Ilse Aichinger: Kurzschlüsse. Wien

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ilse Aichinger: Kurzschlüsse. Wien

Aichinger-Kurzschlüsse. Wien

AM KANAL

Der Sektierer wohnt am Ufer. Das Wasser rinnt dort
aaaaaeisgrau
vorbei. Wer ihn besucht, wird mit Lebensmitteln und
aaaaawol-
lenen Kleidern beschenkt. Der Sektierer hat Gott an
aaaaaeinem
Tag erkannt, er braucht keinen Augenblick. Du wirst
aaaaain die Arme geschlossen.

Die Geflügelfarm ist auch nicht weit. Da tummeln sich
die Tauben: die Tauben mit den Schöpfen, mit den weißen
Sporen an den Füßen. Sie fliegen auf und fallen in den Hof
und bleiben auf der Erde, bis es Abend wird. Die Helme
nicken. Wo das Vordach zu Ende ist, spenden die Fasane mit
den braunen Flügeln Schatten. Die fremden Hähne stehen
auf einem Bein.

Wer freut sich auf Schnee und Eis, wer hat drüben die Wölfe
gesehen? Das waren die Kinder, die auf der Zille spielten. Sie
sind nach Hause gegangen. Der Himmel wacht über allen,
die zum Opfer bestimmt sind.

 

 

 

Die Orte, die wir sahen, sehen uns an

„Steigt ein, wenn ihr geschaukelt werden wollt, wenn ihr nicht fürchtet, daß die schiefen Häuser auf euch fallen, daß die Stützen knicken.“ („Rennweg“) Sich mit und in Ilse Aichingers Kurzschlüssen durch Wien zu bewegen, bedeutet ein Wagnis. Nicht weil man sich dabei verirren könnte – die in den Überschriften genannten Straßen und Plätze sind leicht aufzufinden. Aber weil die Gefahr droht, dass man sich an den vertrautesten Orten nicht mehr auskennt, dass sie gar über einem zusammenbrechen. Denn hier wird nicht Sehenswürdiges abgebildet und erläutert, sondern Bekanntes entfremdet und gewohnter Zusammenhang aufgelöst.
Der Gang durch die Stadt beginnt beim Stephansplatz, dem zentralen Orientierungspunkt von Wien:

Etwas kommt in den Sinn. Jagt nicht und biegt nicht ein wie Wagen, die vom Stephansplatz in eine Nebengasse wollen, sondern biegt ein wie die Straße selbst, hat Knopfgeschäfte und Kaffeehäuser in sich, öffnet und verbirgt vieles, zeigt die Schaufenster und alles, was vorne liegt, und läßt die Magazine im Dunkel.

Fiaker, Schaufenster, Kaffeehäuser und Knopfgeschäfte – das entspricht unseren Erwartungen. Doch welch irritierende Verhältnisse herrschen hier! Wir treten ja nicht auf den Stephansplatz hinaus, sondern dieser biegt mit seinen Knopfgeschäften und Kaffeehäusern in die Nebengasse ein, in der wir uns offensichtlich befinden, er kommt uns um die Ecke entgegen. Nicht wir betrachten den Ort, sondern er sieht uns an, zeigt Schaufenster und verbirgt Magazine. Statt dass wir eine berühmte Sehenswürdigkeit wiedererkennen, wissen wir mit dem berichtenden Ich um Nebensächliches, Abseitiges und Vergessenes.

Ich weiß von den Schokoladekuchen, von der Hochzeit des Joachim und der Anna, die sie vergessen haben, von der Judengasse, in die der Wind weht. So hilft uns der Himmel.

Der Dom, das spirituelle Zentrum der Stadt, wird nicht erwähnt. Verheißungsvoll erscheint dafür, dass es Wolle und Schuhe zu kaufen gibt und dass die grasbewachsene Stiege hinunterführt.

Laßt doch die Sonne ruhig matter werden! Es gibt Wolle und Schuhe zu kaufen in den Seitengassen. Und eine Stiege, mit Gras bewachsen, führt hinunter.

Die Elemente dieses Ortes sind vertraut. Sie stehen zueinander aber in einem so paradox dynamischen Verhältnis, dass der Versuch, sie zu einem Gesamtbild zu integrieren, scheitern muss; die schiefen Häuser fallen auf uns, die Stützen knicken.
Was bleibt, ist die Möglichkeit, die Trümmer am Weg durch die Stadtmitte einzeln von allen Seiten zu betrachten und nach möglichen Zusammenhängen und Anschlüssen zu suchen. Da ist zu finden: am Hohen Markt, nordöstlich vom Stephansplatz, der barocke Vermählungsbrunnen, auf dem zwar nicht die „Hochzeit des Joachim und der Anna“ dargestellt ist, aber die von Maria und Josef. Das Monument, das einen Bezug zwischen der Habsburger-Dynastie und der Heiligen Familie herstellt, wurde errichtet, nachdem Josef I. heil aus dem Spanischen Erbfolgekrieg zurückgekehrt war. „Vergessen“ wurde das Monument insofern, als es als einziges Bauwerk am Hohen Markt von den Kriegsbomben nicht zerstört wurde.
Weiter führt der Weg in die Judengasse mit dem im gleichnamigen Text genannten Kopfsteinpflaster, den „Katzenköpfen“, zwischen denen „das Gras wächst“. Da die zum Donaukanal abfallende Geländestufe am Ende der Judengasse seit den Bombardierungen von 1945 unverbaut ist, weht tatsächlich oft der Ostwind in die Gasse hinein. Die erwähnte Stiege führt über diese Geländestufe zum Morzinplatz am Franz-Josefs-Kai hinunter. Da war während des Zweiten Weltkriegs die Wiener Gestapo einquartiert, und in unmittelbarer Nähe davon, in der Marc-Aurel-Straße, lebte Ilse Aichinger mit ihrer Mutter in einem Zimmer, das ihnen nach der Arisierung der Wohnung der Großmutter zugewiesen worden war. Hierher, zur ehemaligen Zentrale des nationalsozialistischen Verbrechens, die die Deportation und Ermordung von Ilse Aichingers jüdischen Verwandten anordnete und sie selbst als „Mischling ersten Grades“ zwangsverpflichtete, führt die Stiege so verheißungsvoll hinunter, denn ausgerechnet hierher bringt aus der Gegenrichtung der Ostwind die Hilfe des Himmels.
Vielleicht fügen sich die betrachteten Trümmer der Stadtmitte nun doch zu einem Bild? Es entsteht nicht ein objektives Abbild, sondern ein dynamisches, subjektives Bild, das „in den Sinn“ kommt, wie es am Beginn von „Stadtmitte“ heißt. Es entsteht ein Bild, das gleichsam im blinden Spiegel von Ilse Aichingers berühmter „Spiegelgeschichte“ gesehen ist, in dem das Leben unter der Umwertung aller Werte rückwärts verläuft. Ein Bild, das sich nicht leicht an die Wand hängen lässt, weil es „uns vorerst die Wände nimmt, an die wir es hängen könnten“ („Die Sicht der Entfremdung“), um dann zusammenzuschauen, was weder an einem einzigen Standort noch zu einem einzelnen Zeitpunkt gesehen werden kann, aber durch eine grundlegende Erfahrung verbunden ist: Aus Bedrohung geht Hoffnung hervor, ein Ende wird zum Neuanfang. Dies gilt für die erinnerten biografischen Situationen aus der Kindheit und der Kriegszeit genauso wie für die historischen Ereignisse und die biblischen Geschichten, auf die verwiesen wird. Und es gilt auch für die Gegenwart der Lektüre, die gewohnte Bilder zerstört, um neue entstehen zu lassen, die den Text in die Zukunft öffnen. Auch dahin führt die Stiege. Die Schuhe stehen in den Schaufenstern bereit.

Ilse Aichinger veranstaltet kein Sightseeing und sie versendet keine sanft kolorierten Ansichtskarten aus Wien. Dafür ist sie dieser Stadt zu sehr verbunden, in der sie am 1. November 1921 geboren wurde, in der sie einen großen Teil ihrer Jugend und die Kriegsjahre verbracht hat, die sie 1938-45 nicht verlassen durfte und eben deshalb später nicht mehr verlassen konnte. Ruth Klügers Satz, „Wien ist die Stadt, aus der mir die Flucht nie gelang“, trifft auch auf Ilse Aichinger zu. Nachdem sie ab 1950 lange Zeit in Deutschland und in Großgmain bei Salzburg gelebt hat, wohnt sie seit 1988 wieder hier. In ihrer Literatur bildet Wien durchgehend einen zentralen Bezugspunkt: ungenannt, aber deutlich erkennbar im Roman Die größere Hoffnung und in Erzählungen des Bandes Der Gefesselte; explizit und genau lokalisiert in den abgründigen Dialogen „Zu keiner Stunde“, in den autobiografischen Texten Kleist, Moos, Fasane und im „Journal des Verschwindens“; als Hauptgegenstand in den größtenteils 1953/51 entstandenen Prosagedichten Kurzschlüsse.
Kehrt Ilse Aichinger schreibend nach Wien zurück, dann nicht mit dem Ziel, traumatische Erlebnisse zu verarbeiten, um sich von ihnen allmählich distanzieren zu können. Im Gegenteil, sie sucht in der Topografie dieser Stadt nach den intensiven Farben, dem besonderen Licht, das sie da einst wahrgenommen hat und seither vermisst.
Darauf kann aus dem Essay „Die Sicht der Entfremdung“ geschlossen werden, dem Porträt des Weltumfahrers Ernst Schnabel, in dessen Berichten und Geschichten Ilse Aichinger ihre eigene Poetik erkannte. Hier schreibt sie 1952 über ihre Gegenwart:

Man könnte diese Zeit die Zeit der erwachsenen Leute nennen, der tiefe Raum, in dem während der Kindheit und frühen Jugend die Szenen abliefen, hat seine Dimension verloren. Noch während wir hinsahen, ist der Vorhang niedergegangen, die Figuren sind eingezeichnet und bewegen sich nicht mehr.

Ilse Aichinger nimmt in der Nachkriegszeit, deren technische Errungenschaften eine nie dagewesene Mobilität ermöglichen, eine Einschränkung der inneren Beweglichkeit wahr, die sich darin äußert, dass dem Betrachter die Welt zur Zweidimensionalität einer Postkarte verflacht und erstarrt. Dieser Zustand steht im Gegensatz zur „Sicht der Kindheit“, in deren weitem Spielraum „die Orte zu Orten werden“, Weihnachten auf Weihnachten fällt und die Welt zusammenhält, wie es der autobiografische Text „Vor der langen Zeit“ beschreibt.
Die Sicht der Kindheit, der Zustand absolut sinn- und hoffnungsvoller, Ich und Welt weit umfassender Gegenwärtigkeit ist für Ilse Aichinger mit Wien verbunden. Hier war sie Kind und hier hat sie vor dem Krieg und im Krieg als Jugendliche und junge Erwachsene diese Intensität noch einmal erlebt: „Damals, als die äußere Bedrängnis der inneren zu Hilfe kam und beide zusammen wie Engel den Augenblick wieder in sein Recht setzten. […] Denn vermutlich hat die äußerste Bedrängnis mit der äußersten Geborgenheit mehr zu tun als das Mittlere mit beidem von ihnen.“ („Vor der langen Zeit“) Was die Bedrängnis mit der Geborgenheit verbindet, ist die Konzentration auf die Gegenwart. Im Krieg verengten die Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten, der stets präsente Abschied, die Nähe des Todes die zeitliche Perspektive auf den Augenblick. Und dessen Ausdehnungslosigkeit ist identisch mit dem Gegenteil, der Unendlichkeit des Kindheitsraumes. Ernst Schnabels spießbürgerlicher Ingenieur, der über Bord eines Ozeandampfers gefallen ist, erlebt diesen Umsprung des Augenblicks in die Unendlichkeit: Aus der aussichtslosen Perspektive des Ertrinkenden wird ihm das Schiff zum „Schatten gegen die Sterne hin“. Ilse Aichinger sieht darin „sehr deutlich unsere Situation, auch wenn es gerade nicht der Indische Ozean ist, in den wir gefallen sind und aus dem wir durch ein Wunder wieder gerettet wurden“.
Wie die Sicht des Ertrinkenden und die daraus hervorgehende Hoffnung auch nach der Rettung zu erhalten wäre, diese Frage beschäftigt Ilse Aichinger in den 50er-Jahren vor allen anderen. Die „die Blindheit der Gewöhnung“ durchstoßende „Sicht der Entfremdung“, die der Ausnahmezustand mit sich brachte, muss in Zeiten der Normalisierung bewusst aufgesucht und eingeübt werden. „Der Columbus von heute“, ist Ilse Aichinger überzeugt, muss „nicht die fremde Welt bekannt machen“, „sondern die allzu bekannte fremd.“ Und so preist sie gegen den „Unsinn des Sightseeing“, gegen das neumodische Spiel des „Mensch, wundere dich nicht!“ vehement das „älteste von allen Spielen, das doch immer alle neuen Spiele an Neuheit übertrifft“: „Mensch wundere dich!“ Das Spiel ist nicht einfach, denn es setzt voraus, dass man sich von allem Vorgefassten, von allen bekannten Spielen löst, dass man nicht nur die vertrauten Bilder entfernt, sondern auch die Wände durchstößt, an denen sie hingen, damit die verlorenen Dimensionen wiedergewonnen werden. Der Preis für dieses Spiel ist hoch, doch:

Fast alle von uns haben diesen Preis in den vergangenen Jahren bezahlt, aber nur die wenigsten haben begriffen, wofür, haben sich selbst als Schatten gegen die Sterne begriffen, als etwas ungeheuer Fremdes, das Nächste als das Fernste und die Heimat als die Fremde, die sie zugleich ist.

Wer es aber begriffen hat, der kann, „was gegen ihn gerichtet scheint, wenden“ und diese „Erfahrung zum Ausgangspunkt nehmen, um das Leben für sich und andere neu zu entdecken“ („Das Erzählen in dieser Zeit“), der kann gerade in seiner Ausgesetztheit eine Heimat gewinnen, ein Zuhause, das nicht mit der Wohnadresse gleichzusetzen ist, wie Ellen im Roman Die größere Hoffnung die Frage nach ihren Personalien präzisiert: „Wo ich gewohnt habe, war ich noch nie zu Hause.“ So sind die Kurzschlüsse als Ilse Aichingers Versuche zu lesen, da, wo sie gewohnt hat, fremd zu werden, damit die Orte ihr zum Zuhause werden.

Die Orte, die Ilse Aichinger beschreibt, liegen um die Ecke, neben oder hinter den historisch, kulturell oder touristisch relevanten Plätzen. Auch die Zentren ihrer Biografie, die ehemaligen Wohnorte, werden nie direkt erwähnt. Auffällig viele der genannten Straßen und Plätze befinden sich aber in deren Nähe, umkreisen sie. Die Verbindungsbahn und der gleichlaufende Rennweg bilden mit der Kleist-, Moos- und Fasangasse (die einem autobiografischen Text den Titel geben) ein Rechteck, das die Hohlweggasse im 3. Bezirk umgibt. Hier lebte die Großmutter, bei der Ilse Aichinger einen großen Teil ihrer Kindheit verbracht hat. Von da aus besuchte sie die Volksschule und das Gymnasium des Instituts Sacré Cœur am Rennweg. Nachdem die Wohnung der Großmutter 1938 arisiert wurde, wohnte Ilse Aichinger mit ihrer Mutter in dem erwähnten Zimmer in der Marc-Aurel-Straße und war in der Apothekenbuchstelle am Schwarzenbergplatz dienstverpflichtet. Im Brennpunkt von Silbergasse, Hohe Warte und Hungerberg liegt die Huleschgasse in Döbling, wo Ilse Aichinger mit ihrer Mutter wohnte, nachdem diese dort 1948 eine Stelle als Ärztin in einem Pflegeheim für Todkranke angenommen hatte.
Aichingers Prosagedichte sind in den Gassen der täglichen Gänge verortet, auf den Plätzen, an denen Freundinnen und Bekannte gewohnt haben, in den Straßen, durch die die Emigranten ihre Heimat verließen, Tausende ins KZ deportiert wurden und die Davongekommenen, Mitläufer und Täter nach dem Krieg weiterhin gingen. Hier verbindet sich für Ilse Aichinger höchste Vertrautheit mit dem radikalsten existentiellen Befremden. Hier kann und muss sich die „Sicht der Entfremdung“ einstellen, der Riss in der Wahrnehmung, der Sprung, der den Kindern beim Tempelhüpfen („Conzagagasse“) und dem Kater in der Wohnung am Parkring eine selbstverständliche spielerische Bewegung ist, den Erwachsenen aber den Boden ihrer vermeintlichen Gewissheiten unter den Füßen wegzieht. Hier ereignet sich der Kurzschluss, in dem sich Anfang und Ende vereinen und im selben Augenblick im Übermaß der frei werdenden Energie verglühen so wie Ellen im Sprung in die „größere Hoffnung“ von einer explodierenden Granate zerrissen wird, „ehe die Schwerkraft sie wieder zur Erde zog“.
Jedes von Ilse Aichingers Prosagedichten beschwört und gestaltet den Moment des Kurzschlusses. Eingeleitet wird er stets von einer Beschleunigung und Intensivierung der Sinneseindrücke, vor allem der akustischen. Das Tellerklirren im Philippshof „wächst zur Betäubung“. In der Ungargasse schreien die Spatzen, bei der Roßauerkaserne läuten die Glocken und geben dann auf einmal einer großen, unbewegten, aber nach allen Seiten hin durchlässigen Stille Raum, in der eine neue, einfache, mit sich identische Wirklichkeit aufscheint, sich zeigt. Kennzeichen dieser Wirklichkeit sind einfache Formen und Bewegungen, reine Farben („Das Blau ist weggezogen und hinterließ sich selbst.“ „Börsegasse“) und die Umkehrung aller Verhältnisse.
In diesem Moment bezeichnen die Grenzen nicht mehr das Ende eines abgeschlossenen Raumes, sondern den Anfang des grenzenlosen Anderen außerhalb. Die in den Texten omnipräsenten Mauern und Dächer öffnen den Raum, vor den verschlossenen Verladebüros im Ghetto „Im Wird“ sogar zum ersehnten „fremden Land“.
Die Grenzen werden zur Symmetrieachse, über die das Diesseits im Jenseitigen ein ergänzendes Gegenüber erhält. Die Achse des Flusses – die Donau und ihr Seitenarm, der schmutzig trübe Donaukanal – verbindet die Orte in der Stadt mit einer Peripherie weit jenseits der Stadt- und Landesgrenzen im Osten. Durch die Richtung ihrer Ausfallstraßen und Bahngeleise sind die Bezirke am Kanal seit je von dieser Himmelsrichtung geprägt, ungarisch, byzantinisch, türkisch und jüdisch. „Auf der Landstraße beginnt der Orient“, bemerkte Metternich, Ilse Aichinger findet hier einen liegen gebliebenen „Sarazenensäbel“. Aus dieser Himmelsrichtung sind die meisten Juden gekommen („als die Sonne unterging, sind wir ihr nachgezogen“, „Judengasse“), und als der kleine Aspernbahnhof im 3. Bezirk für die Judentransporte gebraucht wurde, führten die Geleise der Verbindungsbahn ostwärts in die polnischen Lager, in die Vernichtung und zugleich – provozierend paradox – einen Schritt auf das jüdische Sehnsuchtsland zu, das den äußersten Referenzpunkt dieser Himmelsrichtung bildet.
In der Umkehrung des Verhältnisses von Figur und Grund, von Bild und Negativ, bestimmen die Nebenschauplätze die Topografie, die Peripherie definiert das Zentrum, und das Elementare verleiht der Zivilisation die Kontur. In der Judengasse wächst Gras zwischen den Steinen, hinter den Mauern breitet sich das Grün der Gärten aus. Am Parkring kann man „die Luft gegen die Mauer hin zittern sehen“. Der Ostwind weht in die Judengasse. Die Springflut der Hochsee strömt Im Werd ein. Der Himmel nährt die Flammen der Speicher der Gonzagagasse. Die Schneewüsten erwarten die vom Rennweg Wegfahrenden, die Wüste erhebt sich, um ihre Stadt zu holen („Parkring“).
Durch das Elementare gedeckt, verdichtet sich der diesseitige Raum und dehnt sich gleichzeitig nach allen Seiten aus. Aus dem Fenster am Parkring gesehen, fahren „die Wagen allmählich den Kreuzungen zu“. Das Zimmer selbst dehnt sich nach unten über die drei Stockwerke tiefere Sprachschule bis in die Kohlekeller, hinauf bis zu den Baumwipfeln, die „zu berühren“ sind, und hinüber zu den Straßen, die wie Philosophen und Klöster heißen.
Im gespannten Gleichgewicht von Ausdehnung und Verdichtung entsteht die endlich-unendliche Form des Kreises. Die Kirchenkuppeln runden sich so viel versprechend wie der „Kreidebogen“ des Tempelhüpf-Spiels in der Gonzagagasse; die Bank um den nie abgeholten Grabstein auf dem Hungerberg lädt zum Verweilen ein.
Auch die Zeit vereint sich im Kreuzungspunkt mit dem Ort: „Hügelzüge mit Tagen verbündet, abgegrenzte Gärten mit Jahren, Weinstöcke mit Augenblicken: das gibt die Bilder.“ („Hungerberg“) Dies geschieht vornehmlich in den Tageszeiten, die der geziehen Nutzung entzogen sind, in den freien Stunden am Sonntag Nachmittag. Hier kommt die Zeit zu sich selber, schließt sich kurz im Augenblick, im mächtigen Jetzt. Im Jetzt ist alles zu Ende und jedes Ende wird zum Anfang. Warum zerreißen im Philippshof am Karfreitag die Tempelvorhänge nicht? Vorerst weil die aus ihren Wohnungen Vertriebenen sie in Kisten gelegt haben. Dann aber auch weil jetzt Fenster und Flügeltore aufgerissen werden, weil sich im Moment des Todes die österliche Auferstehung ereignet. Aus dem Zeitkontinuum herausgehoben, ist jeder Augenblick singulär und als solcher durchlässig auf die anderen Augenblicke hin, die vergangenen, die erinnert, und die zukünftigen, die vorweggenommen werden – nicht nur von der Alten beim Tor zu den Rothschildgärten, die „Anfang und Ende voraussah“. Der Vergangenheitsraum reicht von der Nachkriegssituation mit den Besatzungssoldaten über Momente des Kriegs, historische Ereignisse wie Mozarts Tod („Verbindungsbahn“) und die Pest („Am Graben“) bis zu den biblischen Situationen von Untergang und Neuanfang, die die temporale Analogie bilden zur elementaren Natur in der äußersten Peripherie des Raumes: die Ostergeschichte („Philippshof“), die Hochzeit von Joachim und Anna („Stadtmitte“), der Auszug aus Ägypten („Judengasse“), die Arche Noah („Seegasse“).
Im Jetzt ist die Wiederholung des Einmaligen – die „Sicht der Kindheit“ in der „Zeit der Erwachsenen“ – möglich. Die drei Schwestern, die an der Verbindungsbahn wohnen, sind erwachsen geworden, nachdem sie zum Ball gegangen sind und der Vater gestorben ist, sie verlassen die Schule. Heute Nachmittag aber dürfen sie als Erwachsene die Kinderspiele neu spielen: „Wer geht vor dem Abend noch einmal über den Steg und bläst das Lied durch die Blätter? Wer hilft die Wagen zählen und stellt die Gartenstühle wieder in den Rauch?“

Die Kurzschlüsse sind, das zeigt sich, sobald man nach Hintergründen und Zusammenhängen ihrer Motive sucht, aufs Engste mit Ilse Aichingers Biografie verknüpft. Gleichzeitig ist ihre Person in den Texten aber ganz zurückgenommen, was wiederum gleichzusetzen ist mit dem Gegenteil: ganz hineinbegeben.

Indem ich mich ganz hineinbegebe in Ort und Stunde, werde ich herausgehoben, werde ich als Kreuzungspunkt ich selbst.
(„Aufzeichnungen 1950-1985“)

Auch das Ich ist in den Ort einbezogen, mit der Rückendeckung der „Nachschau haltenden“ Engel in Kierkegaardscher Denkform „von Gott geglaubt“, „aufgehoben“ wie die „verlorene Münze auf dem stillen Platz“ in der Josefstadt.
Als Einzelnes herausgehoben, ist das Ich mit allen Figuren verbunden, deren Lächeln davon zeugt, dass sie das Finden nicht mehr suchen, weil sie das Suchen gefunden haben. Bettler und König, Geistliche, Krankenschwestern, Verkäufer und Besatzungssoldaten verharren in der gleichen dynamisch-ruhenden, auf ein unbestimmtes Ziel hin offenen Haltung. Sie warten, wachen, ruhen, sammeln, lesen. Sogar die beflügelten Kreaturen, Gegenstände und Gebäude befinden sich in diesem Zustand. In der Seegasse sammeln sich am Ufer „die Bienen und suchen ihre letzte Königin“. Das Dach, die Mauer, das dunkle Zimmer in der Grünentorgasse sind wie die vielen Kirchen, Klöster, Botschaften und Gaststätten vom Warten beflügelt.
Was die Autorin betrifft, muss zu den genannten Tätigkeiten noch das Schreiben hinzugefügt werden. Schreiben bedeutet für Ilse Aichinger weniger erfinden als finden, Beschäftigung mit dem, was sie vorfindet, mit dem „Kuvert mit der alten Schrift“ aus der Landstraße zum Beispiel. Sie betrachtet es mit anarchisch-spielerischer Genauigkeit von allen Seiten, bis die Oberfläche den Blick frei gibt zum Grund, wo die „großen Ströme der Kindheit“ („Die Sicht der Entfremdung“) fließen und die Worte durch so viel Schweigen gedeckt sind, dass es eine „verheißung“ ist, wenn die Straßen wie Philosophen oder Klöster „heißen“ („Parkring“).

Simone Fässler, Nachwort

 

Editorische Notizen

Ilse Aichingers Prosagedichte zu Orten in Wien sind unter dem Arbeitstitel Maulwürfe entstanden (den viele Jahre später Günter Eich weiterverwendete); seit 1954 sind sie in unterschiedlicher Auswahl und Kombination unter Titeln wie Straßen und Plätze oder Orte in verschiedenen Zeitschriften und Anthologien erschienen; den Titel Kurzschlüsse. Wien hat Ilse Aichinger für diese erste vollständige Edition neu gesetzt. Ebenfalls neu sind die Überschriften „Am Kanal“ und „Grünentorgasse“. Angeordnet wurden die Texte in Absprache mit der Autorin nach den Wiener Bezirken, vom Zentrum zur Peripherie.
Die Kurzschlüsse sind zwischen 1953 und 1955 entstanden, als Ilse Aichinger nach der Heirat mit Günter Eich am Chiemsee und dann in Lenggries (Oberbayern) lebte. Wahrscheinlich stammen auch die erst 1970 publizierten Texte aus dieser Zeit. Eine Ausnahme dürfte „Castellezgasse“ bilden. Dieser im Insel Almanach auf das Jahr 1971 abgedruckte, für Marie Luise Kaschnitz geschriebene Text (deren Mann in der Castellezgasse aufgewachsen ist) weist eine enge Verwandtschaft auf mit den im Band Schlechte Wörter veröffentlichten Prosagedichten von 1970/71.

 

Wien

ist ein zentraler Bezugspunkt von Ilse Aichingers Schreiben. In die Topografie dieser Stadt sind ihre Erinnerungen eingeschrieben, die „äußerste Geborgenheit“ der Kindheit ebenso wie die „äußerste Bedrängnis“ der Kriegszeit, als ihre jüdischen Verwandten deportiert wurden und sie die Stadt als „Mischling ersten Grades“ nicht verlassen durfte.
Die in den fünfziger Jahren entstandenen Prosagedichte Kurzschlüsse, die hier erstmals vollständig versammelt sind, umkreisen die verminten Stellen dieses Geländes. Sie umspielen sie drohend und verheißend, bis darin, im Hier und Jetzt des Kurzschlusses, weit entfernte Räume, Zeiten und Möglichkeiten aufscheinen. Bis Juden, die das Ghetto nicht verlassen können, vor dem geschlossenen Verladebüro ihr ersehntes Land finden und der Besatzungssoldat auf dem Kanal die Arche Noah vorbeifahren sieht.
Im Essay „Die Sicht der Entfremdung“ von 1952 plädiert Ilse Aichinger für eine radikal offene Weltbetrachtung, für die Bereitschaft, sich zu wundern, die Orte erst „zu Orten werden läßt und ihnen ihre Namen neu gibt“, und liefert damit die Poetologie zu den Prosagedichten.

Edition Korrespondenzen, Ankündigung

 

Vom Schrei der Stummfilmstars

Sie bleibt unterwegs. Fast achtzigjährig, kümmert sich Ilse Aichinger wenig um den Nimbus, Autorin von Klassikern zu sein. Allnächtlich auf den Gassen und in den Kinosälen Wiens anzutreffen, bleibt Aichinger den „unspektakulären Genauigkeiten auf der Spur“ und legt diesen Herbst gleich zwei Bücher vor: Beide sind Textsammlungen – eine historisch, eine hochaktuell −, und beiden eignet ein hohes spezifisches Gewicht.
In bibliophiler Gestaltung legt die Wiener Edition Korrespondenzen mit Kurzschlüsse. Wien eine Sammlung von Prosagedichten vor, welche während der mittleren fünfziger Jahre verstreut in Zeitschriften erschienen sind. Jedes entwirft eine punktuelle Memo-Topographie jener Strassen der Stadt, welche der Erinnerung Fallen gestellt haben: „Die Orte, die wir sahen, sehen uns an.“ Es ist der Moment des Schwindels zwischen der Konkretheit der Lokale und der meist schmerzhaften Erinnerung, den diese Notate gestalten: Statt im Stephansdom und im Café Central sucht und holt Ilse Aichinger das Denkmögliche an den verdrängten Rändern und Zwischenzonen ein. Dort, wo die einst nationalsozialistisch entflammte Wienerstadt der Halbjüdin und den Ihren Wunden riss, dort, wo noch heute die Narben brennen. Der Dritte Bezirk etwa – nicht fern von Ingeborg Bachmanns „Ungargassenland“ −, wo die Grossmutter wohnte, ehe sie in das Vernichtungslager Minsk deportiert worden ist. Oder die Innere Stadt, wo man Aichingers jüdische Mutter in ein Zimmer ausgerechnet neben dem Gestapo-Hauptquartier zwang.

Wenn die Autorin in einem der Sammlung beigegebenen (1954 zuerst und zuletzt gedruckten) Essay fordert, „dass der Columbus von heute nicht die fremde Welt bekannt machen muss, sondern die allzu bekannte fremd“, formuliert sie ihr poetisches Programm. Die kargen Prosagedichte stülpen das Fremde aus dem offensichtlich Bekannten und öffnen es auf die Peripherien des Eingedenkens hin: „Unsere Reifen sind abwärts gerollt und liegen, wo sie fielen.“

[…]

Christiane Zintzen, Neue Zürcher Zeitung, November 2001 

„Wir leben von nie bewusst gewordenen Erinnerungen.“

Verschwinden und Erinnern sind die Grundklänge in Ilse Aichingers Lebensprosa. Film und Verhängnis spricht vom Kino, Kurzschlüsse von Strassen und Plätzen in Wien. Die Anlässe der Bücher und deren Erinnerungen und Skizzen sind immer konkret, so wie eben auch in den Prosagedichten aus den Jahren 1953 bis 1955 die Wiener Orte, Strassen und Plätze, zum Anlass werden, sich zu erinnern: an Geschichten aus der Bibel und aus der jüngsten Vergangenheit, an Menschen und ihre Geschicke. Kurzschlüsse Wien, von der jungen Edition Korrespondenzen vorgelegt, sind Fundstücke, die in der Werkausgabe Ilse Aichingers „vergessen“ gingen. Verstreut publiziert, sind sie hier erstmals gesammelt und mit einem Text Ilse Aichingers über den Weltreisenden und Schriftsteller Ernst Schnabel ergänzt. Im Blick auf das Schreiben des anderen entwirft die Autorin hier ihre eigene Poetik. Die Luzerner Germanisten Simone Fässler beleuchtet in ihrem Nachwort diese „Sicht der Entfremdung“. Die Welt, heisst es in Aichingers Text, „ist allzu bekannt geworden“. Nichts ist mehr zu entdecken oder alles, es gehe nicht mehr darum, „die fremde Welt bekannt“ zu machen, „sondern die allzu bekannte fremd“. Das ist wieder wie das Erinnern im Vergessen, ein paradoxer und dialektischer Schritt. Im Befremden wird die Welt vertraut, im Vertrautwerden fremd.

Urs Bugmann, Neue Luzerner Zeitung, Oktober 2001

Die Erlösung war das Kino

„Verhängnis“ ist ein schweres Wort, beladen mit dem Gewicht des Unabwendbaren. Das mittelhochdeutsche Verb „verhengen“ meinte das „Geschehen lassen“ einer „göttlichen Fügung“, die dann im Zeitalter der Aufklärung in das moderne „Schicksal“ umgetauft wurde. Wenn in der Literatur der Moderne das Wort „Verhängnis“ als zentrale Signatur eines Textes auftaucht, dann werden wir in der Regel auf die letzten Dinge eingestimmt, auf die Fundamente der Existenz – auf Geburt und Tod und die tückische Lebensstrecke, die zwischen diesen beiden Daseins-Polen liegt. Die Literatur der Ilse Aichinger hält von ihrem Ursprung an, beginnend mit den legendären Prosatexten „Die größere Hoffnung“ und „Spiegelgeschichte“, auf jenes Terrain zu, das von den Schicksals-Linien des „Verhängnisses“ markiert wird. Das hat zunächst biographische Gründe. Am 1. November 1921 als Tochter einer jüdischen Ärztin und eines nicht-jüdischen Lehrers in Wien geboren, hat Ilse Aichinger ihr Dasein nie anders erfahren als Vertreibung an die Ränder der Existenz. Das faschistisch entflammte Wien der dreißiger und vierziger Jahre hat der Halbjüdin und ihrer Familie immer nur verborgene Lebens-Nischen zugestanden, wo zwar noch Träume, aber keine Hoffnungen mehr gedeihen konnten.
Von jenem Land der Träume, das ein lebenslanges Refugium bot gegen die Macht des Verhängnisses, handeln nun zwei neue, unerwartete, nach langem Schweigen veröffentlichte Bücher der Achtzigjährigen. Im zuletzt erschienenen Band, den 1987 publizierten Aufzeichnungen Kleist, Moos, Fasane, war das Bewusstsein der Fatalität des Daseins bis an eine kaum überschreitbare Grenze vorangetrieben. Das Leben wird hier als ein Kontinuum „tödlicher Augenblicke“ erfahren:

In der Erstarrung fällt Schreiben mit Atmen zusammen. Beide Möglichkeiten werden gleich schmal. D.h. das Schreiben schmilzt ein. Das Leben selbst wird zum Schreiben. Und ebenso schwierig. Jeder Atemzug muß für viele Stunden reichen. 1973 Die Unfähigkeit zu leben bis zum Ende ausspielen. Keine Zeit, um genug Angst zu haben. Ich bin nicht mehr darauf gefasst, geboren zu sein. Versuchen, in diesen tödlichen Augenblicken zu Hause zu sein.

[…]

Schon in ihrem Roman Die größere Hoffnung hat Ilse Aichinger den Raum der Kindheit vermessen, später dann auch in den autobiographischen Streiflichtern des kryptischen Bandes Kleist, Moos, Fasane. Zum zentralen Gegenstand werden die Straßen und Gassen der Kindheit erst in den suggestiven Vexierbildern und die Sinneseindrücke verdichtenden Prosagedichten des Bandes Kurzschlüsse. Wien. Hier regiert eine Sprache der extremen Verknappung und Aussparung, die ihr Misstrauen gegen lineare Erzählverläufe und Zusammenhänge richtet und sich lieber auf das vertrackte Paradoxon oder den skeptischen Zweifel verlässt. In den Kurzschlüssen tauchen nicht die touristischen Standard-Orte Wiens auf, sondern die unbeachteten Nebenschauplätze, an denen sich Geschichte ereignet hat. In dem Text „Judengasse“ weht z.B. der Wind aus dem Osten, jener Himmelsrichtung, die mit der jüdischen Geschichte in unmittelbarem Zusammenhang steht. Aus dem Osten kamen die meisten Juden nach Wien, und später führte in diese Himmelsrichtung der Weg in die Vernichtungslager. All diese geschichtlichen Daten, all die furchtbaren Vorgänge der Verschleppung und des Massenmords werden im Prosagedicht „Judengasse“ nicht direkt benannt, sondern in knappen Sätzen der Andeutung, in offen bleibenden Sätzen der Trauer aufgerufen. So in der „Judengasse“:

Katzenköpfe. Was unsere Straßen schmückt, sind nicht mehr die Schädel der Opfertiere. Unser Stolz ist vergangen. Hinter unseren Gängen ticken die Uhren ins graue Licht. Junge Männer fragen lächelnd nach unseren Wünschen. Da rauscht kein rotes Meer. Nur unsere Wäsche trocknet noch im Ostwind. Es ist geschehen, weil wir die Nacht nicht abgewartet haben. Als die Sonne unterging, sind wir ihr nachgezogen. Und hier ist die Stelle, an der wir müde wurden, hier bauten wir Häuser. Hier ging die Sonne unter, hier krümmten wir uns, ohne uns zu beugen. Seither wächst Gras zwischen den Steinen.

[…]

Zu den Orten des Verschwindens, die ins Herz der Finsternis führen, kehrt die Autorin in ihren Texten immer wieder zurück. So auch in ihrem Prosagedicht „Landstrasse“, das von einem Ort erzählt, an dem die Finsternis nicht enden will:

… Nicht weit, auf einer Gasse, die gleichläuft, wurde Mozart im Dunkeln auf den Friedhof gefahren, und in der dritten Quergasse nach unten, wo die Gleise unter den Brücken hinführen, wurden die Juden nach Polen gebracht. Seither ist Zeit vergangen, aber nicht viel. Die Stunden rücken langsam, während die Kinder im Stadtpark Pfauen und Schwäne füttern. Jede Nacht steigt neue Finsternis herauf und gibt sich als Ordnung aus. Aber der grauende Tag beruft sich auf den großen Fluß mit seinen Auen, der nicht weit sein soll.

Michael Braun, Deutschland Radio, November 2001

Überrumpelung zum Sein

Ihr Werk ist ein klein bisschen wie das von Samuel Beckett: ein Schreiben der sukzessiven Reduktion. Auch ist bei Ilse Aichinger ein sanfter Hohn auf alles spürbar, was nach einer Entwicklung zu Höherem aussieht. Beginnend mit dem Roman Die größere Hoffnung (1948) umgreift ein Prozess des Abspeckens und Ausradierens alle späteren Erzählungen, Statements, Hörspiele und Gedichte. In ihrer Abfolge vermitteln diese Texte den Eindruck, als ob sich hier ein Schreiben zusehends auf sich selbst konzentriert und dann eben gerade nicht zur besten aller möglichen Welten gefügt hätte. In dem Erzählband Schlechte Wörter spricht die Autorin es aus: Die besten Wörter könne sie nicht mehr verwenden, sondern nur mehr die zweit- oder drittbesten. Und gegen Ende der Spiegelgeschichte (1952) steht der Satz: „Das Schwerste bleibt es doch, das Sprechen zu vergessen und das Gehen zu verlernen, hilflos zu stammeln und auf dem Boden zu kriechen.“
Dieses Zurückdrehen des Lebensrades in die andere Richtung hatte damals (und ich nehme es vorweg: es hat auch heute) nichts mit dem Alter der Autorin zu tun. Im hohen Alter neigen die Menschen leicht dazu, das eigene Leben mit den Augen der Kindheit zu sehen. Nicht so Ilse Aichinger: Den Kinderblick hat die Autorin in ihrem ersten und bislang einzigen Roman auf den Nationalsozialismus angewandt, und damit war dieser Blick auch schon korrumpiert. Die größere Hoffnung ist, ohne selbst kindlich zu sein, das Kinderbuch einer Überlebenden. Als solches macht es konsequent mit künftigen Sentimentalitäten Schluss. Diese einzigartige Radikalität von Aichingers Werk gilt bis heute. Sie zeigt sich auch in den zwei Büchern, die jetzt (knapp vor dem 80. Geburtstag der Autorin am 1. November) erschienen sind.
Zum einen ist da ein bibliophil gestalteter Band früher Prosagedichte, den der kleine Wiener Verlag Korrespondenzen unter dem Titel Kurzschlüsse. Wien vorlegt; im gleichen Verlag ist zudem eine CD erhältlich, auf der die Autorin die Texte liest. Das zweite Buch hat der Hausverlag Aichingers, S. Fischer herausgebracht. Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben versammelt jüngste autobiographische Notizen sowie jene Filmglossen, die die Autorin unter dem Titel Journal des Verschwindens regelmäßig für den Standard schreibt. Mit dem Besuch von Kinos verbringt Aichinger heute einen Großteil ihrer Zeit. Das Kinogehen ist exzessiv und meditativ zugleich: Oft besucht die Autorin mehrere Filme hintereinander, oft sieht sie sich den gleichen Film mehrmals an.
In den Texten der frühen 50er Jahre, versammelt in dem Band Kurzschlüsse. Wien, ist vom Wiener Kino noch nicht, dafür aber umso mehr von Wiener Örtlichkeiten die Rede. Die Prosagedichte beschreiben Stadtmitte und Judenplatz, Parkring, Gonzagagasse, Börsegasse und Graben. Später geht es nach Wien 2, 3, 8, 9 und 19 hinaus. Die Strassen und Plätze der Stadt liegen in Aichingers Texten in seltsamer Weise geschichtslos da. Es ist, als ob nicht die Orte von der Betrachterin angeschaut würden, sondern als ob die Betrachterin ins Blickfeld der Orte geraten wäre. Gleich der erste Text des Bandes spricht es aus:

Die Orte, die wir sahen, sehen uns an.

Wirklich Erhellendes zu dieser „Sicht der Entfremdung“ (aber nicht nur dazu, sondern zur gesamten Poetik der Autorin) trägt der gleichnamige Aufsatz Aichingers bei, den die Herausgeberin des Bandes, Simone Fässler, den Gedichten beigegeben und damit die eigentliche Sensation des kleinen Büchleins geschaffen hat. In diesem ebenfalls zu Beginn der 50er Jahre entstandenen Text setzt sich Aichinger mit den Berichten und Geschichten von Ernst Schnabel auseinander, einem Weltenbummler, der damals ein relativ großes Publikum hatte. Aichinger dreht in ihrem brillanten Text die Erwartungshaltung an das Fremde um: Der neue Columbus, der ihr bei Schnabel begegnet, würde nicht eine fremde Welt bekannt machen, sondern eine allzu bekannte wieder fremd.
Mit Ernst Schnabels Weltbeschreibungen kehrt Aichinger in eine fremde Heimat zurück. Interview mit einem Stern nennt Schnabel das Tagebuch eines Fluges um die Welt. Darin findet sich der voll Euphorie zitierte Satz:

Seine Uhr tickte nicht mehr Sekunden, sie tickte Raum.

Zu einer solch kosmischen Einbindung hätte es niemals kommen können, hätte Schnabel nicht schon lange vorher das Fremde als einen Teil seiner selbst in sich getragen. Anders als eine bereits akzeptierte ist Alterität für Aichinger nicht vorstellbar. Um es mit Schnabel zu sagen:

Wüsten zählen nicht. Sie zählen erst, wenn man hindurch will.

[…]

Klaus Kastberger, Presse, Oktober 2001

Der Columbus von heute

muss nicht die fremde Welt bekannt machen,

sondern die allzu bekannte fremd

Im ÖBV-Atrium lud die bekannte österreichische Autorin (Ilse Aichinger) am 3. Oktober rund 160 Besucherinnen zu einer literarischen Wienreise. Eine Wien-Reise, deren Ausgangspunkt zwar bekannte Plätze und Straßen bildeten, deren Ziel es aber nicht war, „Bekanntes“ zu entfremden und „gewohnte Zusammenhänge aufzulösen“.
Nach rund 50 Jahren liegen die Prosagedichte Aichingers zu ihrer Geburtsstadt, die „sie 1938 bis 1945 nicht verlassen durfte und eben deshalb später nicht verlassen konnte“ (Simone Fässler) nun erstmals gesammelt vor.
Als „Reiseleiter“ kommentierte der Literaturwissenschaftler Richard Reichensperger die Texte. Ein Fremder, der die Stadt besucht, sei immer auf Attraktionen und Ungewöhnliches aus, „als Einheimischer zum Bild einer Stadt zu kommen, erfordert andere, tiefere Motive, Motive dessen, der in das Vergangene statt in die Ferne reist“, ein Vergleich Walter Benjamins, zitiert von Richard Reichensperger. Ein Überschreiten von Grenzen, das auch für den Grazer Kontrabassisten Peter Niklas Gruber charakteristisch ist, der die Atmosphäre der Texte einfühlsam musikalisch umsetzte:
Der „Blindheit der Gewöhnung“ die „Sicht der Entfremdung“ entgegenzusetzen, müsse in Zeiten der Normalisierung bewusst geübt werden, ist auch Ilse Aichinger überzeugt. Im Gespräch mit der Schweizer Literaturwissenschaftlerin und Herausgeberin des Buches; Simone Fässler, begründet sie damit auch die Wahl des Titels: Kurzschlüsse, dass nämlich „Augenblicke ohne Kurzschlüsse“ mindestens ebenso unerträglich sein können wie „Kurzschlüsse“, dass aber beide gegenseitig sich bestätigen…“ „Der Kurzschluss ist die Vollendung der Katastrophe, die sich aus sehr vielen Nichtkurzschlüssen ergibt, die für mich aber schlimmer sind.“

Eva Enichlmayr, ÖBV, Dezember 2001

„Unsere Welt ist allzu bekannt geworden,

sie durchfahren und überflogen und nach allen Richtungen durchquert, wir haben mit unseren Flug- und Schiffahrtslinien die Landkarten durchkreuzt und sind blind geworden“ – so beginnt Ilse Aichinger schöner Essay aus dem Jahre 1954 über Berichte und Geschichten von Ernst Schnabel.
In ihm bedauert sie, dass „der tiefe Raum“, in dem während der Kindheit und frühen Jugend die Szenen abliefen“, seine Dimension verloren hat. Es gäbe kaum Wunder mehr, die Welt sei dem Betrachter zur Zweidimensionalität einer Postkarte verflacht.
Ilse Aichinger, in Wien aufgewachsen, kehrt in diesem Text zu magischen Orten ihrer Kindheit und Jugend zurück. Sie veranstaltet in diesen Texten, die hauptsächlich zwischen 1953 bis 1955 entstanden sind, tatsächlich kein Sightseeing, versendet keine kolorierten Ansichtskarten aus Wien. Vielmehr sind es verstörende Skizzen bekannter Orte in Wien. Vom Stephansplatz, Judengasse, Schwarzenbergplatz, dem Graben über die Landstraße, Ungargasse, ins Wird, Castellezgasse, der Seegasse, Josefstadt bis raus zum Hungerberg und Nussberg.

Wolfgang Gauglhofer, Bücherschau, Februar 2002

Die Dichterin des Verschwindens

Alles an Ilse Aichinger ist ungewöhnlich, sogar für eine Dichterin. Mit 27 hat die Wienerin, nach den für sie prägenden Kriegsjahren, den Roman Die größere Hoffnung veröffentlicht und wurde damit einigermaßen bekannt. Dann folgten Gedichte, Hörspiele, bis sie – so um 1985 herum – dichterisch völlig verstummte. Deshalb erregte es ziemliches Erstaunen, als sie ab Oktober 2000 regelmäßig kleine Beiträge für die Tageszeitung Der Standard schrieb – meist zum Thema Film. Sie schrieb damit ein „Journal des Verschwindens“. „Ich will verschwinden“, erklärte sie bereits vor sechs Jahren gegenüber der deutschen Wochenzeitschrift Die Zeit. Und warum? „Ich hatte schon als Kind den Wunsch zu verschwinden. […] Der Wunsch ist immer noch da. Ich habe es immer als eine Zumutung empfunden, dass man nicht gefragt wird, ob man auf die Welt kommen will. Ich hätte es bestimmt abgelehnt.“

Wer das Werk Ilse Aichingers begreifen will, muss sich ein wenig mit ihrer Biografie beschäftigen, denn ihre Texte sind voll mit Verweisen auf ihre persönliche Geschichte.
In Wien geboren am 1. November 1921 als Tochter einer jüdischen Ärztin und eines (nichtjüdischen) Lehrers, wuchs sie mit ihrer Zwillingsschwester in Erdberg auf. Bald schon musste sie unter den Repressionen des Naziregimes leiden, ihre Großmutter und ihre Tante kamen in Konzentrationslagern ums Leben. Trotzdem bemerkt sie später: „Der Krieg war meine glücklichste Zeit. Der Krieg war hilfreich für mich. Was ich da mitangesehen habe, war für mich das Wichtigste im Leben. Die Kriegszeit war voller Hoffnungen. Man wusste sehr genau, wo Freunde sind und wo nicht, was man in Wien heute nicht mehr weiß.“
Aber Überleben ist für Aichinger relativ („Man überlebt nicht alles, was man überlebt“), nicht überlebt hat sie den „Anblick meiner Großmutter im Viehwagen auf der Schwedenbrücke in Wien. Und die Leute um mich herum, die mit einem gewissen Vergnügen zugesehen haben.“
1948 erschien der großartige Roman Die größere Hoffnung, ihr Medizinstudium hatte sie inzwischen abgebrochen, und sie machte die Bekanntschaft mit Erich Fried und Elias Canetti. Schießlich heiratete sie den Dichterkollegen Günter Eich – den wohl bekanntesten Hörspielautor Deutschlands. Bis 1988 lebte sie auch in Deutschland, dann in Großgmain bei Salzburg. Inzwischen ist sie aber wieder in Wien heimisch geworden. Die Trägerin des Großen Österreichischen Staatspreises war freilich verstummt. Umso erfreulicher ist es, dass jetzt zu ihrem 80. Geburtstag gleich zwei besonders schöne neue Bücher erschienen sind. Zum einen in ihrem Stammverlag S. Fischer Film und Verhängnis. Blitzlicher auf ein Leben und zum anderen in dem neu gegründeten, engagierten österreichischen Literaturverlag von Franz Hammerbacher, Edition Korrespondenzen, wo der Band Kurzschlüsse Wien aufgelegt wurde. […]

Der Band Kurzschlüsse versammelt schließlich Prosagedichte, die seit 1954 in verschiedenen Zeitschriften unter verschiedenen Titeln erschienen sind. Aichinger notiert darin Botschaften, die hinter einzelnen Wiener Orten zu finden sind. Aichinger: „Indem ich mich ganz hineinbegebe in Ort und Stunde, werde ich herausgehoben, werde ich als Kreuzungspunkt ich selbst.“ (Aufzeichnungen 1950-1985.) Es ist die Genauigkeit, die bei Aichinger immer wieder fasziniert. Die Autorin ist keine Erfinderin, sondern eine Finderin, und ihre Texte aus den fünfziger Jahren wirken heute noch frisch – ganz anders als beispielsweise jene ihres Mannes Günter Eich, der damals wesentlich stärker diskutiert wurde. Bemerkenswert ist auch Aichingers Misstrauen gegen alles, was der Staat hervorbringt, zum Ausdruck gebracht passenderweise bei ihrer Rede zur Verleihung des Großen Österreichischen Staatspreises 1996:

Was mich von Thoreau unterscheidet: Er kann sich, wie er schreibt, einen guten Staat vorstellen, auch wenn er ihn noch nie gesehen hat. Ich nicht. Wo Ordnung geschafft werden muss, liegt Willkür immer nahe genug.

Das sind Warnungen, die man gerade heute, in Zeiten, in denen gewisse Politiker wieder an einem Polizeistaat basteln, nicht ungehört wegtun sollte.

Die Welt der Arbeit, November 2001

Aus der Sicht der Entfremdung

Ilse Aichinger achtzig Jahre alt? Erstaunen und Erschrecken ob dieser Nachricht, so jung erscheinen ihre Texte, als wären sie erst kürzlich erschienen: ihr Roman Die größere Hoffnung (1948), eine der frühesten literarischen Auseinandersetzungen mit dem Nazi-Regime und der Judenverfolgung, poetisch und letztlich den Schrecken transzendierend und sich damit auf ganz andere Weise dem Thema nähernd als die wenig später einsetzende „Kahlschlagliteratur“; die Erzählungen aus Der Gefesselte (1952) mit der „Spiegelgeschichte“, jenem wohl berühmtesten Text Aichingers, der in zahllosen Anthologien und Lesebüchern Eingang gefunden hat nicht zuletzt wegen der hier exemplarisch vorgeführten Umkehrung der Zeitabläufe und der daraus resultierenden überraschenden Einsichten; die Geschichten von „Eliza Eliza“ (1965), die das Erzählen von Geschichten mehr und mehr in Frage stellen und dafür die Sprache ins Zentrum der Betrachtung rücken und ihren Höhe- und Endpunkt in den Texten der „schlechten Wörter“ (1976) finden, einem gleichermaßen schmalen wie radikalen Band, in seiner Bedeutung für die Literatur vergleichbar nur mit den größten Werken des 20. Jahrhunderts, einem Finnegans Wake zum Beispiel, oder dem Spätwerk Samuel Becketts; dann die viel zu wenig beachteten Hörspiele; die fragilen Dialoge aus „zu keiner Stunde“ (1957), die Orte und Personen wie hinter einem Schleier erscheinen lassen und schon bei ihrem Erscheinen auf Unverständnis stießen und noch immer verstören; die Reden, kurzen Aufsätze und Aphorismen von Kleist, Moos, Fasane (1987), in denen Aichinger Einblicke in ihre Poetologie und Welt-Anschauung gewährte; und schließlich die Gedichtsammlung verschenkter Rat (1978), die aufhorchen ließ, weil kaum jemand bis dahin Gedichte von Ilse Aichinger kannte bzw. mit einer derart konsequent über Jahrzehnte hinweg gleichbleibenden dichten Poesie gerechnet hatte.
Ilse Aichinger achtzig Jahre alt, und nun erscheinen, nach längerem Schweigen (oder scheint dies nur so: war sie nicht vielmehr immer präsent, selbst und gerade dann, wenn sie nichts publizierte?), zwei neue Bücher und eine CD.

Die junge, auf literarische Kostbarkeiten spezialisierte Edition Korrespondenzen veröffentlicht unter dem Titel Kurzschlüsse. Wien 24 Prosaminiaturen bzw. -gedichte sowie den 1954 in den Frankfurter Heften erstmals erschienenen Essay „Die Sicht der Entfremdung. Über Berichte und Geschichten von Ernst Schnabel“. In diesem Text gibt Aichinger, indem sie über einen von ihr geschätzten und mittlerweile leider nur noch als Biograph Anne Franks bekannten Autor schreibt, Auskunft über ihre eigene Weltsicht und Poetologie: „Die Sicht der Kindheit“, schreibt sie gleich zu Beginn, „die Orte zu Orten werden lässt und ihnen ihre Namen neu gibt“ – ein Satz, der als Schlüssel zum Verständnis ihres oft als hermetisch apostrophierten Werks fungieren könnte −, diese Sicht prägt ihre Dichtung vom ersten Werk an und verknüpft sich mit der Rolle des Autors, der, so Aichinger, wie „der Columbus von heute nicht die fremde Welt bekannt machen muss, sondern die allzu bekannte fremd“.
Diese „Sicht der Entfremdung“ setzt Aichinger poetisch auf außergewöhnliche Weise in den 24 Prosagedichten um, und diese sind die eigentliche Entdeckung: Zwischen 1953 und 1955 entstanden und unter verschiedenen Titeln in Zeitschriften und Anthologien publiziert, gerieten sie in Vergessenheit, ehe sie Richard Reichensperger wieder ausgrub, zu spät jedoch, um sie noch in die Werkausgabe von 1991 aufnehmen zu können; ursprünglich hatte sie den Titel „Maulwürfe“ gewählt – den ihr Mann Günter Eich fünfzehn Jahre später für seine verstörende Prosasammlung verwenden sollte −, nun, für die erste Buchausgabe, ordnete sie die Texte neu und gab ihnen den programmatischen Titel „Kurzschlüsse“.
Beginnend mit der „Stadtmitte“ und endend am „Nußberg“ in Döbling, nähert sich Aichinger verschiedenen Orten ihrer Geburts- und Wohnstadt Wien, und schon nach wenigen Zeilen wird deutlich, dass sie anderes im Sinn hat als Postkartenansichten einer Nachkriegsstadt zu entwerfen (aber wer hätte das schon von Aichinger erwartet?): ihre Prosagedichte sind in vertrauten Gassen und Plätzen verortet, die jedermann aufsuchen kann, aber unter ihren Worten und sparsamen Sätzen verwandeln sie sich, verbinden sich „höchste Vertrautheit mit dem radikalsten existentiellen Befremden“ (so Simone Fässler im erhellenden Nachwort), stellt sich die „Sicht der Entfremdung“ ein, denn wo auch immer Aichinger hinkommt, sie trifft auf Spuren des Krieges, wird Erinnerung an Deportation und Vernichtung wach, spürt sie Bedrohung und Tod auf. Aber, das ist das Überraschende und Tröstliche, es sind keine düsteren Texte, sondern Prosagedichte, die von Farben und Düften durchdrungen sind und von einem Licht, das die Orte zu verzaubern scheint.
Wie nah an konkreten Orten Aichingers Dichtung stets war und ist, zeigen die Texte der Kurzschlüsse: da begegnet man dem König in einem Bänderladen (der in „Erinnerungen für Samuel Greenberg“ wieder auftaucht), geht durch die Gonzagagasse (wortident mit dem Gedicht gleichen Titels in verschenkter Rat) oder trifft auf die „Italienische Botschaft“ (mit der als „Französischer Botschaft“ der Reigen der Dialoge in „zu keiner Stunde“ anhebt). Und dies zeigt, wie sehr Aichinger missverstanden wurde und wird: ihre Texte wollen nicht als Metaphern und Gleichnisse gelesen werden und sind keine Parabeln, sondern in ganz konkreten Gegenden verortet – „Die Orte, die wir sahen, sehen uns an.“ heißt es in „Stadtmitte“ – und sollen „beim Wort genommen“ werden, so wie Aichinger die Dinge bei ihren Namen nimmt. Und das scheint mir der größte Wert der Kurzschlüsse zu sein: dass sie deutlich machen, wie nötig eine gründliche neuerliche Lektüre und Neubeurteilung von Ilse Aichingers Werk ist.
[…]

Christoph Janacs, Rezensionen-online, 2001

Zeitsprünge

Dieser Satz kommt einem in den Sinn, wenn man Kurzschlüsse von Ilse Aichinger aufschlägt. In seidiges Rot gefasst, sind hier die Gedichte versammelt, die Aichinger 1953/54 im deutschen Exil über Wiener Stadtbezirke schrieb. Der Titel dieser Lebensbekundungen an die Orte ihrer Kindheit sind so doppeldeutig wie klug: Wer sich anhand der Kleinode an die Wiederentdeckung der Stadt machen will, wird sich jedenfalls nicht mehr auskennen. Denn in Aichingers Zeilen auf den Stephansdom oder die Pestsäule fließen Gegenwart und Vergangenheit, Biografie und Biblisches, Vertrautheit und Befremden ineinander.

Nicole Hess, Tagesanzeiger, Dezember 2001

Verstreute Journale und Prosa von Ilse Aichinger

(…)

Wortwahl und Sprache sind das eine; Sprechweise und Tonfall das andere. Im vergleichenden Doppelpack erleben wir die Autorin mittels Buch und CD bei Kurzschlüsse. Wien. Und wieder möchte man aus diesen vor bald 50 Jahren entstandenen Texten zitieren und nichts als zitieren. Ein Prosastück heißt „Verbindungsbahn“. Man könnte ihr ganzes Schreiben unter dem Titel „Verbindungsbahn“ zusammenfassen. Besonders viel sagend ist ihr 1952 geschriebener Text über Berichte und Geschichten von Ernst Schnabel. Der Weltreisende war damals Intendant des NWDR. Ihm gilt ihre Sympathie als Reiseschriftstellerin mit inneren Beweggründen. Im Schlusssatz des Feuilletons mit dem Titel „Die Sicht der Entfremdung“ heißt es da, auf die Autorin wohl selber zurückweisend:

… werden wir mit diesen Geschichten zu den großen Strömen der Kindheit zurückfinden.

Reinhold Aumaier, Wiener Zeitung, Dezember 2002

 

Genau werden mit der gesehenen Welt

− Über Ilse Aichinger. −

1
Ich gebrauche jetzt die besseren Wörter nicht mehr. Der Regen, der gegen die Fenster stürzt. Früher wäre mir da etwas ganz anderes eingefallen. Damit ist es jetzt genug. Der Regen, der gegen die Fenster stürzt. Das reicht. Ich hatte übrigens gerade einen anderen Ausdruck auf der Zunge, er war nicht nur besser, er war genauer, aber ich habe ihn vergessen, während der Regen gegen die Fenster stürzte oder das tat, was ich im Begriff war, zu vergessen. (…) Ich bin nicht wahllos wie das Leben, für das mir auch die bessere Bezeichnung eben entflohen ist. Lassen wir es Leben heißen, vielleicht verdient es nichts besseres. Leben ist kein besonderes Wort, und sterben auch nicht. Beide sind angreifbar, überdecken statt zu definieren. Vielleicht weiß ich, warum. Definieren grenzt an Unterhöhlen und setzt das Definierte dem Zugriff durch die Träume aus (…)
Der Regen, der gegen die Fenster stürzt, da haben wir ihn wieder, den lassen wir, der lässt alles in seinem unzutreffenden Umkreis, bei ihm bleiben wir, damit wir wir bleibt, damit alles bleibt, was es nicht ist, vom Wetter bis zu den Engeln.
So lässt es sich leben und so lässt es sich sterben und wem das nicht ungenau genug ist, der kann es in dieser Richtung ruhig weiter versuchen. Ihm sind keine Grenzen gesetzt.

(„Schlechte Wörter“)

„Unterhöhlen“: Bedeutet es, dass Ilse Aichinger etwas hohl machen und in dem so entstandenen Hohlraum T.S. Eliots Hollow Men einen Unterschlupf bieten will – den hohlen Männern aus dem Gedicht, dem ein Motto von Joseph Conrad, ein Aichinger sehr nahestehender Autor, voran gestellt ist? Schafft sie Räume oder schafft sie Hohlräume, wie Samuel Beckett es in seinen Szenerien tut – Beckett, der für sie so wichtig, weil „genau“ ist?
Keins von beiden. Selten erscheinen Dinge und Phänomene konkreter als der überdimensionale Fächer, die Heuhalme, der grüne Esel auf einer fernen Brücke, die schlagenden Türen oder die Briefumschläge, die im Mondlicht erglänzen. Und ausgerechnet von solchen Schöpfungen sind Prosa und Poesie der Autorin dicht erfüllt. Aichinger will den Dingen nicht so sehr ihre Existenz absprechen, als vielmehr deren herkömmliche Betrachtungsweise umwälzen und ihre bestehende Anordnung widerlegen:

Käme es auf die Orte an,

sie wechseln still hinter uns,
während wir bleiben

(„Außer Landes“)

Andererseits aber bedarf es einer Ironie, die den Meistern vergangener Jahrhunderte ebenbürtig ist, um die gängig Begriffe derart spielerisch zu unterhöhlen, zugleich aber jemandem anzuraten, er möge zu ihnen stehen, „damit bleibt, was es nicht ist“.
In diesem „unzutreffenden Umkreis“ verbleiben? Wozu? Wenn nun in der Welt der „schlechten Wörter“ dem Sein keinerlei wirkliche Kenntnis über diese Welt entspricht, wenn wir nun nicht einmal mehr „wir“ sind, wozu sollten wir dann diesen Zustand der Zerrissenheit noch länger aufrecht erhalten?
Darum: „so lässt es sich leben und so lässt es sich sterben“. Doch wenn man nicht dabei bleibt? Was dann?

2
Der Tag, an dem du
ohne Schuhe ins Eis kamst,
der Tag, an dem
die beiden Kälber
zum Schlachten getrieben wurden,
der Tag, an dem ich
mir das linke Auge durchschoss,
aber nicht mehr,
der Tag, an dem
in der Fleischerzeitung stand,
das Leben geht weiter,
der Tag, an dem es weiterging.

(„Abgezählt“)

Wer sich selbst und den anderen das Leben mit Ungenauigkeiten leichter machen will, hätte ein solches Gedicht nicht schreiben können. Bei Ilse Aichinger scheint aber das einzige, unpathetische Adjektiv „genau“ ihre ganze Poetik auf den Punkt zu bringen. Sie setzt sich dichterisch all denen entgegen, die Ungenauigkeiten mehren möchten. Texte wie das oben zitierte Gedicht beweisen diese nicht nur dichterisch anspruchsvollste Präzision der Autorin. Die sachliche Aufzählung von Missgeschicken findet ihren Abschluss im scheinbar konträren Bild einer täglich erscheinenden Zeitung, und damit eines Alltags, der dem einzelnen Leid gleichgültig gegenübersteht. Diese Gegenüberstellung ist jedoch nur scheinbar: Selbst wenn nicht einmal eine einzige Tageszeitung einen Selbstmordversuch (einen misslungenen schon gar nicht!) erwähnt, und auch wenn keine einzige Zeitung vom Schlachten zweier Kälber berichten will, geht das weitere „Leben“ nicht völlig an diesen Ereignissen vorbei. Denn dieses „Leben“ besteht doch aus ebensolchen Geschehnissen: Dank dieser Geschehnisse geht es weiter, aus ihnen „lebt“ es.
Das Schweigen der Fleischerzeitung ist also ein Zeichen der Zustimmung: die Anderen erklären sich mit den Tragödien einverstanden, die den Alltag, d.h. das „Leben“, mitbilden, also auch mit der „Natur“, und vielleicht auch mit ihrer „Ordnung“. All dies sind Wörter, die für Ilse Aichinger genauso „schlecht“ wie das „Leben“ sind und die, ebenso wie dieses, nur ironisch zu gebrauchen wären. Zum „Leben“ gehört jedoch auch ein anderes Bild, aus einem anderen Gedicht:

Da ist ein Drosselei
und dort ein Sterbezimmer,
die Dinge verhalten sich zueinander
in diesem Maß.

(…)
(„An einen jungen Gerber“)

„Lässt es sich“ wirklich damit leben? Lässt es sich leben, wenn man sich bewusst wird, dass die Gleichsetzung des einzelnen Leids mit dem Leben dieses Leid nur anonymer macht, ohne ihm irgend einen Sinn zu verleihen? Lässt es sich so leben: ohne zu wissen, ob irgendeine Sinngebung ein Drosselei mit einem Sterbezimmer in Zusammenhang bringen könnte? Lässt es sich in dieser Welt des genauen Betrachtens leben, wenn doch die Gedichte dieser Autorin darauf hinweisen, dass „Leben“ keinen besseren Namen verdient?

Lourdes kommt herunter,
ein armes Mädchen
(…)
allein vorbei.

(„Faltername“)

Warum nicht lieber in die ungenaue Welt der schlechten Wörter zurückfinden, die das Wesen der Dinge verhüllen? Zumal uns ja weder in den Gedichten, noch in den Prosastücken, Essays, Szenen, Dialogen oder Hörspielen, und auch nicht im kürzlich erschienenen Journal des Verschwindens von der genauen Ilse Aichinger versichert wird, dass es sich in der so zu betrachtenden Welt leben und sterben ließe. Die Dichterin wird uns keinen Trost gewähren, sosehr der „Trost“ auch zu ihren Schlüsselworten gehört.
Ein gewisser Trost, der vom Inneren des Menschen, von einer subversiven Weltsicht ausgeht, bleibt noch für die jüdischen Kinder in Aichingers Erstlingsbuch und einzigem Roman Die Größere Hoffnung bestehen. Doch auch schon in dieser symbolträchtigen Geschichte aus der Nazizeit gehen die Hoffnungen bis ans Ende mit Leid oder Tod einher. Für die Helden ihrer Szenen und Dialoge findet die Dichterin keine Tröstung mehr. Oft sind sie zu einer ewigen Wiederkehr verurteilt, zu einem Dasein zwischen den Lebenden und den Toten. Während ihrer vergeblichen Versuche sich miteinander zu verständigen existieren sie inmitten von Wirklichkeiten, deren Unfassbarkeit von den mythologisierten Realien Wiens oft noch verstärkt wird. So als würden diese Figuren nun plötzlich die frühen Prosagedichte des Bandes Kurzschlüsse bevölkern. Auch Ilse Aichinger kann die Protagonisten ihrer später entstandenen Kurzgeschichten nicht trösten: weder die Hasen, die auf dem Weg ins Ungewisse verunglücken („Port Sing“) noch das einsame Mädchen, das zu groß geraten ist und nun, dank des Großmuts des Bürgermeisters, die ihr einzig mögliche Arbeit verrichten darf („Das Milchmädchen von St. Louis“); weder den Greis, der von den Träumen eines Anderen rettungslos gefangengenommen wurde („Herodes“), noch die junge Frau, die eine Anstalt für Tollwutkranke besucht („Privas“); und auch nicht die Handvoll „kleiner Außenseiter“, die von der Mehrheit genauso als „unnütz“ empfunden werden wie die von ihnen bewunderten alten Säulen („Die Liebhaber von Westsäulen“). Am trostlosesten sind die Helden des späten Hörspiels Gare Maritime, die fast Beckett’schen Skelettpersonen, die von einem Wächter aus ihrem Zufluchtsort, einer Bahnhofshalle am Meer, hinausgeworfen werden.
Noch einmal frage ich: Sollte man sich, von solchen Lebens- und Sterbensbildern umgeben, nicht lieber in den „unzutreffenden Umkreis“ des stürzenden Regens zurückretten ?
Denn man kann ja unmöglich an der Genauigkeit dieser Dichtung zweifeln. Schon allein der Preis für diese Präzision sollte für sich stehen: der fehlende Trost. Wer dennoch an der Genauigkeit Ilse Aichingers zweifeln sollte, den wird ihre Fähigkeit, ein unwiederholbares Detail aus dem „Stoff“ der Welt herauszulesen, überzeugen. Diese Fähigkeit wird nur dort angewandt, wo es poetisch nötig ist:

Wer legt die Wachshand
auf das Küchenfenster

(„Alter Blick“)

Bücher aus fremden Büchereien,
die erstarkten Tauben.

(„Außer Landes“)

Es ist eine Genauigkeit, die auch dort überzeugt, wo sie für niemanden außer für die Autorin selbst nachprüfbar ist:

Ich will meine Dörfer
ohne Worte lassen
und nur den Schnee
durchschwingen
und offen gegen die Zäune.

(„Selbstgebaut“)

Niemand wird ihr Misstrauen anfechten können, denn das Misstrauen selbst ist es ja, das etwas anficht. Und niemand wäre in der Lage zu beurteilen, ob das Misstrauen genau ist, denn aus dem Misstrauen folgt ja gerade die Genauigkeit:

Hör gut hin, kleiner,
es gibt Weißblech, sagen sie,
es gibt die Welt,
prüfe, ob sie nicht lügen.

(„Verschenkter Rat“)

Prüfe, ob es die Welt gibt! Nach einem solchen Ratschlag muss man sich nicht weiter vergewissern, ob die Ratgeberin den Dingen auf den Grund geht. Und man wird nicht gerne dorthin zurück wollen, wo „alles bleibt, was es nicht ist“. Lieber bleibt man bei Ilse Aichinger, in ihrer Welt des genauen Betrachtens.

3
Man bleibt und denkt nach: Aichingers spielerisch-umstürzlerische Bilder sind so kraftvoll und überzeugend, dass man sich unwillkürlich fragt, woher diese Kraft und Überzeugung kommt.
Es war vor allem der Krieg, der die herkömmliche Ordnung der Dinge widerlegt hatte. Der Verlust vieler Angehöriger und das ständig bedrohte Leben haben die Weltsicht der halbjüdisch geborenen Dichterin wesentlich geprägt. Ihr Roman über diese Zeit, Die größere Hoffnung, zeigt uns, wie erlösend ein Akt des Durchschauens zu sein vermag eine Einsicht, die in einer Umkehrung des Paradoxen die Wirklichkeit enttarnt. Diese wird nun nicht mehr verdeckt: weder von der Macht der Einen noch von der Ohnmacht der Anderen:

„Ich weiß es!“ Georg sprang auf. „Ich weiß es jetzt, ich weiß es!“
„Was weißt du?“
„Die Geheime Polizei hat Angst.“
„Klar“, sagte Anna. „Die Geheime Polizei ist Angst, lebendige Angst – weiter nichts.“ Der Glanz in ihrem Gesicht vertiefte sich.
„Die Geheime Polizei hat Angst!“
„Und wir haben Angst vor ihnen!“
„Angst vor der Angst, das hebt sich auf!“

Auch wenn damals solche Erfahrungen und Erkenntnisse nichts am objektiven Sachverhalt hätten ändern können, so waren sie doch als Denkweisen bestehen geblieben:

Wer ist fremder, ihr oder ich? Der hasst, ist fremder als der gehasst wird, und die Fremdesten sind es, die sich am meisten zu Hause fühlen.

Bei Ilse Aichinger ist ein Misstrauen gegen das, was „da ist“, und ein Zweifel, ob es wirklich das selbe sei, wofür es galt, geblieben. Werden wir misstrauisch gegen uns selbst, appellierte die Schriftstellerin 1946 mit ihrem publizistischen Text „Aufruf zum Misstrauen“. Aus der Erfahrung, wie sehr die Dinge durch den Krieg umgestürzt wurden, und wie viel Sinn dem Paradoxen zugleich abverlangt werden kann, entstand später das Gedicht „Verschenkter Rat“ und der hier geäußerte provokante Zweifel daran, ob Weißblech und die Welt wirklich vorhanden seien. Ein solcher Zweifel bedeutet aber vor allem ein Misstrauen gegenüber Wörtern, gegenüber Vokabeln wie etwa „Weißblech“ und „Welt“. Auch auf anderen Gebieten hinterfragt Aichinger das allzu Plausible. Etwa bei der sozialen Realität. Es ist kein Zufall, dass, besonders in ihren Gedichten und Kurzgeschichten, die Schwachen eine zunehmend wichtige Rolle spielen. Es sind Menschen, die in keinerlei Gemeinschaft verankert sind und die auch die Wirklichkeit nicht einfach hinnehmen. Wie irreal die Szenerie seines Schicksals auch immer sein mag: der alte Vater aus Stroh, der „mit Amundsen gefahren“ ist, und der die „unteren Meere“ kennt, wirkt durchaus real. Ähnlich der altersschwache Herodes, der mit Frau und Löwe in einer alpinen Hütte lebt, oder der Bauer, der seinen Versuch, den Mechanismus von Bauernregeln zu erforschen, mit dem höchsten Preis bezahlen muss.
Auch was das Religiöse betrifft hat sich Aichinger ihren Scharfblick bewahrt. Den Gott, dem im Gedicht „Sonntagvormittag“ die über dem Schnee Gesehenen allein dienen möchten, erwartet das Ich ihrer anderen Gedichte erst am Jüngsten Tag – oder vielmehr in der „Jüngsten Nacht“. Er wird mit Vorwürfen erwartet. Keinesfalls will die Dichterin (Vorsicht, schlechte Wörter!) der „Naturordnung“ beipflichten. Weder das erwähnte Schlachten der beiden Kälber, noch das erbärmliche Dasein der Schweine wird sie bejahen. Denn egal was mit der „Fleischerzeitung“ gemeint ist: die Autorin wird nie einem „weitergehenden“ Leben zustimmen, wie es auf den Seiten dieses Blattes nahegelegt wird. Das Ja der Anderen wird von ihr mit großer Aufmerksamkeit registriert:

Die Frauen an den Fenstern
geben ein,
es regnet jetzt bald,
unser Einverständnis
ist immer vorausgesetzt.

(„März“)

Das Misstrauen gegenüber den scheinbar selbstverständlichen Begriffen, Hierarchien und Notwendigkeiten wird bei Aichinger von dem Gefühl begleitet, die Fähigkeit ungebrochener Wahrnehmung sei nicht weniger zerfallen als die Sprache. Wie die Dichterin in einem ihrer Interviews erwähnte, gab es früher das „altmodische“ Wort „Betrachtung“. Dieses Wort verwendete sie auch in ihrem Gedicht „Winterantwort“:

Die Welt ist aus dem Stoff,
der Betrachtung verlangt:
keine Augen mehr,
um die weißen Wiesen zu sehen,
keine Ohren, um im Geäst
das Schwirren der Vögel zu hören.
Großmutter, wo sind deine Lippen hin,
um die Gräser zu schmecken,
und wer riecht uns den Himmel zu Ende

(…)
(„Winterantwort“)

Es ist die Elegie auf die liebste Person, die von ihrer Enkelin das letzte Mal beim Abtransport in einem Viehwagen gesehen wurde. Eine Elegie, die auch als Nachruf gelesen werden kann, und zwar als Nachruf auf die Welt als ein eindeutiges, eindeutig und einheitlich wahrzunehmendes Ganzes. Als Nachruf auf die Welt der Großmutter, eine Welt, die Ilse Aichinger im Prosaband Kleist, Moos, Fasane eindringlich beschwört, Über deren Vernichtung sie aber erst in ihrem jüngsten Buch, Film und Verhängnis, ohne Metaphern berichtet. Bei aller Genauigkeit also, mit der die zerbrochene Welt betrachtet wird, bei aller misstrauischen Bereitschaft, wieder sein Nichteinverständnis zu erklären, will die Dichtung gleichzeitig auch einem exakten, einfachen Zuschauen dienen. Die Wörter, von denen es laut Aichinger „nicht viele“ gibt, sollten folglich nichts verdecken, sondern die Dinge entdecken und erschließen.
„Nur zusehen – ohne einen Laut“: die Autorin verwendete dieses Zitat Joseph Conrads für den Titel einer wichtigen poetologischen Skizze. Ihre eigene Beziehung zu den Wörtern beschreibt sie darin unter anderem so:

Um wieder notwenig zu sein, müssen sie die Lautlosigkeit zurückgewinnen, aus der sie notwendig entstanden. Was sie bezeichnen, zerfällt, wenn sie es nicht lautlos bezeichnen, was sie mitteilen, wird zur Lüge, wenn ihre Lautlosigkeit es nicht deckt.

Wer im Leben oder im Schreiben zu einer „Lautlosigkeit der Wörter“ finden möchte, der sollte, so Aichinger, vollkommen hinhören und hinsehen, und sich selbst dabei bewusst aus dem Spiel lassen können. Wenn das gelingt, kann ein Gedicht entstehen, wo jedes Wort nur dazu dient, etwas zu erschließen; ein Gedicht, das als Epiphanie bezeichnet werden könnte:

Hinwelkend,
zeigt die Blüte ihre Linien,
die Maserung des Holzes
verfallener Badehütten,
die Sprünge der Majolika
auf schwachen Borden,
ungesehen
(…)
(„St. Gilgen“)

Das Ungesehene: es ist in Aichingers Lyrik ein wichtiges Motiv. Das Betrachten, das die Dinge erschließt, sowie das Schreiben von dingentdeckenden Wörtern gelten bei ihr als ein Dienst an der Welt.
Wie aber kann dieser Dienst erwiesen werden?

4
Ilse Aichinger wäre nicht fähig, unsere Betrachtungsweise der Wirklichkeit zu erweitern oder umzuwälzen, wenn sie es nicht verstünde, die Wirklichkeit mit genauen Wörtern wiederzugeben. Diese Wörter wollen so sorgfältig unter die Lupe genommen werden, wie das Vorhandensein von Weißblech und Welt geprüft werden sollte. „Genaue“ Wörter sind hier diese, welche die Risse der Welt nachzeichnen; es sind also nicht die einleuchtendsten Vokabeln, nicht diejenigen, die in einer Schublade warten. In den geprüften, bewährten Wörtern aber ist „Sprache“. Denn wie es in Aichingers Mikromanifest „Ins Wort“ heißt, haben solche Wörter „ein Schweigen in sich“.
Deshalb sind, besonders in ihren Gedichten, Lexik und Syntax so vieldeutig. Und deshalb bleiben wir im Ungewissen, ob mit einem Gedichtanfang ein Nach-untenkommen oder ein Verkommen gemeint ist:

Lourdes kommt herunter,
ein armes Mädchen


(„Faltername“)

Und nun zu einem anderen Gedichtschluss:


wir bleiben
auf den warmen Rücken
der Gärten, steinern
oder aus Sand.

(„Außer Landes“)

Nach Lektüre dieser Zeilen müssen wir erst einmal darauf kommen, wer hier „steinern oder aus Sand“ ist: die Gärten, wir, oder beides zugleich. Wir müssen allein, im Schweigen, darauf kommen. Das ist es auch, was die Autorin meint: ein Für-sich-Schweigen, welches das Schweigen der Wärter jeweils neu entstehen lässt. In einem solchen Schweigen der Wörter aber „ist Sprache“, wie wir aus dem Text „Ins Wort“ wissen. Aus ihrer eigenen Lautlosigkeit werden die Wörter notwendig, und damit auch – genau.

5
Wenn sie notwendig und genau sind, werden die Wörter auch fähig, der Welt einen Dienst erschließender Betrachtung zu erweisen. Selbst dann, wenn die mitzuteilenden Ereignisse kaum mitteilbar sind, wie im Gedicht „Ende des Ungeschriebenen“:

So wird niemand wissen
von unseren Atemstößen,
als wir über die Brücke liefen,
und was hinter uns liegt,
erfahren sie nicht:
die schwachen Namenszüge,
die geköpften Sonnen.
Die Vorhallen der Spitäler
sind still.

Ich kenne kaum ein anderes Gedicht, das so viel Schweigen beinhaltet. Und es ist ja das Schweigen, das laut Aichinger die Sprache leben lässt. Es ist ein Text, dessen Worte nur ganz wenig enthüllen wollen, der aber zwischen den Worten vieles sagt. Zwar lesen wir, wie getrennt und exklusiv die Menschen ihre Erfahrungen machen, doch vor allem sollten wir noch etwas anderes tun: all dies empfinden:

So wird niemand wissen
von unseren Atemstößen,
als wir über die Brücke liefen

Wir erfahren, dass es Atemstöße gegeben hat, ebenso wie die Tatsache, dass wir nichts mehr davon erfahren können.


und was hinter uns liegt,
erfahren sie nicht:
die schwachen Namenszüge,
die geköpften Sonnen.

Obwohl wir hinter dem Schleier dieser Metaphern eine Wirklichkeit ahnen, werden wir doch immer nur diesen Schleier berühren können. Nie werden wir wissen, was dem lyrischen Wir zuteil geworden ist.

Die Vorhallen der Spitäler
sind still.

Nur diese Stille, eine Stille, die einem Menschen nachfolgt, kann etwas Gemeinsames sein, das keinerlei Erklärung bedarf.
Selten vergegenwärtigt der Aufbau eines Gedichtes so sehr das Gemeinte wie dieses. Es ist ein poetischer Triumph von Ilse Aichinger und von ihrer schweigenden Sprache.

6
So wie jeder mit dem Schweigen in den Gedichten Ilse Aichingers allein bleiben muss, so ist er es auch mit der Welt, in der nichts bleibt, was es nicht ist. Allein mit der Welt, wo keiner weiß, ob sich die Dinge irgendwie zueinander verhalten, wo sich der „jüngste Richter“ nicht vorzeitig blicken lässt, und wo „Fleischerzeitungen“ uns bestätigen, dass das Leben weiter geht.
Jeder ist allein mit dieser Welt, doch nicht in ihr. Indem Aichinger ihren Leser zwingt, mit Verschwiegenem oder Vieldeutigem zu ringen, hindert sie ihn daran, in der Einsamkeit einer rezeptiven Distanz zu verharren. In ihren Gedichten verschenkt sie ihren Rat und lehrt uns – übrigens wie in ihrem ganzen Werk – die Welt genau, also still zu betrachten. Dabei bleiben wir:

Bücher aus fremden Büchereien,
die erstarkten Tauben.
Käme es auf die Orte an,
die zu verlassen
wir im Stand sind:
sie wechseln still hinter uns,
während wir bleiben
auf den warmen Rücken
der Gärten, steinern
oder aus Sand.

(„Außer Landes“)

Ein Hinschauen im Verstummen, im Erstarren. Im Ersterben? Die Musik dieses Gedichts verklingt mit dem Pianissimo des „Sandes“.
Ist es schon alles?
Noch eine Coda: Die Schlussworte des Gedichtes „Heu“:

Die Gewissheit, dass es keinen Trost gibt,
aber den Jubel,
Heu, Schnee und Ende.

Jakub Ekier, manuskripte, Heft 154, 2001
(Deutsch von Doreen Daume und Jakub Ekier)

„Stummheit immer wieder in Schweigen zu übersetzen,

das ist die Aufgabe des Schreibens“ 

„Es gibt die Stummheit, und es gibt das Schweigen. Und die Stummheit immer wieder in das Schweigen zu übersetzen, das ist die Aufgabe des Schreibens“, sagte Ilse Aichinger. Vielleicht schreibe sie, weil sie keine bessere Form zu schweigen finde.
Die Autorin wirkt im Gespräch zerbrechlich und kämpferisch zugleich. Das schwarze Kleid unterstreicht die Blässe in ihrem Gesicht. Das Reden strengt sie sichtbar an; sie spricht mit weicher, gepreßter Stimme, und die abgehackten Sätze kommen fast atemlos über ihre Lippen. Es sind keine vorgefertigten Antworten, hinter die sie sich vor Journalisten verstecken kann. Man spürt ihre Verletzlichkeit, weil sie ehrlich genug ist, sie nicht zu überspielen. 

Für mich ist das Schreiben nicht einfach eine Tätigkeit wie Holz bearbeiten, sondern so etwas wie ins Feuer springen.

Die Dichterin kennt keinen geregelten Arbeitsrhythmus; sie weiß nie im voraus, wann sie wieder „ins Feuer springt“:

Man geht an einem Tag und findet nichts, oder man geht zehn Jahre und findet nichts. Und plötzlich taucht es hinter einem auf.

Stimmungsabhängig? 

Nein, wenn das Schreiben da ist, ist es keine Stimmung, sondern eine Notwendigkeit.

Doch das monatelange Nicht-Schreiben sei die größere Arbeit:

Das Ganze zu Papier bringen ist dann, wie wenn man die Äpfel vom Baum holt.

Ilse Aichingers Texte fordern den ganzen Menschen, sie lassen sich nicht verdauen wie Bestseller-Romane oder Tageszeitungen. „Ich schreibe gegen das Konsumieren, gegen das Konsumieren des Lebens überhaupt“, hält die Autorin fest.

Den meisten Leuten genügt die Antwort „es ist so, weil es so ist“. Ich weigere mich, die Dinge einfach so zu nehmen wie sie sind. Vor allem weigere ich mich bei den Schwächen. Man muß sie aufzeigen, und zwar ganz deutlich – die Schwächen der Regierungen, die Schwächen der Schöpfung.

Die „undurchschaubare Natur“ sei von einer Grausamkeit, die man gar nicht bis zu Ende beschreiben könne:

Ich sehe schon auch ihre grenzenlose Schönheit, und sie beglückt mich. Aber ich kapp’ dieses Glück immer sofort ab. Ich will die schwachen Linien sehen, und ich suche die Grausamkeit. Ich traue dem Glück nicht; nie. Wenn es mir dann und wann gutgegangen ist, dann habe ich immer gedacht „und wer badet das jetzt für mich aus?“

Aufruf zum Mißtrauen – als das kann das ganze Werk Ilse Aichingers verstanden werden“, sagt Samuel Moser.

Sie sucht in ihren Texten kein Ziel, keinen Inhalt, sondern die Sprache selber.

Eine Sprache gegen Hierarchien, Phantasielosigkeit, Ordnungshüter, Selbstzufriedenheit – für Ausscheren und Widerstand:

Es gehört vitaler Irrsinn dazu, auf der Welt zu bleiben und sich anzupassen.

Die Kraft für die Weigerung nimmt die Autorin aus dem Zorn:

Er ist eine meiner größten Hilfen. Und ich will ihn mir warmhalten, diesen Zorn auf alles, was existiert. Mein Unglück ist nur, daß ich manchmal so erschrecke, daß ich apathisch werde. Aber dann warte ich schon glühend, daß der Zorn wiederkommt.

Eigentlich wollte Ilse Aichinger Ärztin werden, so wie ihre Mutter. „Doch das Schreiben ist mitten ins Medizinstudium hineingeplatzt“, erinnert sie sich.

Da habe ich plötzlich gemerkt, daß die Schriftstellerei mein Beruf ist und daß zwei solche Berufe nebeneinander nicht gehen.

Das war 1948, drei Jahre nach Kriegsende, als ihr erstes Buch Die größere Hoffnung erschien, nach den Worten von Walter Jens „die einzige Antwort von Rang, die unsere Literatur der jüngsten Vergangenheit gegeben hat.“
Es ist ein autobiographischer Roman, eine Geschichte von Kindern und vom Kindsein im Dritten Reich. Im Mittelpunkt steht die fünfzehnjährige Ellen, zu ihrem Kummer eine Halbjüdin; zwei „falsche Großeltern“ trennen sie von ihren jüdischen Freunden.
Die Kinder, die den Davidstern tragen müssen, die weder auf den Stadtbänken sitzen noch mit dem Ringelspiel fahren dürfen, suchen im Spiel, im zweckfreien Tun, die eigentliche Wirklichkeit.
Das Kommende, die größere Hoffnung, die alle Zweifel und Ängste umfaßt und die wachgehalten wird von Lebenstrieb, Traum und Glauben, trägt die Kinder über alle Verzweiflung hinweg, auch wenn es für sie letztlich keine Rettung gibt. „An ein Überleben glaubten wir damals nicht mehr“, erinnert sich Ilse Aichinger an die Kriegsjahre, „aber wir hatten die fast sichere Hoffnung, daß auch Hitler es nicht schaffen würde. Und diese Zuversicht bewältigte die Angst vor dem Tod.“ 

Die Autorin, geboren in Wien, war siebzehn, als Österreich 1938 an Deutschland überging. Auch sie hatte wie ihre Romanfigur Ellen „zwei falsche Großeltern zuviel“, ihre Mutter war Jüdin, ihr Vater Arier. Als „Mischling“ durfte sie die Matura machen; die Universität blieb ihr bis Kriegsende verbaut.

Wir lebten auf Abruf. Aber das Stück bis zum Abruf war ungeheuer intensiv.

Nie habe sie so viel Freiheit geschöpft wie damals aus dem Zwang des Verfolgtseins. Und gerade deshalb glaubt sie, eine einfachere Jugend gehabt zu haben als die heutige Generation, „trotz all den grausamsten Dingen, die wir damals miterlebten wie Folterungen und Deportationen von Freunden und Verwandten. Denn das Vor-sich-Haben ist das Wichtigste, nicht das Haben. An etwas zu glauben, woran man sich halten konnte, wofür man auch Erbsen und Kartoffeln aß.“ 

„No future“ – das Stichwort ist gegeben. Wie würde sie heute einem Jugendlichen raten, wo er den Sinn des Lebens suchen soll?

Nicht suchen, sondern das Suchen suchen. Das kommt mir als das Ziel vor. Der Vorgang des Suchens ist äußerst schwierig und kompliziert. Man muß sehr oft aufgeben und wieder vorne anfangen.

An eine Rettung der Welt glaubt Ilse Aichinger heute „schon fast nicht mehr“:

Wir gehen alle unter, das ist ja klar. Wohin, das wissen wir nicht. Vielleicht tun wir auch übergehen.

Eine Pessimistin?

Nein, das glaube ich nicht. Ich bin fest davon überzeugt, daß es einen Geist gibt, den Geist der Liebe, der ganz zuletzt rechtbehalten wird. Und diesen Geist kann man nicht verbrennen, nicht beerdigen und nicht wie einen Nagel herunterhauen. Er ist das höchste Gut des Menschen, und wir sollten alles daran setzen, ihn zu bewahren.

Sichtbar werde dieser Geist immer, wenn ein kleines Kind geboren werde:

Säuglinge bringen etwas aus einer Welt mit, die wir nicht kennen. Dieses Unfaßbare, dieses „ganz von Anfang an“, das sie umgibt und dann mit der Pubertät zusammenbricht, ist der Geist. Darum heißt es auch schon in der Bibel nicht „wenn ihr nicht seid wie die Kinder“, sondern „wenn ihr nicht werdet wie die Kinder“.

Diesen Geist als Erwachsener neu zu erobern sei das Allerschwierigste. Am ehesten gelinge es durch Askese.

In unserer hektischen Zeit geht der Geist schneller verloren, deshalb ist unsere Welt auch von einer rasanten Gefährdung.

Die Kindheit – für Ilse Aichinger die glücklichste Zeit in ihrem Leben: „Ich habe unter keinem Verlust so gelitten wie unter dem Verlust der Kindheit“, sagt sie.

Er ist das Gemeinste an der Entwicklung der Menschen. Dagegen ist Altern gar nichts. Man verliert nicht mehr soviel.

Es gab in Ilse Aichingers Leben aber noch eine andere glückliche Zeit: die Ehe mit dem Lyriker und Hörspielautor Günter Eich, der 1972 gestorben ist; eine Ehe, „in der alle Hoffnung in der anderen Hoffnung zusammengefaßt war“. Die beiden hatten sich 1951 an einer Tagung der Gruppe 47 kennengelernt, jener lockeren Verbindung von Schriftstellern, die der deutschen Literatur neue freiheitliche Impulse gab. Konkurrenzgefühle zwischen den beiden Literaten habe es nie gegeben, sagte Ilse Aichinger, und sie fügt mit einem leisen Lächeln bei:

Im Gegenteil. Es war immer ein Glück. Wir haben so verschieden geschrieben und zugleich waren unsere Gedanken oft so ähnlich.

Durch ihren Mann sei sie kritischer geworden, sagt die Autorin.

Und er kritischer durch mich.

Von ihm habe sie ein Engagement gelernt, das weit über den politischen Bereich hinausging; „ein Engagement gegen das ganze Dasein überhaupt“.
Dieses Engagement setzt Ilse Aichinger in Literatur um: „Meine Sprache ist eine Form von Anarchie“, sagt sie. Ein Anschreiben gegen den Verschleiß der Sprache, ein Versuch, die Sprache und den Geist zu bewahren. Früher, da seien Wörter noch Geschenke gewesen, „heute spricht die Sprache nicht mehr, sie ist sprachlos geworden: Wir müssen sie aus der Manipulationsgefahr herausnehmen, sonst sind wir alle verloren.“ Immer wenn etwas sprechbar, sprachbar werde, sei das meistens der Augenblick, in dem es verschwinde.

So wie alles, das sich ereignet, vergeht.

„Lebensqualität“ nennt sie als Beispiel:

Ein Begriff der aufgekommen ist, seit dieses Bewußtsein nicht mehr existiert. Früher hat es das Wort nicht gebraucht, es war da.

Ein anderes Beispiel:

Emanzipation. Als sie Mode wurde, war sie weg.

So kennzeichnet denn eine grundsätzliche Skepsis vor der Benennung, dieser „alten Drachenwolke“, Ilse Aichingers Dichtung. „Ich muß immer das einzigmögliche Wort suchen, das noch nicht Wort geworden ist“, erklärt die Autorin, „und dabei muß ich aufpassen, daß es nicht gleich wieder als Kochrezept verwendet wird, in dem Augenblick, wo ich es nenne.“
Alles Modische ist Ilse Aichinger verdächtig:

Sobald etwas ,in‘ ist, ist es bereits wieder vorbei, und man sollte nicht darauf ausruhen, sondern bereits wieder die nächste Chance ergreifen.

„Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt“, hat ihr Mann Günter Eich einmal geschrieben. Ilse Aichinger ergänzt den Satz:

Man muß immer ,out‘ bleiben, draußen bleiben. ,In‘ darf man nie sein. Die Welt könnte ja aus lauter Außenseitern bestehen. Es gibt da kein Hindernis. Es liegt an jedem einzelnen.

Luzia Stettler, 1984, aus Ilse AichingerMaterialien zu Leben und Werk. Fischer Taschenbuch Verlag, 1990

 

Meine Sprache und ich. Ilse Aichinger spricht über das Schreiben (Bayerischer Rundfunk 1981) und Corinna Kirchhoff liest „Meine Sprache und ich“ und „Neuer Bund“ (speak low 2011).

 

Ein wildes kosmisches Reden. Peter Handke spricht über die Dichtung von Ilse Aichinger (Bayerischer Rundfunk 1991). Ilse Aichinger liest „Einunddreißig“, „Zeitlicher Rat“ (Norddeutscher Rundfunk 1970) und Corinna Kirchhoff „Gonzagagasse“ (speak low 2011).

 

 

Für ein paar Tage

bin ich, seit gestern, wieder in Wien; heute wäre ich mit H. E. um fünfzehn Uhr zu einer Schachpartie im »Engländer« verabredet gewesen, er hat’s wohl vergessen. Ich warte, bestelle noch einen Zweigelt rot, versuche mich an einem französischen Kreuzworträtsel. Mir gegenüber, einen Tisch weiter, sitzt eine alte Frau, sie löffelt, tief vornübergebeugt, eine Suppe, gleichzeitig liest sie in einem bunten Magazin, das sie zur Hälfte unter den Teller geschoben hat. Die Frau kommt mir bekannt vor. Aber wo sie einordnen, jetzt, da sie gegenwärtig ist. Eigentlich bin ich ja sicher, daß ich sie kenne, nur erkenne ich sie nicht; ich gehe hinüber zu ihrem Tisch.
„Sind Sie’s“, frage ich, „oder sind Sie’s nicht.“
Während die Frau langsam den Kopf hebt, und noch ehe sie mich gesehen hat, erkenne ich Ilse Aichinger. „Wer“, sagt sie, „sollte ich denn sein.“
„Ja.“ Mehr fällt mir in diesem Augenblick des Wiedersehens nicht ein. Aber ist es denn ein Wiedersehen. Weiß sie überhaupt, wer ich bin. Meinen Namen nennt sie nicht, weder jetzt noch später beim Abschied, überhaupt kommen während des kurzen Gesprächs, das wir haben, keine Namen vor.
Die Frau erzählt von ihrer Kindheit in Wien, wohin sie nach langer Abwesenheit zurückgekehrt ist. Die Herkunft, sagt sie, sei die Kraft, zu der man zurückkehrt. Auch ihr Mann, sagt sie, sei in seiner letzten Lebenszeit immer wieder, wie zufällig, nach Berlin gefahren, in seine Geburtsstadt. Und sie berichtet von ihrer Schwester… Zwillingsschwester, die in England lebe und von der sie sich so sehr wünsche, daß sie ebenfalls nach Wien zurückkehre. Auch die Kinder. Auch die Dichter. Sie bleiben alle ohne Namen. Dichter. Kinder. Meine Schwester. Mein Mann.
„Ich lese ziemlich viel“, sagt die Frau, „aber eigentlich lese ich immer dasselbe. Am liebsten Gedichte, Bücher über berühmte Leute, keine Romane.“ Links neben ihrem Teller hat sie… „zum Telephonieren“, sagt sie, sie lächelt… ein paar Münzen aufgeschichtet, rechts davon ein Häufchen bekritzelter Zettel und Schnipsel, auf denen wie ein rostiger Briefbeschwerer ihre Hand ruht. Ich verabschiede mich bald, sie sagt nur einfach Sie zu mir. Inzwischen wird mich diese wunderbare Frau vergessen haben. Wie alle Namen.

Fortschritt. – Gewinnt wer
beim Würfeln Eltern und
Geschwister. Ist er
plötzlich im Begriff oder
nach wie vor am Leben. Herzlich
grenzt Familie an Zahl.
An Zufall. Wo nur
zwischen soviel Augen tauchen.
Aber noch ist nichts
getauscht. „Wir kommen gegen unsern
Willen weiter“

(für Ilse Aichinger)

Felix Philipp Ingold, aus Felix Philipp Ingold: Freie Hand, Carl Hanser Verlag, 1996

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Ilse Aichinger

Felix Philipp Ingold: Gedenkblatt für I. A.

Peter Hamm: Gedenkblatt für Ilse Aichinger

 

Gegenwartsproof: Ilse Aichinger – Es sprechen Sonja vom Brocke, Margret Kreidl und Ferdinand Schmatz mit Theresia Prammer über die Bedeutung des Werkes von Ilse Aichinger.

Karl Krolow: Laudatio zur Verleihung des Nelly Sachs-Preises 1971

Ein Gespräch zwischen Michael Braun und der Literaturwissenschaftlerin Simone Fässler über das Werk von Ilse Aichinger.

Ein Gespräch zwischen Michael Braun mit dem Lyriker Levin Westermann – über Ilse Aichinger, Poesie und Schweigen und die Unheilsengel der Geschichte.

Lesung Ilse Aichinger

im Literarischen Colloquium am 31.10.1996. Moderation: Hajo Steinert. Gesprächspartner: Richard Reichensperger.

Einleitung: Hajo Steinert stellt die Autorin Ilse Aichinger vor.

 

Gespräch I: Richard Reichensperger spricht mit Ilse Aichinger über ihre Jugend.

 

Gespräch II: Wie war das Leben 1945?

 

Gespräch III: Das Wesen der Erinnerung, oder: Wie sind Ilse Aichingers Bücher entstanden?

 

Gespräch IV: Fällt Ilse Aichinger das Schreiben leicht?

 

Lesung IV: Ilse Aichinger liest kurze Gedichte.

 

ILSE AICHINGER

Einzig allein die Betten

Einzig allein die Betten besinge ich.
Und sei mein Gesang zum Ende hin
ein Knurrgetön. Mein Hohelied quietscht
und knarrt gleich den Gestellen.
Heilige, harte Matratzen. Süße
Matratzen der verbetteten Heimat
Besinge ich.
Bettlägrige Mädchen rücklings
in Bettstruation gefallen
die Knie zwischen die Schenkeln
Im Publikumsverkehr
in Wasserbetten versunken.

Peter Wawerzinek

 

Die Federseele
das Knienest
die Eierschaukel
der Käfigfall
das Flugblatt
die Schachtelbrut
die Vögelkarte

 

Nachdem Ilse Aichinger gestorben ist, lese ich „Das neue Lied“.

Margret Kreidl

 

Zum 80. Geburtstag der Autorin:

Andreas R. Batlogg: Dass es den Ort einer anderen Existenz gab
Die Furche, 8.11.2001

Zum 85. Geburtstag der Autorin:

Peter Mohr: Alles Komische hilft mir
literaturkritik.de, November 2006

Zum 90. Geburtstag der Autorin:

Sabine Rohlf: Es geht immer um Genauigkeit
Frankfurter Rundschau, 1.11.2011

Paul Jandl: Ilse Aichinger, die Grande Dame der österreichischen Literatur
Hamburger Abendblatt, 1.11.2011

Peter Mohr: Das Komische macht mich glücklich
titelmagazin.com, 2.11.2011

Anja Hirsch: Unerkundbar, undurchschaubar
Deutschlandfunk, 1.11.2011

 

 

Zum 95. Geburtstag der Autorin:

Susanne Stephan: Verse, verborgen
poetenladen, 2016

Bettina Steiner: Ilse Aichinger: Es gilt das genauere Wort
Die Presse.com, 30.10.2016

Zum 100. Geburtstag der Autorin:

Helmut Böttiger: Die Seufzer der Sprache
Süddeutsche Zeitung, 29.10.2021

Christian Schacherreiter: Die subtile Poesie der Verhängnisse
OÖNachrichten, 30.10.2021

Michael Braun: Zum 100. Geburtstag der großen österreichischen Dichterin Ilse Aichinger
Badische Zeitung, 29.102.2021

Tilman Krause: Die Frau, die als erste über den Holocaust schrieb
Die Welt, 1.11.2021

Peter Mohr: Schreiben ist kein Beruf
literaturkritik.de, November 2021
(auch im titel-kulturmagazin.net, 1.11.2021)

Christian Metz: Schreiben müsste punktueller sein
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.11.2021

Magnus Klaue: Erinnerungen an eine große Schriftstellerin
Der Tagesspiegel, 1.102.2021

Günter Kaindlstorfer: Ilse Aichinger und die machtvolle Ohnmacht der Worte
Deutschlandfunk, 1.11.2021

Michael Wurmitzer: Ilse Aichingers 100. Geburtstag in Linz: Widerstand mit Worten
Der Standart, 23.10.2021

Gerhard Zeillinger: Ilse Aichinger: Schreiben als existenzielle Verflechtung
Der Standart, 1.11.2021

Matthias Greuling: Ilse Aichinger: Effizient wie ein Film
Wiener Zeitung, 1.11.2021

Teresa Präauer: „Autorinnen feiern Autorinnen“: Ilse Aichinger
Die Furche, 3.11.2021

Achim Engelberg: Schreiben nach Auschwitz – zum 100. Geburtstag von Ilse Aichinger
piqd.de, 1.11.2021

Es begann mit Ilse Aichinger 1921–2021. Erzählen vom Ende her und auf das Ende hin
Onlineausstellung kuratiert von Christine Ivanovic und Sugi Shindo

 

 

100 Jahre Ilse Aichinger. Mit Thomas Wild, Nikola Herweg und Ulrich von Bülow

 

 

Nachrufe auf Ilse Aichinger: Die Welt ✝ FAZ ✝ Die ZeitDF
literaturkritik 1 + 2

 

 

Nach Lektüre einiger Nachrufe ein paar Notizen zur Rezeption ihres Werks von Teresa Präauer.

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