Iain Galbraith (Hrsg.): Beredter Norden

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Iain Galbraith (Hrsg.): Beredter Norden

Galbraith (Hrsg.)-Beredter Norden

URKNALLFORSCHUNG

An ihren Gedichten erkenne ich sie,
an den Anhängen, die nicht zu öffnen sind.

„Es ist soeben fertig. Nicht ganz. Geht
die letzte Zeile doch zu weit?“

Dann gebe ich Tipps,
tippe: „Besuche

sind mir die liebsten Gedichte.
Kommt und bleibt … die Woche?“

Briefe treffen ein, seltener.
Könnte Papier aus Laub gemacht werden?

Der Herbst ist vorbei. Wir sind binär,
aber nicht nur Ziffern…

Ich höre Anhänge, Anhänge
waren ein Zufallsprodukt

Der Urknallforschung.
Das Upgrade (du kennst
das neue Upgrade?) −
es wird

alles öffnen.

Richard Price
übersetzt von Michael Donhauser

 

 

 

Zum Geleit

(…)

Aufgrund vieler Unterbrechungen und Neuanfänge erstreckte sich die Vorbereitungsarbeit für Beredter Norden auf den ungewöhnlich langen Zeitraum von etwa fünfzehn Jahren. Dank diesem Umstand wie auch der Tatsache, daß gerade die beiden zurückliegenden Jahrzehnte von profunden Wandlungen in der schottischen Politik, Kultur und Gesellschaft geprägt waren, erhielt dieses Buch eine Vielzahl von verschiedenen, ja manchmal widersprüchlichen Impulsen, so daß die Feststellung einer genauen Geburtsstunde kompliziert geworden ist. Wie schon angedeutet, entstand der Erstentwurf dieses Bandes in den politisch angespannten 1990er Jahren, in der das sprachliche, ästhetische und gesellschaftliche Selbstbewußtsein schottischer Künstler eine starke Wirkung auf die Meinungs- und Willensbildung im Land hatte. In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts verlor dann die schottische Poesie binnen zwei Jahren vier der herausragenden Dichter des 20. Jahrhunderts: 1996 verstarben Sorley MacLean, der, wie es hieß, die gälische Dichtung eigenhändig in die Moderne herübergerettet hatte, der große Dichter und Erzähler der Orkney-Inseln George Mackay Brown wie auch der scharfäugige Beobachter Norman MacCaig. Nur zwei Jahre später folgte der melancholische, manchmal jedoch urkomische ehemalige Schulmeister aus Oban, Iain Crichton Smith, der Romane, Kurzgeschichten und Essays schrieb und dessen Gedichte auf gälisch und englisch erschienen…

Die Anthologie Beredter Norden greift auf die ganze Bandbreite schottischer Lyrik seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts zurück. Es erschien dem Herausgeber wichtig, nicht nur Texte der bedeutendsten Lyrikerinnen und Lyriker der verschiedenen Epochen, Sprachen, Regionen und Generationen zusammenzuführen, sondern auch die unterschiedlichen Textarten zu berücksichtigen, wobei Auszüge aus längeren Werken wie Hugh MacDiarmids ,In Memoriam James Joyce‘, Sydney Goodsir Smiths ,Under the Eildon Tree‘ oder Hamish Hendersons ,Elegies for the Dead in Cyrenaica‘ neben Prosagedichten, Sonetten und anderen kürzeren Formen stehen sollten. Konkrete Gedichte – etwa von Edwin Morgan oder Ian Hamilton Finlay – konnten aus Platzgründen kaum berücksichtigt werden (siehe jedoch ,Glinderin‘ von Christine De Luca oder ,Net‘ von Robin Robertson), obwohl diese durchaus im Bildteppich schottischer Dichtung ihren Platz haben. So war es auch in einem Band dieses Umfangs nicht möglich, das Werk aller Lyrikerinnen und Lyriker darzustellen, die zum Reichtum der schottischen Lyrik im 20. Jahrhundert beigetragen haben: Peter McCarey, Roddy Lumsden, Elizabeth Burns, Veronica Forrest-Thomson, Ron Butlin, Thomas A. Clark, Burns Singer, Robert Alan Jamieson, Tom Hubbard, Gerry Cambridge, Bashabi Fraser, Ken Cockburn, Alastair Mackie, D.M. Black, George Bruce, Alasdair Gray, Rody Gorman, G.F. Dutton, A.B. Jackson oder Angus Calder hätten einen Platz in dieser Sammlung verdient…

Ian Galbraith, Auszüge aus dem Vorwort, 25.1.2011

 

Die Anthologie Beredter Norden

berücksichtigt die ganze Bandbreite schottischer Lyrik seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Schottland verfügt über drei moderne Literatursprachen. So gesellen sich ältere englischsprachige Dichter wie der große Sorley MacLean oder jüngere wie der 1972 geborene Kevin MacNeil dem Englischen hinzu. „Scots“ wiederum, die dritte Sprache, besteht aus acht Dialektgruppen, die mancher Sprachkünstler gern durcheinanderwirbelt und mit obsoleten oder gar erfundenen Wörtern spickt. 25 unserer besten Vermittler, Nachdichter und Eindeutscher haben diesen Reichtum an Sprachen und Dialekten in ein ebenso reiches Deutsch gebracht.

Edition Rugerup, Klappentext, 2011

Mit dieser viersprachigen ‚beredten‘ Retrospektive gilt es,

eine im deutschen Sprachraum ungewohnte und ergiebige Perspektive auf die Dichtung der britischen Inseln freizulegen. Beredter Norden bietet 125 Gedichte von über 50 schottischen Dichtern aus den Jahren 1900 bis 2005. Hier findet man die wichtigsten schottisch-englischsprachigen Dichter, von Edwin Muir bis Edwin Morgan, von Douglas Dunn bis Carol Ann Duffy. Das kleine Schottland hat drei moderne literarische Sprachen, so gesellen sich gälische Dichter wie der große Sorley MacLean oder jüngere Gälen wie der 1972 geborene Kevin MacNeil dem Englischen hinzu. ‚Scots‘ wiederum, die dritte Sprache, besteht aus 8 Dialektgruppen, die von manchem Sprachkünstler (etwa Hugh MacDiarmid oder dem viel jüngeren W.N. Herbert) – mit obsoleten oder gar erfundenen Wörtern gespickt – gern durcheinandergewirbelt werden. So viel Babel war nie! Wer wird es also den Herausgebern verübeln, wenn sie die deutsche als weitere Sprache herbeirufen: Glücklicherweise haben nämlich einige unserer qualifiziertesten Vermittler, Nachdichter und Eindeutscher angeboten, den schottischen Gedichten aufs Fahrrad zu helfen: Raoul Schrott, Ulrike Draesner, Jan Wagner, Guy Helminger, Michael Donhauser, Evelyn Schlag, Wolfgang Schlüter, Christa Schuenke, Peter Waterhouse, Franz Josef Czernin und andere – allesamt Meisterinnen und Meister ihres Faches. Auf das Ergebnis dürfen wir gespannt sein.

Edition Rugerup, Ankündigung

 

Vom Reiz der Beunruhigung

− PORTRÄT Iain Galbraith, schottischer Dichter in Wiesbaden, legt eine Lyrik-Anthologie vor. −

„Jaja“, sagt er, „es ist dick, unhandlich, aber auch sehr voll.“ Iain Galbraith, seit 1982 Wiesbadener und auch bei der diesjährigen Biennale durch seine Übersetzung von „Das war ich nicht“ für die Englischen Besucher präsent, hat sein neues Buch mitgebracht: 545 Seiten dick, über ein Kilo schwer und voller Gedichte. Schottischer Gedichte. Denn „ich bin Schotte und möchte, dass die Deutschen die Lyrik meiner Heimat kennenlernen.“ Auf keinen der 66 Autoren wollte er verzichten, erst recht nicht auf die deutschen Übersetzungen der Gedichte – denn darum geht es ja in seiner Anthologie. Um Originaltext und dessen deutsche Übertragung.
Oder sollte man besser ,Nachdichtung‘ sagen? Galbraith selbst ist sowohl Lyriker wie versierter Übersetzer. Er weiß sehr gut, dass wortwörtliche Übersetzung des Originals in eine andere Sprache unmöglich ist („banale“ Einsicht) und Haltung („heroisch“) nötig ist, das Unmögliche dennoch anzugehen. Er bürdete den Kraftakt aber nicht nur sich selbst auf. Galbraith gewann eine Menge renommierter Mitstreiter, darunter Ulrike Draesner (Wiesbadener Poetikdozentin 2010), den Mainzer Heinz G. Hahs, die Literaten Raoul Schrott, Peter Waterhouse und viele mehr. Die Übersetzer kennt er persönlich – er selbst hat deren Werke ins Englische übertragen. Und so hat Galbraith sie „mit der Regung eines Migranten“ auch strategisch geködert: Der Austausch von Poesien war gewollt, die schottische sollte sich in den Köpfen der Nachdichter/innen festsetzen und Teil des eigenen Werkes werden. Und die Nachdichtungen wiederum dem großen Publikum zur Verfügung stehen.
Und noch ein Drittes hat den Mittfünfzigjährigen gereizt: Die ausgewählten Gedichte von John Davidson bis Jen Hadfield sind ja nicht nur in einfachem Schulenglisch geschrieben. Drei Sprachen werden vorgelegt: Scots, Gälisch und Englisch. Wobei die beiden Erstgenannten völlig verschieden sind – untereinander und sich vom gebräuchlichen Englisch abheben. Scots (westgermanisch) wird noch von etwa 30 Prozent der Einwohner Schottlands gesprochen; das keltische Gälisch, Verkehrssprache nur noch auf der Inselkette der Hebriden, ist veraltet, trotz aller Wiedererweckungsversuche. In Gedichtform aber hält auch sie sich noch.
Und das Gedicht – in welcher Sprache auch immer – sowieso. Iain Galbraith bedauert zwar schon, dass britisches Publikum aufgeweckter auf die literarische Tradition reagiert als das deutsche; doch mangelnde Popularität sei ja kein Indiz für lyrische Qualität. Die liege in der Doppelfunktion von „Bedeutung und Sprache“. Eine Gefahr gehe vom Gedicht aus: „Es stellt eine Unsicherheit fest“, definiert Galbraith. Diesem Reiz der „Beunruhigung“ folgt er, wenn er selbst Gedichte aussucht, die er auch für diesen Band selbst übersetzt hat. Er hätte auch ein Begleit-Hörbuch einlesen sollten – schließlich trägt er alle versammelten Sprachen sicher vor. Das aber ließ sich nicht mehr produzieren – 15 Jahre Vorbereitung auf das Buch waren lang genug.

Viola Bolduan, Wiesbadener Tagblatt, 25.6.2012

Haben Gedichte überhaupt Gewichte?

– Ein vielstimmiges Schottland: Iain Galbraith hat die Anthologie Beredter Norden herausgegeben. –

Es könnte eine eindeutig und leicht zu beantwortende Frage sein: Wie schwer wiegt die schottische Lyrik des 20. Jahrhunderts im Deutschen? Doch bei näherer Hinsicht und gegenfragend scheint der Sachverhalt sofort komplexer und schwerer zu werden: welche schottische Lyrik, in welcher Sprache verfasst, in welchem Schottland? Und darüber hinaus: Wie verschieben sich die Gewichte in der Übersetzung, in der Sprach(ver)wandlung, wird darin noch ganz Anderes erkennbar?
Haben Gedichte überhaupt Gewichte: wenn im Buch wie auf Waagschalen einerseits das Original, andererseits die Übersetzung zu liegen kommt; wenn dem Gälischen, Englischen, dem Sprach-Amalgam der „Scots“-Dialekte nicht nur Hochdeutsches, nicht nur experimentell und artifiziell angehauchte, sondern auch schwäbische, wienerische oder pustertaler Idiome antworten? Und löst nicht der Blick der zeitgenössischen Übersetzersprachen auf das vergangene Jahrhundert endgültig auch jene an lineare Zeitlichkeit gebundene Orientierung auf und wirft den Leser auf sich selbst, aufs Hier-und-Jetzt zurück?
In diesem luftigen, somit fast unwiegbaren, ja auch unwägbaren Terrain steckt die von Iain Galbraith umsichtig, material- und kenntnisreich herausgegebene Anthologie Beredter Norden ein vielstimmiges Schottland von beeindruckender Heterogenität ab: 66 Dichterinnen und Dichter der Geburtsjahrgänge von 1857 bis 1978 geben einen Eindruck von der Vitalität und Welt-Offenheit des schottischen Sprachraums, den zugleich 25 Übersetzer mit reichem poetischem Landgewinn ins Deutsche zu übertragen wissen.

Denn das ist die Poesie, die ich will,
Die zwischen allen Themen vagabundiert
Und in der Zeit hin und her streunt,
Doch im Wesentlichen genauso gezügelt ist
Wie die Saeta oder der Flamenco-Gesang.

Diese Verse von Hugh MacDiarmid (1892–1978), der wohl schillerndsten Figur der Erneuerungsbewegung „Scottish Renaissance“, könnten gleichsam das Motto dieser verlegerisch so mutigen wie bewundernswerten Unternehmung von Margitt Lehberts Edition Rugerup formulieren. Denn über das Schottische hinaus eröffnet die Sammlung europäische, um nicht zu sagen kosmopolitische Horizonte; Erinnerungs- und Erfahrungsräume, vibrierend von urbaner und multiregionaler Pluralität und – natürlich! – naturgesättigter Rauheit und Schönheit. Und man geht nicht zu weit, den Texten die Virulenz der auch aktuell brisanten Frage nach schottischer Identität und politischer Eigenständigkeit in historisch unterschiedlicher Gewichtung abzulesen.
All diese Kräfte wirken zugleich zentripetal, halten auf den imaginären Kern eines „Scotia“ zu, wie sie zentrifugal in eine modern zerrissene Wirklichkeit streben, deren utopisches Potential noch nicht erschöpft zu sein scheint. Vielleicht wird dabei die zwischen Konstitution, Gefährdung und Scheitern zu vermessende „terra incognita“ der Poesie der luftig tragende Grund für Einübungen in die zukunftsweisende Kritik einer immer schon multikulturellen Gegenwart.

Der Norden ist immer woanders (…).

Und um nun die Eingangsfrage zu beantworten: Hier liegt ein Kilo schottische (und deutsche) Lyrik vor – ausreichend Leseproviant in vorzüglicher Qualität, um so bestens versorgt durch den bevorstehenden Herbst und Winter unseres erlesenen „Scotland“ zu kommen: ein poetisches Referendum in der höchsten Gewichtsklasse.

Andreas Kohm, Badische Zeitung, 16.9.2014

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00