Hundert Gedichte des Jahrhunderts

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch Hundert Gedichte des Jahrhunderts

Hundert Gedichte des Jahrhunderts

AN MEINE LANDSLEUTE

Ihr, die ihr überlebtet in gestorbenen Städten
Habt doch nun endlich mit euch selbst Erbarmen!
Zieht nun in neue Kriege nicht, ihr Armen
Als ob die alten nicht gelanget hätten:
Ich bitt euch, habet mit euch selbst Erbarmen!

Ihr Männer, greift zur Kelle, nicht zum Messer!
Ihr säßet unter Dächern schließlich jetzt
Hättet ihr auf das Messer nicht gesetzt
Und unter Dächern sitzt es sich doch besser.
Ich bitt euch, greift zur Kelle, nicht zum Messer!

Ihr Kinder, daß sie euch mit Krieg verschonen
Müßt ihr um Einsicht eure Eltern bitten.
Sagt laut, ihr wollt nicht in Ruinen wohnen
Und nicht das leiden, was sie selber litten:
Ihr Kinder, daß sie euch mit Krieg verschonen!

Ihr Mütter, da es euch anheimgegeben
Den Krieg zu dulden oder nicht zu dulden
Ich bitt euch, lasset eure Kinder leben!
Daß sie euch die Geburt und nicht den Tod dann schulden:
Ihr Mütter, lasset eure Kinder leben!

Bertolt Brecht

 

EINE GEREIMTE REDE FÜR DEN PRÄSIDENTEN

Herr Keuner, gefragt, wie er verfahre, wenn er ein Gedicht für das Staatsoberhaupt zu schreiben habe, würde antworten: „Ich schreibe es und sorge, daß es ihm entspricht.“ – „Das Gedicht?“ – „Nein, das Staatsoberhaupt.“
So auch Keuners Erfinder. Am 2. November 1949 gratuliert er dem bereits drei Wochen zuvor gekürten Präsidenten der neuen, provisorischen Republik:

Lieber Genosse Wilhelm Pieck, darf ich Dir, um meine Freude über Deinen Amtsantritt auszudrücken, ein kleines Gedicht schicken, dessen Sprecher Du noch viel besser sein könntest als der Dichter? Sehr herzliche Grüße, auch von Helli, Dein bertolt brecht.

Beigelegt ist die flehentlich formulierte, mit der Widmung „Bertolt Brecht für Wilhelm Pieck“ versehene Ansprache „An meine Landsleute“. Ihr Titel nimmt die Begrüßungsformel auf, mit der sich Pieck an die Deutschen in Ost und West zu wenden pflegt.
Und die vier Strophen nehmen ihn beim Wort – beim Eid, den er auf die Verfassung der DDR geschworen hat: „Friedliebend“ vor allem soll diese Republik sein und demokratisch, auf daß sie sich allen Deutschen als Modell für den dermaleinstigen Einheitsstaat empfehle („Anmut sparet nicht noch Mühe, Leidenschaft nicht noch Verstand, daß ein gutes Deutschland blühe“, empfiehlt Brecht in seiner ebenfalls im Oktober 1949 entstandenen, ebenfalls an die Landsleute gerichteten Paraphrase des Deutschlandliedes).
Brecht und seine Frau Helene (Helli) Weigel haben Pieck als freundschaftlichen, lebhaft an ihren Plänen und Überlegungen interessierten Gesprächspartner schätzengelernt, als sie 1948, vor der endgültigen Rückkehr aus dem Exil, die Möglichkeiten sondierten, in Ost-Berlin für ganz Deutschland das „Theater des neuen Zeitalters“ zu eröffnen. Was Wunder, daß der Dichter den nunmehrigen Präsidenten für den richtigen Mann im wichtigen Amt hält: kein kalter Funktionär, sondern ein potentieller Landesvater, dem er helfen möchte, Popularität zu erlangen.
Schon bei den Kleinen will er für ihn werben – zum Beispiel mit dem Kinderlied „Willems Schloß“ (das freilich erst aus dem Nachlaß ans Licht kommen wird). Von diesem Wilhelm Pieck erwartet Brecht, daß er die Landsleute wirksam zu der strikt pazifistischen Haltung ermahnen werde, die das ihm so nachdrücklich zugeeignete „kleine Gedicht“ predigt. Der Präsident wäre die viel bessere Besetzung für die Sprecherrolle, weil er, anders als der Autor, über die Autorität verfügt, das Textbegehren als Staatsziel zu beglaubigen. Die Bitte an die Landsleute, nicht in neue Kriege zu ziehen, bliebe ja rein rhetorisch, wenn den Angesprochenen nicht das demokratische Grundrecht zuerkannt würde, über ihr Wohl und Wehe selbst zu entscheiden. Deshalb ist das Gedicht auch ein Appell an Pieck: Er möge Sorge tragen, daß die den Ostdeutschen vorerst nur verordnete Republik ihre Legitimation (durch die für Oktober 1950 angesetzten „Volkswahlen“) erfahre. Dahingestellt bleibt, ob Brecht wirklich hofft oder gar erwartet, Pieck werde die gereimte Rede öffentlich vortragen. Komische Nebenwirkungen wären kaum auszuschließen, zumal da die vier Strophen in ihrer quasiliturgischen Struktur, ihrem altertümelnd-kirchennahen Vokabular und Gestus eher einem Gebet, einer Anrufung (oder den „Bittgängen“ der Hauspostille) ähneln als einem politischen Aufruf. Es würde genügen, wenn Pieck seine Zustimmung zum Text bekundete.
Die aber bleibt aus. Schon bald wird sich Brecht belehren lassen müssen, daß unbedingter Pazifismus von Übel, weil dem Klassenfeind dienlich sei. Das Verhör des Lukullus muß er zur „Verurteilung“ umschreiben. Immerhin hindert ihn niemand daran, das für ihn so wichtige Gedicht als seine persönliche Bittschrift unter die Landsleute zu bringen, was er auch immer wieder tut. Doch wen und was kann er damit erreichen? Nach den „Volkswahlen“ von 1950 durften sich die DDR-Bürger gar nicht mehr angesprochen fühlen, da sie ja, angeblich aus Einsicht, nahezu hundertprozentig für den „Friedensstaat“ und mithin für den richtigen Frieden votiert haben. (Weh dem, der sich später, nach Anordnung der Wehrpflicht, auf Brecht berufen und sich weigern wollte, für die gerechte Sache „zum Messer“ zu greifen!)
Im Westen aber wird das Gedicht als DDR-Propaganda zurückgewiesen, sogar von Brechts Freund und Verleger Peter Suhrkamp. Daß es als Beitrag zum Friedenskampf außerhalb der DDR tauge, meint wohl auch Wilhelm Pieck, der Brecht am zweiten Jahrestag der DDR den Nationalpreis erster Klasse überreicht. Die Verleihungsurkunde rühmt den Dichter als einen, der hilft, „den Kampf für den Frieden zu führen“, und nennt unter den dazu tauglichen Dichtungen ausdrücklich auch „An meine Landsleute“. Erst als 1964, acht Jahre nach Brechts, vier Jahre nach Piecks Tod, der oben zitierte Brief vom 2. November 1949 veröffentlicht wird, erfahren beider Landsleute, was der Dichter angestrebt und was der Präsident unterlassen hatte.

Wolfgang Werth

 

 

 

Vorwort

Was meint der Titel Hundert Gedichte des Jahrhunderts? Vielleicht die besten, die schönsten, die wichtigsten, die bedeutendsten Gedichte? Nein, mit einer solchen Auswahl kann ich nicht dienen. Ich bin auch nicht sicher, ob es jemanden gibt, der sie tatsächlich und mit voller Verantwortung liefern könnte. Wer literarische Texte prüft und beurteilt und sich Gedanken macht, welche dieser Texte sich für eine Blütenlese (griechisch: anthologia) eignen, der wird, das wollen wir hoffen, gründlich und sorgfältig vorgehen, und er wird dann streng und sachlich entscheiden. Gewiß, es fragt sich nur, ob hier eine ganz und gar sachliche Entscheidung möglich, mehr noch, ob sie überhaupt wünschenswert ist.
Zu Romanen, Novellen oder Dramen gehören immer auch die Gefühle und die Gedanken, die diese Arbeiten im Bewußtsein des Lesers verursacht und ausgelöst haben.

Der wahre Leser muß der erweiterte Autor sein.

Dies forderte vor rund zwei Jahrhunderten der große Novalis. Das soll heißen: Was immer geschrieben wird und wie gelungen es auch sein mag – es bedarf doch, wenn es leben soll, der Ergänzung durch jene, an die sich der Autor wendet. So sind literarische Arbeiten zu einem Teil auch des Lesers Werk. Sie sind das, was er sich aus ihnen macht – und zwar im doppelten Sinn dieser Redewendung, also das, was er sich in seiner Vorstellung zurechtlegt und was sie ihm bedeuten.
Dies alles gilt erst recht für die subtilsten und zartesten, für die subjektivsten und individuellsten Gebilde der Literatur – für Gedichte. Eben damit hat es zu tun, daß gerade Gedichte sehr unterschiedlich aufgenommen werden können. Läßt sich dies nur solchen von einem gewissen literarischen Rang nachsagen? Nicht unbedingt. Denn es geschieht nicht selten, daß schöne Gedichte unterschätzt und weniger schöne bewundert, wenn nicht gar geliebt werden.
Aber warum bereitet dem Leser bisweilen auch ein schwaches Gedicht viel Freude? Vielleicht deshalb, weil dieser Leser es schon seit seiner Kindheit kennt, weil es ihn an eine bestimmte Situation erinnert oder an eine bestimmte Person, an seine Mutter etwa oder an eine Geliebte oder, ein ganz anderer Grund, weil es in seinem Gedächtnis mit einer unvergeßlichen Melodie verknüpft ist, von Schubert oder von Schumann oder auch von einem weniger anspruchsvollen Komponisten, sogar von einem solchen, der das Banale und das Sentimentale nicht meidet.
Und der Inhalt eines Gedichts? Die in der Literatur immer leidige, wenn nicht fatale Trennung von Inhalt und Form ist in der Lyrik gegenstandslos. Denn die Form – das ist schon der Inhalt des Gedichts, von der Form bezieht es seine Existenzberechtigung. Gleichwohl ist die Frage nach dem Sinn der Worte, die der Dichter aneinandergereiht hat, nicht überflüssig. Nur stellt sich immer wieder heraus, daß viele Leser mit Gedichten viel Mühe haben – mehr Mühe als mit Romanen oder mit Geschichten.
Daher folgt in unserem Band auf jedes Gedicht eine Interpretation, verfaßt von einem Kenner der Poesie, von einem Lyriker oder Kritiker, einem Essayisten oder Literaturhistoriker, einem Erzähler oder Dramatiker. Werden also dem Publikum die richtigen, die einzig zulässigen Deutungen geboten? Nein, keineswegs. Solche Deutungen gibt es nicht: Wenn ein Gedicht gut ist, dann läßt es sich durch keinen Kommentar erschöpfen.
Vielmehr werden von den Interpreten Vorschläge und Angebote unterbreitet, die oft das Subjektive und Individuelle nicht verbergen. Sie helfen dem Leser, indem sie ihm zeigen, wie man diese Gedichte begreifen kann, und nicht etwa, wie man sie begreifen muß. So sind Kommentatoren erweiterte Autoren im Sinne von Novalis. Und bisweilen tragen sie dazu bei, daß aus dem Leser ein erweiterter Autor wird.
Zur subjektiven und individuellen Sicht bekennt sich auch der Herausgeber dieser Anthologie. Mit anderen Worten: Ich habe Gedichte ausgewählt, die mir gefallen, solche, die ich schätze oder bewundere oder gar liebe. Darunter sind viele, die beinahe jeder kennt – und manche, die für diesen oder jenen Leser einer, so hoffe ich, Entdeckung gleichkommen werden.
Im zwanzigsten Jahrhundert konnte sich die deutsche Lyrik – trotz Rilke und Trakl, trotz Brecht und Benn, trotz Celan und Ingeborg Bachmann – nie recht behaupten und blieb Sache einer Minderheit. Aber wir sollten die Rolle der Poesie in dieser Epoche nicht verkennen. Unsere Welt, deren Darstellung im vergangenen Jahrhundert, zumal in seiner zweiten Hälfte, den Romanciers und in noch höherem Maße den Dramatikern ungewöhnlich große und häufig unüberwindbare Schwierigkeiten bereitete, entzog sich der lyrischen Formulierung nicht: Wo die Dramatiker verstummten und die Romanciers ratlos schienen, da war es ihnen, den Lyrikern, gegeben, zu sagen, was und wie sie leiden, was und wie wir leiden.

Marcel Reich-Ranicki, Vorwort

 

Sich an Gedichte heranwagen

Der Band wurde bereits im Jahr 2000 herausgegeben und versammelt Gedichte bekannter Lyriker wie Morgenstern, Rilke, Hesse, Benn, Tucholsky, Brecht, Kaschnitz, Jandl, Biermann und vieler anderer, die im vergangenen Jahrhundert eine Rolle im Literaturbetrieb spielten. Jedem Gedicht folgt eine zwei- bis dreiseitige Interpretation, die nicht, wie der Einband des Buches vermuten lässt, von Reich-Ranicki verfasst wurden, sondern von unterschiedlichen Kennern der Poesie: Lyrikern, Kritikern, Essayisten, Literaturhistorikern, Erzählern oder Dramatikern. Die Gedichte sind vielfach erschütternd oder schwermütig, umschreiben sie doch schwierige Lebensumstände in einem schwierigen Jahrhundert. Immer wieder scheint aber auch Ironisches, Humorvolles oder Hoffnungsfrohes auf. Vereinzelt sind Liebesgedichte dabei.
Ich habe die vorliegende Sammlung über einen längeren Zeitraum hinweg mit großer Begeisterung gelesen. Zunächst kreuz und quer, dann systematisch von vorne nach hinten, um nichts zu versäumen. Das Textangebot hat mir neue Horizonte erschlossen, denn bislang wagte ich mich nicht an Gedichte heran. Ich hatte immer die Befürchtung, ratlos dazustehen und vieles nicht verstehen zu können. Dieses Buch gab mir jedoch die Möglichkeit, jedes Gedicht erst einmal auf mich wirken zu lassen, eigene Gedanken zu entwickeln und dann durch die beigefügte Interpretation doch noch ein zusätzliches Angebot an Hintergrundinformationen und Deutungsansätzen zu erhalten. So machte es mir stets Freude, das jeweilige Gedicht nach der Lektüre des beschreibenden Textes ein weiteres Mal zu lesen und dadurch neu oder verändert erfahren zu können. Ich möchte das Buch jedem ans Herz legen, der sich ohne umfassende Vorkenntnisse an Gedichte heranwagen will. Es eignet sich bestens, um einen Überblick über moderne und zeitgenössische Lyrik zu bekommen.

Carla, amazon.de, 21.11.2013

 

 

Zum 100. Geburtstag des Herausgebers:

Sven Hecker: Marcel Reich-Ranicki – Zum 100. Geburtstag des Literaturpapstes
mdr KULTUR, 2.6.2020

Armin Kratzert: Marcel Reich-Ranicki: Populär und einsam
BR Kultur, 1.6.2020

Elke Heidenreich: Da habe ich gesagt: Du kannst mich mal!“
Der Spiegel, 28.5.2020

Volker Weidermann: Er fehlt
Der Spiegel, 29.5.2020

Alexander Solloch: Der Kritiker. Zum 100. Geburtstag von Marcel Reich-Ranicki
NDR, 31.5.2020

Wolf Scheller: Marcel Reich-Ranicki: Herr der Bücher und ,Kritikerpapst‘
Der Standart, 2.6.2020

Jens Bisky: Es hielt ihn nicht im Sessel
Süddeutsche Zeitung, 1.6.2020

Karl Heinz Bohrer: Unser Erzieher
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.6.2020

Marc Reichwein: Der sprechende Literaturpapst
Die Welt, 2.6.2020

Jochen Hieber: Der Redakteur für Literatur
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.6.2020

Andreas Platthaus: Wunschlos kritisch
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.6.2020

Sandra Kegel: Professori Marselij Rikas-Rannikken
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.6.2020

Elvira Grözinger: Dem „Literaturpapst“ Marcel Reich-Ranicki zum 100. Geburtstag
Jüdische Rundschau, 6.6.2020

 

ttt – titel, thesen, temperamente: 100 Jahre Marcel Reich-Ranicki

 

 

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Ich, Reich-Ranicki.

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