehen, daß man sich des Sinnes entledigt.“ Erkennbar und beschreibbar ist ein derartiges Dichten durchaus, auch wenn in ihm eine so große Freiheit wirkt, daß das Erkennen höchstens die Freiheit selber feststellen, nicht mehr aber die von ihr erreichten Inhalte verstehen kann, zumal sie (wiederum nach einem Wort ELIOTS) so unabsehbar in ihren Bedeutungen sind, daß sogar beim Dichter selbst das Wissen vom Sinn des Gedichteten begrenzt ist. Das Erkennen solcher Dichtung nimmt ihre schwierige oder unmögliche Verstehbarkeit als ein erstes Merkmal ihres Stilwillens auf. Weitere Merkmale können festgestellt werden. Die Erkenntnis darf sich einige Hoffnung machen, weil sie sich auf geschichtliche Bedingungen richtet, auf die poetische Technik, auf die unleugbare Gemeinsamkeit in der Sprache der verschiedensten Autoren. Das Erkennen folgt schließlich der Vieldeutigkeit dieser Texte, indem es sich selbst in den Prozeß eingliedert, den sie beim Leser in Gang bringen wollen: den Prozeß der weiterdichtenden, unabschließbaren, ins Offene hinausführenden Deutungsversuche.

(…)

 

 

 

Aus dem Vorwort zur ersten Auflage

Das Buch ist aus langjährigen Beobachtungen moderner Lyrik hervorgegangen. Sie begannen, als dem Gymnasiasten 1920 die von K. PINTHUS veröffentlichte Anthologie Menschheitsdämmerung in die Hände fiel. Begreiflicherweise blieben sie zunächst recht orientierungslos. Erst als ich, sehr viel später, die französischen Lyriker des 19. Jahrhunderts kennenlernte, und, wiederum später, die französischen, aber auch die spanischen Lyriker des 20. Jahrhunderts, traten Umrisse hervor, die eine Orientierung auf breitem Felde ermöglichten. Jene deutschen Dichter vor und um 1920, deren Herausgeber sie vom „ersterbenden 19. Jahrhundert“ abhob, standen nicht so beziehungslos da, wie es scheinen wollte. Auch die seitherigen und die gegenwärtigen tun das nicht, weder in Deutschland noch im übrigen Europa. Die Beurteilung zeitgenössischer Lyrik begeht fast durchweg den Fehler, nur auf das jeweilige Land und auf die letzten zwanzig oder dreißig Jahre zu achten. Da sieht denn so ein Gedicht nach unerhörtem ,Durchbruch‘ aus, und zwischen der Lyrik von 1945 und von 1955 werden Unterschiede bewundert, die nicht einmal die Unterschiede zweier Sekunden sind. Die Gründer und noch heutigen Führer der modernen Lyrik Europas sind Franzosen des 19. Jahrhunderts, nämlich RIMBAUD und MALLARMÈ. Zwischen ihnen und dem Dichten unserer Gegenwart bestehen Gemeinsamkeiten, die man nicht aus Einflüssen erklären kann oder selbst dort, wo Einflüsse erkennbar sind, nicht als solche zu erklären braucht. Es sind Gemeinsamkeiten einer Struktur, d.h. eines Grundgefüges, das mit auffallender Beharrlichkeit in den wechselvollen Erscheinungen der modernen Lyrik wiederkehrt. Nach vielen Ansätzen, von denen einige bis in das 18. Jahrhundert zurückreichen, schloß sich diese Struktur in der Dichtungstheorie um 1850, in der dichterischen Praxis um 1870 zu einem Ganzen zusammen, das zwar komplex, aber auch folgerichtig ist. Das geschah in Frankreich. Von RIMBAUD und MALLARMÈ aus erhellen sich die Stilgesetze der Heutigen, und von den Heutigen aus erhellt sich wiederum die erstaunliche Modernität jener Franzosen. Man muß sich allerdings entschließen, die üblichen Klassifikationen beiseite zu lassen, mit denen Kritik und Literaturwissenschaft die europäische Lyrik der letzten hundert Jahre unterteilt haben. Und man muß sich weiterhin entschließen, die Beschränkung des Blickfeldes auf jeweils nur einen Autor oder auf nur einen Stiltypus preiszugeben. Erst dann wird die Sicht frei für jene gegenseitige Erhellung und damit für die Struktureinheit der modernen europäischen Lyrik. Was das vorliegende Buch will (und was meines Wissens noch nicht unternommen wurde), ist in seinem Haupttitel ausgedrückt. Eine Geschichte der modernen Lyrik will es nicht sein. Sonst hätten sehr viel mehr Autoren behandelt werden müssen. Der Begriff der Struktur macht Vollständigkeit des geschichtlichen Materials Überflüssig. Vor allem, wenn das Material nur Abwandlungen der Grundstruktur bringt, wie etwa im Falle LAUTRÉAMONTS, der zwar heute einige Wirkung ausübt; aber nur eine schlechtere Variante RIMBAUDS ist – den er nicht kannte, so wenig wie dieser ihn. Aus dem gleichen Grund – neben vielen anderen – habe ich auch davon abgesehen, die konfessionelle Lyrik und die politische Lyrik des 20. Jahrhunderts zu besprechen. Soweit sie Qualität hat, empfängt sie diese nicht aus dem Glauben und nicht aus der politischen Idee – am wenigsten aus der parteipolitischen. Daß ich als Romanist die meisten Beispiele des fünften Kapitels aus den romanischen Literaturen geholt habe, liegt nahe. Der Leser wird darin keine Unterschätzung der Deutschen und der Angelsachsen sehen, zumal ich mich um einen deutschen und einen englischen Repräsentanten so weit bemüht habe, wie es nötig ist, um deren Größe, aber auch strukturelle Stilgemeinschaft mit den Franzosen, Spaniern und Italienern zu zeigen. Allerdings, die Darstellung jener beiden Gründer und ihres Vorläufers BAUDELAIRE ist nicht zufällige Folge gerade meiner Fachinteressen, sondern sachliche Notwendigkeit. Was ist moderne Lyrik? Ich will mich auf keine Definition einlassen. Die Antwort mag sich aus dem Buche selber ergeben. Das Buch soll auch darauf antworten, warum ich so große Lyriker wie GEORGE und HOFMANNSTHAL übergangen habe, aber auch CAROSSA, R.A. SCHRÖDER, LOERKE, RICARDA HUCH, TH. DÄUBLER. Sie sind Erben und neue Höhepunkte eines vielhundertjährigen lyrischen Stils – eben desjenigen, von dem sich Frankreich vor achtzig Jahren gelöst hat. Ich denke, niemand wird daraus den Schluß ziehen, ich hielte sie für überholt. Ich selbst bin auch kein Avantgardist. Mit ist bei GOETHE wohler als bei T.S. ELIOT. Aber darauf kommt es nicht an. Mich interessiert es, die Symptome der harten Modernität zu erkennen, und ich bin der Meinung, unsere Wissenschaften müßten noch sehr viel mehr für eine solche Erkenntnis tun, als das bisher geschah. Das Buch wird manchem Mißverständnis ausgesetzt sein. Dichter sind empfindliche, auf ihre Originalität bedachte Leute, und ihre Verehrer umhegen diese Empfindlichkeit. Daher rechne ich vor allem mit dem einen Mißverständnis, daß ich die vielen Dichter, die ich anführe, über einen Leisten geschlagen hätte. Nun, dieses Mißverständnis würde sich genau gegen die Absicht des Buches richten, die eine Sichtung der überpersönlichen, übernationalen und über die Jahrzehnte hinwegreichenden Symptome moderner Lyrik erstrebt. Von den methodischen Grundsätzen, die meine Darstellung geleitet haben, legt das Buch an einigen Stellen Rechenschaft ab. Vorwegnehmen will ich lediglich, daß das fünfte Kapitel nicht ohne Kenntnis der vier anderen gelesen werden sollte, weil sonst nicht deutlich würde, wie eng der Zusammenhang der Heutigen mit den Franzosen des 19. Jahrhunderts ist. Es wäre langweilig gewesen, dies an den einzelnen Symptomen immer noch einmal zu beweisen. Hier hilft im übrigen auch das Sachregister. Ferner sei erwähnt, daß ich ,modern‘ sage, wenn ich die gesamte Epoche von BAUDELAIRE an meine, dagegen ,zeitgenössisch‘ oder ,gegenwärtig‘, wenn es sich um Dichtungen lediglich des 20. Jahrhunderts handelt. Mit Rücksicht auf den deutschen Leser habe ich innerhalb der einzelnen Kapitel die Zitate mit wenigen Ausnahmen lediglich in Übersetzungen gebracht. Im Anhang I sind einige Originale abgedruckt, zusammen mit Übersetzungsversuchen. Freilich weiß jeder, der mit Lyrik vertraut ist, daß sie sich kaum übersetzen läßt, am wenigsten die moderne.

Hugo Friedrich, Ostern 1956

Vorwort zur neunten Auflage

Auf Vorschlag des Herausgebers dieser Schriftenreihe wurde das Buch neu bearbeitet. Dies geschah in mehrfacher Hinsicht: Korrektur von Irrtümern, stilistische Änderungen, sachliche Zusätze, von denen derjenige über die ,Neue Sprache‘ hervorgehoben sei. Der Anhang I ist um einige Gedichte vermehrt worden. Ihm folgt, als neuer Anhang, eine Gruppe von Gedichtinterpretationen. Erweitert wurde schließlich die Bibliographie, Über deren Sinn und Prinzipien die Vorbemerkung S. 292 Auskunft gibt. Mehr als in den bisherigen Auflagen werden Zitate und Zusammenfassungen im Innern. der Darstellung belegt. Dies erfolgt so, daß in Kursivdruck diejenige Ziffer angegeben wird, die in der nunmehr durchnummerierten Bibliographie auf dem entsprechenden Titel verweist. Lediglich in den Kapiteln II-IV entfallen diese Ziffern; die Zitate sind der jeweiligen Werkausgabe entnommen, also: BAUDELAIRE = 96; RIMBAUD = 135; MALLARMÈ = 161. Bei den Zitaten steht dann nur die Seitenzahl. Der im Titel des Buches gebrauchte Begriff ,Struktur‘ ist vielfach mißverstanden worden. So wollte man sich unter ,Struktur‘ etwas ,Starres, gar Verhärtetes‘ vorstellen oder zeigte sich ungläubig, daß dieser Begriff auf ,etwas so Körperloses wie die Lyrik‘ angewendet. werden könne. Natürlich ist mit ,Struktur‘ nicht eine Verhärtung oder dergleichen gemeint, zumal der Begriff in den Geisteswissenschaften seit DILTHEY die ursprüngliche Bedeutung des Anorganischen verloren hat. Bei literarischen Erscheinungen bezeichnet ,Struktur‘ ein organisches Gefüge, eine typenhafte Gemeinsamkeit von Verschiedenem. Im vorliegenden Falle ist es diejenige Gemeinsamkeit lyrischen Dichtens, die in der Abkehr von klassischen, romantischen, naturalistischen, deklamatorischen Traditionen, eben in ihrer Modernität besteht. ,Struktur‘ bedeutet hier die Gesamtgestalt einer Gruppe zahlreicher lyrischer Dichtungen, die einander keineswegs beeinflußt zu haben brauchen und deren einzelne Eigentümlichkeiten dennoch zusammenstimmen und auseinander erklärt werden können, jedenfalls so häufig und in gleicher Lagerung vorkommen, daß sie sich nicht als Zufälle ansehen lassen. Darauf wurde, mit etwas anderen Worten, übrigens schon in der ersten Auflage, im Anfangsabschnitt des fünften Kapitels, hingewiesen. Ich will gestehen, daß ich in dieser überarbeiteten Auflage das Wort ,Struktur‘ lieber vermieden hätte. Denn weit mehr, als das schon in der Zeit der Erstauflage der Fall gewesen war, hat es sich in allen erdenklichen Gebieten als Modewort breit gemacht. Aus zwei Gründen mußte ich es indessen beibehalten: einmal, weil das Buch sich unter diesem Titel eingebürgert hat, dann aber, weil ich mich nach wie vor gegen die Erwartung schützen muß, eine Geschichte der modernen Lyrik geschrieben zu haben. Eine solche hätte andere Methoden und andere Stoffanordnungen erfordert, derart etwa, wie man sie in dem vorzüglichen Buch von G. SIEBENMANN, Die moderne Lyrik in Spanien (355), antrifft, einem durchweg geschichtlich vorgehenden Buch, das auch die Entwicklung der einzelnen Lyriker mit einbezieht. Den Untertitel habe ich geändert. Früher hieß er: Von Baudelaire bis zur Gegenwart. Im jetzigen Titel sind Jahreszahlen inbegriffen, beidemal approximative, daher biegsam zu verstehen. Die Begrenzung auf die Zeit um 1950 ist allerdings entschiedener als diejenige auf 1850. Manches ist seit der Mitte unseres Jahrhunderts in der europäischen Lyrik entstanden, das Anspruch auf Respekt erheben kann. Dennoch wüßte ich nicht, wer seither definitiv und zukunftsbildend das Feld überschritten hätte, das von den Klassikern der Moderne erschlossen wurde. Eher ließen sich Entspannungen beobachten, eine da und dort fühlbare Rückkehr zur humaneren, persönlichen, in Schmerz und Freude schlichter gewordenen Lyrik. Immerhin, die Lyrik als leise und doch große Gewalt ist eine der Freiheiten und Kühnheiten geblieben, mit denen unsere Epoche den Zweckbindungen entrinnt. Vielleicht liegt es an mir, wenn ich manches, was faktisch neu sein könnte, in seiner möglichen Originalität, in seinem Heraustreten aus dem dichterischen Gefüge von rund einhundert Jahren nicht mehr zu erkennen vermag. Die sogenannte ,konkrete Poesie‘ mit ihrem maschinell ausgeworfenen Wörter- und Silbenschutt kann dank ihrer Sterilität allerdings völlig außer Betracht bleiben.

Hugo Friedrich, Oktober 1966

Nachwort

Kompromisse waren seine Sache nicht. Und daß Willensentscheidungen bei den Festlegungen, die sich in diesem Buch finden, eine kaum geringere Rolle gespielt haben dürften als die von seinem Autor so sehr betonten Erkenntnisse, wird, wer es aufmerksam und kritisch gelesen hat, kaum bestreiten wollen. Vor allem aber ist die Struktur der modernen Lyrik man sage, was man wolle – mindestens ebenso ein künstlerisches wie ein wissenschaftliches Werk. „Die geistigen Augen lösen sich vom Lebensstoff, um Spiegel der Weltfülle und des durch die Weltfülle hindurchscheinenden reinen Seelengefüges zu werden. Ein ruhiger, doch menschenfremder Jubel durchzieht das Werk. Es ist der intellektuelle Jubel einer Schaukraft, die in den Dingen die Stille ihrer Urformen wahrnimmt.“ Dieses willkürlich herausgegriffene Zitat (über Jorge Guillén) belegt es schlagend: Man liest so etwas nicht, wie man Philologen liest, sondern wie Dichter. Es ist also nicht wahr, was Friedrich im Vorwort zur Erstauflage seiner Struktur schrieb, daß ihm nämlich „bei Goethe wohler (gewesen) sei als bei T.S. Eliot“; zumindest wäre es irrig zu meinen, es sei keine Sympathie mit im Spiele, wenn er die eisigen, ungemütlichen Gefilde der modernen Lyrik betrat. In einer Erklärung zur eigenen Person hatte der Freiburger Romanist, von seinem Freund Ernesto Grassi animiert, in der ersten Auflage seines Lyrikbuches denn auch über sich selbst geschrieben: „Rückblickend erkennt er, daß … den meisten seiner Aufsätze und Vorlesungen zwei Züge gemeinsam sind, ein inhaltlicher und ein methodischer. Der inhaltliche ist die Sympathie mit unsentimentalen Autoren, der methodische die Abneigung gegen eine Literaturwissenschaft, die an dem unglücklichen Prinzip ,Erlebnis und Dichtung’ krankt. Gleiche Sympathie und gleiche Abneigung haben ihn auch zu dem vorliegenden Buche geführt.“ Dieser Passus ist in den späteren Auflagen der Struktur der modernen Lyrik gestrichen worden. Wir rufen ihn hiermit in Erinnerung, weil der Zeitpunkt gekommen sein dürfte, Hugo Friedrichs Buch über die moderne Lyrik historisch zu sehen und zu werten – das heißt auch als das Erzeugnis einer Persönlichkeit, die einer bestimmten Laufbahn und einer bestimmten Zeit verpflichtet war. Begonnen hatte Friedrich, der in seinen Heidelberger Studienanfängen (übrigens germanistischen) entscheidend vom George-Schüler Gundolf beeinflußt worden war, mit einer Arbeit über Das antiromantische Denken im modernen Frankreich. Es ist ein noch immer lesenswertes Buch. Denn wie in dem 1934 erschienenen Bericht über Frankreichs präfaschistische „Action française“ die damaligen (und bis heute nicht erloschenen) Rechtstendenzen als ein „nationalistischer Reizzustand“ diagnostiziert werden, das ist alles andere als selbstverständlich. Friedrich wurde durch seine Rekonstruktion des komplexen Bildes der französischen Reaktionen auf die Dreyfus-Affäre, in deren Folge die Nation sich in zwei Lager spaltete, gezwungen, zur romantischen Tradition Stellung zu nehmen. Die französische Rechte drapierte sich antiromantisch, das heißt proklassisch und lateinisch – im Gegensatz zum deutschen Faschismus, der seine Wurzeln in einer mehr oder minder romantischen Legende vom germanischen „Blut und Boden“ hatte. Einerseits galt es daher, das Vernünftige an der französischen Antiromantik zu erkennen, andererseits aber deren nationalistische Verblendung zu brandmarken. Friedrich hat sich nicht anstecken lassen von der patriotischen Begeisterung eines Charles Maurras oder Maurice Barrès, den Ideologen der „Action française“, er hat dennoch an seiner prinzipiellen Ablehnung des romantischen Gefühls- und Erlebniskultes festgehalten. Dies in Erinnerung zu rufen, mag heute angebracht sein, um die Willensentscheidung zugunsten der gewiß nicht heißgeliebten, aber doch innerlich bejahten Moderne verständlich zu machen, von der die Struktur der modernen Lyrik zeugt. Als Romanist, Latinist, Italienliebhaber und – auch rein äußerlich – südländischer Typ, der gern behauptete, aus einer Hugenottenfamilie zu stammen, war Friedrich von einer tiefgreifenden Wahlverwandtschaft zu Formkünstlern wie Baudelaire, Mallarmé oder Valéry beseelt. Daran kann gar kein Zweifel bestehen. Kaum eine Zeile der Struktur, die davon nicht beredt Zeugnis ablegte. Was stimmt nun – 1985, nach fast dreißig Jahren – noch an dem Bild, das Friedrich 1956 von der Struktur der modernen Lyrik gezeichnet hat? Die Frage ist natürlich zu stellen. Aber vielleicht sollten wir ihr doch ein paar Überlegungen vorausschicken, die den Innovationswert dieses so überaus erfolgreichen Büchleins kennzeichnen. Man kann das in fünf Punkte fassen. Erstens wäre zu sagen, daß wir mit diesem Buch eine bis dahin verwirrend und unübersichtlich erscheinende Phase der literarischen Entwicklung als eine Epoche abzugrenzen gelernt haben, daß wir erkannt haben, welchen Einschnitt die – gewiß von vielen bewunderte, aber doch bis dato nicht gebührend historisch gewertete – Erscheinung Baudelaires bedeutet hat. Man vergißt es heute zu leicht: Es ist noch nicht lange her, daß Victor Hugo, Musset, Lamartine und Vigny als die größten Lyriker des französischen neunzehnten Jahrhunderts galten. Man schlage eine ältere französische Literaturgeschichte auf, gleich welche, und wird es bestätigt finden. Damit ist es seit dem Erscheinen von Friedrichs Struktur endgültig vorbei. Die antiromantische Einstellung des Autors hat zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis geführt, die Allgemeingültigkeit beanspruchen kann. War Friedrich gewiß nicht der erste, der die historische Umwertung der Werte vollzogen hat, von der wir sprechen, so ist er doch derjenige gewesen, der sie durchgesetzt hat. Dies ist das eine. Das zweite hängt damit zusammen. Friedrichs Buch kann in einem Zusammenhang gesehen werden mit der Entdeckung des Barock, speziell der barocken Lyrik durch Dichter wie T.S. Eliot oder García Lorca. Ohne die Wiederentdeckung Góngoras oder der „metaphysical poets“ wäre auch die Struktur der modernen Lyrik nicht so zustande gekommen, wie sie zustande gekommen ist. Auf gewisse Analogien – die Überfunktion des Stils, die Suggestivkraft der Sprache und anderes – weist Friedrich selbst hin. Vor allem aber hat er ja nach dem Buch über die moderne Lyrik selbst eine der großartigsten Analysen der barocken Dichtung vorgelegt: Die Rede ist von Friedrichs letztem Werk, den Epochen der italienischen Lyrik von 1964, das sozusagen die ,nachgeholte Vorgeschichte‘ der Struktur der modernen Lyrik darstellt. Das Buch ist leider so umfangreich und so teuer, daß es nicht annähernd die Verbreitung erfahren hat, die der Struktur zuteil wurde. Wer sich jedoch einen nicht minder hohen geistigen Genuß verschaffen will (als ihn die Lektüre der Struktur bietet), dem sei geraten, nach diesem Buch zu greifen. Übrigens verwischt Friedrich die Unterschiede zwischen der modernen und der barocken Lyrik nicht: War auch die barocke Dichtung oft dunkel, so ging es ja noch um einen entschlüsselbaren, dem humanistisch, mythologisch und poetologisch Gebildeten auflösbaren Hermetismus. In der modernen Lyrik ist das nicht mehr so. Da hilft nur der Weg vom einzelnen Gedicht ins Gesamtwerk – oder in den dichterischen Kontext. Aber er führt meist nicht ganz bis ans Ziel. Moderne Lyrik kann eben nicht restlos verstanden  werden, weil sie nicht restlos verstanden werden will. Punkt drei: Friedrichs Struktur der modernen Lyrik ist ein europäisches Buch. Als Romanist war dem Autor das Überschreiten nationalliterarischer Grenzen eine selbstverständliche Gewohnheit. Romanisten sind von Haus aus „Komparatisten“. Aber dies ist nun wirklich ein Musterbeispiel „vergleichender Literaturwissenschaft“ im besten, modernsten Sinne nicht der Einflußforschung, sondern der Aufsuche struktureller Gemeinsamkeiten – wozu Friedrich im Vorwort das Nötige selbst sagt. Daß Frankreich die erste Geige in dem dissonantischen Konzert der modernen Dichtung spielen sollte, hat nichts mit der Prädominanz des Französischen im Konzept der Romanistik zu tun; es ist eine Sachgegebenheit, die bis dato so deutlich noch nicht erkennbar war: auch dies eine – nur von wenigen französischen Kritikern dankbar genug anerkannte – Innovation, die so selbstverständlich nicht ist, wie sie uns heute erscheinen mag. Sicher, Edgar Allan Poe hätte ein kaum geringeres Anrecht darauf, zu den Initiatoren der modernen Lyrik (und mehr noch: Poetik) gerechnet zu werden als Baudelaire. Aber weder in Amerika noch in England gab es eben die Sequenz Baudelaire – Rimbaud – Mallarmé, die von Valéry und anderen fortgesetzt wurde und somit erst recht zu erkennen gibt, wie der Weg der Moderne verlief. Es kann nicht deutlich genug unterstrichen werden, daß Friedrich in seinem Buch paradigmatisch vorführt, was für die neuere Literaturwissenschaft generell gilt: nationale Grenzen sind da ein Anachronismus. Der „allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft“ auch als Disziplin etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als es bei uns gemeinhin geschieht, wäre eine logische Folgerung aus dem Gesagten. Man denke nur daran, wie die „littérature comparée“ in Frankreich und die „comparative literature“ in den Vereinigten Staaten floriert. Viertens: Friedrichs Buch hat eine Entmachtung mehrerer Ismen bewirkt. Wer redet noch von Symbolismus, Impressionismus oder gar Unanimismus und Kreativismus in der Lyrik, wie es vor Friedrichs Buch üblich war? (Nur der Dadaismus und der Surrealismus haben sich ihre Existenzberechtigung bewahrt.) All diese Schulen und Richtungen konnten dank Friedrichs Einordnung als Teile einer Gesamtentwicklung erkannt werden. Sie unterscheiden sich nur partiell, nicht generell von den Tendenzen, die Friedrich als Strukturgesetze der modernen Lyrik aufgezeigt hat. So ist aus einem Flickenteppich ein Bild, aus lauter bunten Steinchen ein Mosaik geworden. Es gibt nicht viele wissenschaftliche Werke der letzten dreißig Jahre, von denen man das gleiche sagen könnte. Fünftens schließlich: Die Begriffe (das wurde schon angedeutet), in die diese historische Erkenntnis gefaßt erscheint, sind weder kompliziert noch schematisch. Hier bewährt sich das Künstlertum des Autors, der den Balance-Akt meistert, zwischen dem nicht übertragbaren, ans Einzelphänomen angeschmiegten Wort und der systematischen Kategorie die Mitte zu finden, die der Sache angemessen ist und die zugleich unserem Ordnungsbedürfnis genügt. Das Buch über die Struktur der modernen Lyrik durfte nicht geschrieben werden wie ein Buch über die altfranzösische Lautverschiebung, mit lauter kleinen Kästchen, in die fein säuberlich das etikettierte Material hineingepackt wird. Friedrich schreibt einen eigenen – hie und da auch wohl vom Freiburger Kollegen Heidegger ein wenig beeinflußten – Stil, und dieser ist dem Gegenstand angemessen. Ein Grund für den Erfolg des Büchleins dürfte darin zu sehen sein. Freilich hängt dieser Erfolg wohl auch mit der Kompromißlosigkeit zusammen, die eingangs konstatiert wurde. Oder sollte man gar von einem „apodiktischen Stil“ sprechen? Denn wer wagte es schon, Friedrich zu widersprechen? Die Leser der Struktur können sich denken, wie denen zumute war, die das bange Glück hatten, dem Meister zu Füßen zu sitzen. Mehrere Rezensenten haben dem Autor dennoch widersprochen. Einige haben Friedrichs Auslassungen kritisiert, so das fast völlige Fehlen Verlaines, des melodischen Sängers, der in die Höhenluft der Struktur nicht hineinpassen wollte. Andere haben gemeint, die Betonung der Sprachmusik und der Wortmagie werde überbetont; sie sei schon immer ein Hauptcharakteristikum der Lyrik gewesen. Wieder andere haben mehr ihrer Ablehnung der Sache das Wort geredet und damit zugleich Friedrichs Darstellung verurteilt. Vor allem aber wurde gesagt, Friedrich sei der politischen Lyrik nicht gerecht geworden: Wo, bitte, fände Bert Brecht seinen Platz in diesem Panorama, wo Pablo Neruda? Der letzte Einwand (wir sind bei den Einwänden!) ist wahrscheinlich einer der gravierendsten. Bringt man ihn vor, darf man allerdings die Entstehungszeit der Struktur nicht vergessen. Sie kann manches Fehlen entschuldigen, wenn auch sicher nicht dasjenige Brechts. Was Neruda anlangt, so hat Friedrich in der erweiterten Neuauflage seines Buches immerhin noch von der größten Dichtung des großen Chilenen, den „Höhen von Macchu Picchu“ Kenntnis nehmen können – den Autor insgesamt miteinzubeziehen vermochte er nicht mehr. Darum, und weil es sich um einen Weltrepräsentanten engagierter Lyrik handelt, der nicht etwa nur unter anderem auch Lyriker war (wie Brecht), sei ein Wort zu ihm hier nachgetragen. Neruda hat mit einer dunklen Dichtung begonnen, die mancherlei vom Surrealismus übernommen hatte, aber von Anfang an einen unverwechselbar eigenen Ton besaß. Seine frühen Liebesgedichte, die in Lateinamerika bis heute nicht vergessen, ja eher beliebter sind als die spätere politische Dichtung, sind schwer zugänglich, voller Sprachmagie, voller dissonantischer Metaphern und ,Querschläger‘, wie nur eine der von Friedrich analysierten europäischen Dichtungen unseres Jahrhunderts. Man lese nur die „Zwanzig Liebesgedichte“ oder die Gedichte des Zyklus „Residencia en la tierra“ („Aufenthalt auf Erden“). Dann aber – nach einem weiten Lebensumweg über den Fernen Osten – gelangte der Chilene kurz vor Ausbruch des spanischen Bürgerkrieges nach Madrid. Er freundete sich mit García Lorca, mit Rafael Alberti und anderen an, die alle auf der Seite der Republikaner standen, als Franco den Bürgerkrieg vom Zaune brach. Aus Solidarität engagierte Neruda sich – und fing an, politisch-kämpferisch zu dichten. Interessant ist dabei vor allem, daß der Zwang zur politischen Stellungnahme ihm neue, formelhaft-einprägsame – und das heißt vor allem kurze – Verse eingab, die der Dichter in seinen späteren, auch und gerade den unpolitischen Gedichten nicht selten beibehalten hat. Im Gegensatz zu anderen Dichtern lähmte das Engagement Neruda nicht, es inspirierte ihn und löste eine neue Produktivität aus, die bis an sein Lebensende anhielt. Neruda blieb ein moderner Lyriker und wurde doch populär; so etwas hätte, nach Friedrichs Auffassung, gar nicht sein dürfen. Es ist kennzeichnend für eben die Entwicklung, die in seinem Buch übersehen wird. Möglich wurde sie allerdings nicht zufällig in Lateinamerika, einer Weltregion, in der sich eine volkstümliche und zugleich anspruchsvolle poetisch-bildhafte Liedkunst fahrender Sänger bis in unsere Zeit erhalten hat. Nerudas Lyrik unterscheidet sich von dieser Liedkunst bisweilen kaum. Daß Lyrik anspruchsvoll sein kann, ohne esoterisch zu wirken, lehrt sein Beispiel – obwohl gesagt werden muß, daß Pablo Neruda sich aus ideologischen Gründen gern etwas populärer hinstellte, als er wirklich war. Es mag wohl auch sein, daß ihm seine Bindung an die Partei (er trat 1945 in die KP Chiles ein) gelegentlich poetische Kopfschmerzen gemacht hat. Ganz so problemlos, wie er es vorgab, dürfte auch für Neruda das Engagement nicht gewesen sein. Was er öffentlich nicht zugab, konnte man seinen privaten Äußerungen gelegentlich schon entnehmen. Immerhin: es wäre nichts unsinniger, als die politische Inspiration aus Nerudas Dichtung wegdenken zu wollen und etwa zu behaupten, er sei nur dort ein großer Lyriker gewesen, wo er apolitisch dichtete. In die Linie der Friedrichschen Struktur paßt dieser für das Dichten um die (und seit der) Mitte unseres Jahrhunderts typische Fall nicht hinein. Hier sind über Friedrich hinausgehende Überlegungen erforderlich. Dem ,Fall Neruda‘ in mancher Hinsicht ähnlich sieht die revolutionäre Lyrik der Négritude, die auf den frankophonen Antillen in den späten dreißiger Jahren entstand und die (wenigstens im ideellen Ansatz) mit derjenigen des Senegalesen Senghor verwandt ist. Auch in ihr klangen anfangs surrealistische Töne an. So faßte es jedenfalls André Breton auf, der auf der Flucht vor der deutschen Besatzung 1941 nach Martinique kam und dort Césaire entdeckte. Er hat sich in seiner Zuordnung getäuscht; denn was ihm eine aus den Tiefen psychischer Verdrängungen stammende „écriture automatique“ zu sein schien (wie er selbst sie propagierte), war in Wirklichkeit gespeist von afrikanischen Traditionen und geprägt von einem durchaus kämpferischen Engagement für die Sache der Schwarzen. War Bretons Auffassung ein Mißverständnis, so war es doch ebenso fruchtbar wie historisch bedeutsam. Denn Breton hat Césaire berühmt gemacht, und von einer gewissen Nähe der surrealistischen zur afrikanischen Dichtung kann prinzipiell durchaus gesprochen werden. Hier wie dort sind magische Vorstellungen am Werk, Vorstellungen der Art, wie der Chilene Huidobro sie einem „Regenmacher“ abgelauscht zu haben behauptete, wenn er in seiner Arte poetica schrieb:

Por qué cantais la rosa! oh, Poetas! Hacedla florecer en el poema. (Warum besingt Ihr die Rose, oh Ihr Dichter! Laßt sie erblühen im Gedicht.)

Das Konzept, das Huidobro „kreationistisch“ nannte, erinnert an die von Friedrich analysierte „diktatorische Phantasie“; aber was nicht dazu paßt, ist die politische Wirksabsicht, die der Dichtung der Négritude innewohnt. Auch hier hat die Entwicklung der Lyrik seit 1956 Wege beschritten, die in Friedrichs Struktur nicht vorgezeichnet waren. Césaires lyrisches Hauptwerk, Cahier d’un retour au pays natal betitelt und 1939 entstanden, ist übrigens ein Langgedicht mit teilweise epischen Zügen. Es zieht sich über vierzig Seiten hin und enthält litaneiartige Partien, die an Beschwörungsriten gemahnen. Auch in formaler Hinsicht (um von den ideellen Tendenzen nicht zu reden) kann Nerudas Canto General, vor allem dessen Kernstück, die „Höhen von Macchu Picchu“, danebengestellt werden. Wissen wir es von Césaire nicht, so hat der Chilene bekannt, wem er die Anregung zur Langform seines Gedichts vor allem verdankte: Es war Walt Whitman. Damit wird noch einmal ein Name genannt, der in Friedrichs Konzept der modernen Lyrik nicht hineinpaßt (er wird dort nur einmal im Zusammerhang mit Saint-John Perse erwähnt). Whitman hat jedoch in der jüngeren Lyrik der Vereinigten Staaten erst recht befruchtend gewirkt. Auch dort sind Langgedichte, „long poems“, eine häufige Erscheinung – der Name Frank O’Hara mag hier für viele andere stehen. ,Demokratische‘ Tendenzen und eine gewisse Annäherung an die Alltagswelt, an prosaisches Geschehen und eine prosanahe Sprache unterscheiden diese Dichtungen grundsätzlich von der ,aristokratischen‘ Lyrik, die Friedrich beschrieben hat. „Die Dichter sind vom Olymp herabgestiegen“, verkündete Nicanor Parra – noch einmal ein Chilene -, der dieser nordamerikanischen Lyrik nahesteht (und heute einer der interessantesten Dichter Lateinamerikas ist). Manches spricht dafür, daß in der neuen Alltagslyrik mit ihrer Prosanähe ein „Strukturgesetz“ waltet, das sich bei Dichtern verschiedenster Provenienz unabhängig voneinander beobachten ließe. Auch, und nicht zuletzt, in Deutschland, wo allerdings Walter Höllerer die neue Richtung aus den Vereinigten Staaten bekanntgemacht hat. Wahrscheinlich darf zu den bisher schon gemachten Einwänden, nein: Hinzufügungen zu Friedrichs Struktur noch der Hinweis kommen, daß nun auch in deutscher Sprache, sei’s hüben, sei’s drüben (oder von drüben nach hüben gekommen), eine neue Lyrik von Rang und Gewicht entstanden ist. Paul Celan verdiente da natürlich den ersten Platz: Er hätte ihn in Friedrichs Buch wohl auch noch finden können, weil manches an seiner rätselhaft verkürzten, anspielungsreich dunklen Lyrik sich in die darin aufgezeigten Tendenzen fügt. Und: „in jüngster Zeit läßt sich, nachdem die ,Neue Subjektivität‘ seit der Mitte der siebziger Jahre für eine Belebung des Interesses an Lyrik gesorgt hatte, eine ,Wiederkehr der Formen‘ beobachten“, schreibt ein Kenner der deutschen Lyrikszene, Lothar Jordan (brieflich). Sowie: „die siebziger Jahre standen im Zeichen des (Alltags-)Gedichts, dessen lyrischer Charakter häufig auf den Zeilenbruch reduziert war. Nun werden aus den Zeilen allmählich wieder Verse, und auch der Reim kehrt hier und da zurück…“ Sollten wir uns doch der Struktur Hugo Friedrichs wieder nähern? Wohl kaum. Denn: „Ob das nun der leicht klassizistische Schnee von gestern ist oder tatsächlich große Gedichte hervorbringt, wird man erst noch abwarten müssen“, meint Jordan. Welche Strukturen die Postmoderne kennzeichnen werden, von der in der Kunst (also warum nicht auch in der Lyrik?) heute gesprochen wird, läßt sich in der Tat noch nicht sagen. Nicht einmal, wo die wirksamsten Initiativen liegen. Daß sich Lateinamerika, Nordamerika und Afrika von der zukünftigen Entwicklung nicht wegdenken lassen, scheint sicher. Insofern erweitert sich das Feld; Europas Grenzen, innerhalb derer Friedrich sich noch bewegen konnte, sind auch hier bereits überschritten. Dennoch ist nichts von dem, was sich in der hiermit neuaufgelegten Struktur der modernen Lyrik dargestellt findet, falsch. Man muß es nur aus der Distanz sehen, die Klassiker einnehmen, wenn die Zeit über sie hinweggegangen ist, und wir erkennen, was von ihnen bleibt. Ist Friedrichs Buch zu einem Klassiker über die Klassiker der Moderne geworden, so verringert das seinen Wert nicht – es steigert ihn eher noch.

Jürgen v. Stackelberg, Nachwort

 

In diesem klassisch zu nennenden Buch

werden die überpersönlichen, überrationalen und über die Jahrzehnte hinwegreichenden Symptome der modernen Lyrik aufgezeigt. Unter ,modern‘ wird die gesamte Epoche seit Baudelaire verstanden, unter ,Struktur‘ ein organisches Gefüge, eine typenhafte Gemeinsamkeit lyrischen Dichtens. Das kritische Bewußtsein, die intellektuelle Phantasie und die analytische Sprachkraft Hugo Friedrichs gelten als beispielhaft und vorbildlich für jede Stiluntersuchung und Werkinterpretation. Mit einem Nachwort von Jürgen v. Stackelberg.

Rowohlt Verlag, Klappentext, 1985

 

Abkehr von der Erlebnis- und Bekenntnislyrik

Der vorliegende Band feiert 50jähriges Jubiläum und möchte uns „Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts“ (Untertitel) über die Gegebenheiten der sogenannten modernen Lyrik informieren. In seinem Nachwort bezeichnet Jürgen von Stackelberg den vorliegenden Band als „mindestens ebenso ein künstlerisches wie ein wissenschaftliches Werk.“ Friedrichs Buch ist ein europäisches im Sinne der „Aufsuche struktureller Gemeinsamkeiten“ (ebd.). Verwiesen wird auf Friedrichs „apodiktischen Stil“, sowie die Vernachlässigung einiger eigentlich wichtiger Lyriker wie Brecht, George, Neruda und Whitman. Bücher wie das vorliegende werden immer in einem Spannungsfeld entstehen zwischen Fleißarbeit, literarischen Vorlieben bzw. Wahrnehmungsrastern sowie einer notwendigerweise historisch begrenzten Sichtweise. Freilich wäre es altklug, nun 50 Jahre nach der Erstauflage über mögliche Fehleinschätzungen zu richten – v.a. wenn man bedenkt, dass Friedrich bereits im Jahr 1978 starb und sein Buch zwar weiter neu aufgelegt, aber eben nicht mehr „aktualisiert“ werden konnte – es sei denn – und das wäre eine Überlegung wert – Co-Autoren hätten das Werk fortgeführt (so wie es, analog argumentiert, mit dem Grimm’schen Wörterbuch etwa geschah). Ein Schlüsselsatz aus dem Vorwort der ersten Auflage (1956) scheint zu sein: „Von Rimbaud und Mallarmé aus erhellen sich die Stilgesetze der Heutigen, und von den Heutigen aus erhellt sich wiederum die erstaunliche Modernität jener Franzosen.“ Das Problem bei Literaturwissenschaftlern und bei Rezensenten sind möglicherweise doch eventuelle Vorlieben – bzw. was übersieht man dabei absichtlich oder unbewusst. Friedrich legt zur Zielsetzung seines Buches ganz klar fest: „Eine Geschichte der modernen Lyrik will es nicht sein. Sonst hätten sehr viel mehr Autoren behandelt werden müssen. Der Begriff der Struktur macht Vollständigkeit des historischen Materials überflüssig“ – da eben nur repräsentativ gearbeitet zu werden braucht. Widersprüchlich und kontraproduktiv klingt es allerdings, wenn Friedrich sich ausdrücklich „auf keine Definition einlassen“ möchte, was moderne Lyrik sei, andererseits aber „die Symptome der harten Modernität zu erkennen“ bemüht ist – und zwar die „überpersönlichen, übernationalen und über die Jahrzehnte hinwegreichenden Symptome moderner Lyrik.“ Der Begriff Struktur definiert sich für Friedrich als „ein organisches Gefüge, eine typenhafte Gemeinsamkeit von Verschiedenem“, nämlich die „Abkehr von klassischen, romantischen, naturalistischen, deklamatorischen Traditionen.“ Für Mario Andreotti (‚Die Struktur der modernen Literatur‘) gilt vergleichsweise im Unterschied zur traditionellen Erlebnis- und Stimmungslyrik die Entpersönlichung als zentrales Strukturmerkmal der modernen Lyrik, ausgehend von Nietzsches These von der Dissoziation des Ich: „Das bedeutet allgemein eine Zurücknahme des lyrischen Ichs bis hin zu dessen völligem Verschwinden“ (vgl. Andreotti ebd.). Für Friedrich ist das grundlegende Merkmal der modernen Lyrik seit Baudelaire ihre Dunkelheit, ihre Unverständlichkeit, ihre Unruhe – kurz: ihre dissonante Spannung. So bedeutete etwa für Benn Dichten, „die entscheidenden Dinge in die Sprache des Unverständlichen (zu) erheben.“ Nach Friedrich wird Wirklichkeit im modernen Gedicht deformiert, der Autor ist als „dichtende Intelligenz“ tätig; Benn etwa dekradiert: „Gemüt? Gemüt habe ich keines.“ Moderne Lyrik will nicht „mitteilen“, sie will „überraschend befremden“ und sie will einen „Prozess der weiterdichtenden, unabschließbaren, ins Offene hinausführenden Deutungsversuche“ auslösen. Und noch eine Feststellung ist interessant: „dichterische Originalität rechtfertigte sich aus der Abnormität des Dichters.“ Was natürlich stillschweigend voraussetzt, dass man die traditionelle, harmonieorientierte und auf eine Ordnung vertrauende Lyrik, ja Literatur und Kunst insgesamt als „Norm“ setzt – was problematisch sein dürfte. Daraus resultiert auch Friedrichs (uneingestandenes?) Problem, dass er meint, man könne moderne Dichtung „weit genauer mit negativen als mit positiven Kategorien“ beschreiben. Bereits für Novalis sollte das „Chaos in jeder Dichtung durchschimmern“, und Friedrich Schlegel bestimmte das „Excentrische und Monströse“ als Voraussetzung dichterischer Originalität. Insofern waren solche Gedanken deutscher Romantiker eigentlich Wegbereiter der französischen bzw. westeuropäischen „Moderne“! Friedrich sieht offensichtlich ebenso wie T.S. Eliot in Baudelaire „das größte Beispiel moderner Dichtung in irgendeiner Sprache.“ Er und Poe fordern die Abkehr von jeglicher persönlicher Sentimentalität, die „willentliche Unpersönlichkeit“ der Dichtung. Ästhetik beruht demnach auf Vernunft und Kalkül, Metaphern bekommen eine „mathematische Genauigkeit.“ Baudelaire steigert sich bis zum „aristokratischen Vergnügen zu mißfallen“ – er will „den Leser irritieren und nicht mehr von ihm verstanden werden.“ Wiewohl er seinen „Ekel am Wirklichen“ artikuliert, zerlegt er mit Hilfe der Fantasie die Realität und erzeugt eine neue, irreale, unkontrollierbare Welt. So gelangt Friedrich zu dem Schluss, Baudelaires Dichtung sei „entromantisierte Romantik“ – aus Randeinfällen einiger Romantiker hat er ein Denkgebäude moderner Poesie errichtet. Friedrich geht nun sehr detailliert und dezidiert auf verschiedene ihm wichtig und repräsentativ erscheinende Autoren ein – wie etwa Rimbaud („er nimmt den inneren Tod auf sich“), Mallarmé („Er macht die unendliche Potentialität der Sprache zum eigentlichen Inhalt seiner Dichtungen“) oder auf etliche weitere europäische Vertreter (Apollinaire, Lorca, Valéry, Eliot). Dabei erkennt Friedrich: „Unstimmigkeit zwischen Zeichen und Bezeichnetem ist ein Gesetz moderner Lyrik. (…) Der Stil … verwehrt den Inhalten ihren Anspruch auf Eigenwert und Kohärenz.“ Die „neue Sprache“ soll den Leser „überraschen“, das Schreiben in Stichworten zeigt das Fragmentarische, das Isoliertsein – das Zeigen wird stenografisch. Von Ortega y Gasset stammt die These von der „Enthumanisierung der Kunst“ (1925) – weil „die humane Empfindung, die durch ein Kunstwerk hervorgerufen wird, von dessen ästhetischer Qualität ablenkt.“ So entsteht im Extrem die „menschenlose, ichlose“ Lyrik – Dichtung wird (schein)objektiv. Und es kommt zur paradoxen Aufgabe der Sprache in der modernen Lyrik, „einen Sinn gleichzeitig auszusagen wie zu verbergen.“ Man möchte „dunkel“ dichten – hermetisch – so nur glückt die Vollendung! Da nach Valéry ohnehin keine Erkenntnis möglich ist, ergibt sich auch aus dem modernen Gedicht kein „wahrer Sinn“. Konsequenter noch als Valéry landet Apollinaire, von dem der Begriff Surrealismus stammt, beim Traum als Gegenentwurf zur Weltrealität. So heißt es etwa auch in Benns Gedicht „Der Traum“: „auf nichts auf Erden beziehn sich seine Namen.“ Schließlich mündet diese Entwicklung u.a. ins Absurde, zum Ausdruck kommt in einer seltsamen Art „Humorismus“ die „Unstimmigkeit zwischen Mensch und Welt“ (vgl. Gómez de la Serna, Ismos). Bei T.S. Eliot heißt es am Ende von „The Waste Land“: „Diese Fragmente habe ich gegen meine Ruinen gestützt.“ Die moderne Dichtung versucht also das Unsagbare zu artikulieren, während ihr die Sprache zerbricht. Die „diktatorische Fantasie“ (Rimbaud) erschafft etwas, was wir nie sehen werden – im Grunde hatte Picasso, als er das „Malen ein Blindenhandwerk“ nannte, diese Freiheit der Kunst (der Poesie) von jeder gegenständlichen Rücksicht allgemeingültig für die sogenannte Moderne erkannt und artikuliert. Friedrich gelingt hier der Nachweis der Befindlichkeit moderner Lyrik zwischen vordergründiger Realität und behaupteter Transzendenz in der dissonanten Irrealität. Da sich im Anhang noch eine ganze Reihe von Gegenüberstellungen fremdsprachiger Gedichte mit deutschen Übertragungen finden, kann der Leser auch am praktischen Beispiel versuchen, die hier vorgestellten Thesen nachzuvollziehen. Ein im positiven Sinne beunruhigendes Buch, mit dem es sich immer noch auch nach 50 Jahren zu arbeiten lohnt.

KS, sandammeer.at, 12/2006

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Jakob Bachmann: Hugo Friedrich
Die Tat, 21.12.1974

Fakten und Vermutungen zum Autor + Kalliope

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