Ingolf Brökel: Existenzminimum

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ingolf Brökel: Existenzminimum

Brökel-Existenzminimum

KOSMOS

Zwischen Ja und Nein
Also zwischen Eins und Null
Gibt es die Atempause
Gibt es ein Komma
Dahinter stehen Zahlen
Beliebig viele
Dahinter liegen Welten
Abzählbar Unendliche.

 

 

 

Existenz im Minimum

Der Begriff der ,Kritik‘ klingt ein wenig hart, selbst das Wort ,Rezension‘ hat einen Beigeschmack von Zensur. Man könnte es auch öfter mit einer ‚Besprechung‘ versuchen. Das bietet mehr Chancen, über ein Buch zu reden, es zu analysieren, zu verstehen und vielleicht sogar selber zum Sprechen zu bringen.
Mit seiner 2022er Edition von Gedichten mit dem Titel Existenzminimum hat Ingolf Brökel beeindruckende Verse geschaffen, ungewöhnliche und absolut lesenswerte. Die Sprache ist bemerkenswert und ein Spiegel des Inhaltes, aphoristisch zwischen genial und paradox, wobei Lakonisches und Originelles dominieren. Gleich in den Titelversen wird die tragende Idee des ,Existenzminimums‘ umrissen:

Ich bin auf ein Minimum aus
Eine Senke in der Wortlandschaft
Ihr tiefster Punkt
Da kann das Gedicht ruhen.

Dieser Zusammenhang durchzieht das gesamte Buch, abschließend zum Tragen kommt er dann auf der letzten Umschlagseite.

Was ich bringe?
Ich bringe Gedichte aufs Existenzminimum.
Ich hungere mich förmlich von Seite zu Seite.
Ein Gedicht, wenn es steht,
steht es stets auf einem Bein.
Etwas wacklig, also aufrecht.
Steht es auf einem Gipfel,
hat es einen Hang zu fallen.
Steht es aber in einer Senke,
hat es einen Grund sich zu legen.

Wie gut, dass es dem Autor mit den Versen dieses Buches gelungen ist, solch ein Minimum zu finden.
Brökel versteht es, den Worten ihre Bedeutung und deren Varianten abzuluchsen. Denn die solide Existenz eines Objektes im Minimum einer Potentialmulde, das ist erheblich mehr, als das, was ein Sozialpolitiker in einen solchen Begriff hineininterpretieren würde. Als gelernter Physiker weiß der Autor natürlich um die Tatsachen der Stabilität des Seins. Und er beweist immer wieder, dass es recht erstaunliche Parallelen zwischen Physik und Lyrik gibt, jedenfalls mehr als manch einer ad hoc vermuten würde. Welche das sind? Beide Gebiete streben danach, alles zu verdichten, auf den Punkt zu bringen, und abstrahieren dabei von Zweitrangigem und Störendem. Und: Für beide braucht man sehr viel Phantasie.
Einer Vielzahl von Themen gewinnt Ingolf Brökel seine – zuweilen überraschenden, obwohl auf den ersten Blick eher alltäglichen – Einsichten ab. Wer sonst vermag so sinnfällig die Erde durch das Raster der Sprache zu betrachten oder das Geschehen in der Welt an eine Messlatte der Mathematik zu legen? Wer kann Freuden und Qualen des Schreibens und der Literatur noch ein Augenzwinkern abringen und ist selbst an Punkten, wo nichts mehr differenzierbar und vieles nicht einmal mehr stetig scheint, einem dialektisch zweifelnden Lächeln nicht abgeneigt?

HERAKLIT fortgesetzt

Alles fließt

Und überall bleibt was
Hängen

In Brökels Versen sehen und spüren wir so vieles umgesetzt, was uns als Leser genau wie auch den Poeten bewegt, und ab und an spürt man in den knapp gehaltenen Worten, wie sich die Weisheit des Lebens und der Humor des Lyrikers die Hände reichen.

WELT-ANSCHAUUNG

Mit einem Stock
Auf die Erde malen

Felder
Den Himmel

Dann drüber hopsen.

Nicht selten dominieren in den Gedichten lakonische Aha-Effekte. Da könnte man sich durchaus auch die Frage stellen, ob es eine Tendenz gibt zu Lapidarem und knappen Quintessenzen in der Reihe von Brökels letzten Büchern: Hannah habil oder 137 Ansätze (Miniaturen, 2019), friedenserhaltungssatz (Gedichte, 2020) und Hannah habil II: oder Am Limes (Miniaturen, 2021).

VON DEN WORTEN
Nimm nur wenige
Zu dir

Bläh dich nicht auf

Es ist unangenehm
Wenn zu viel Luft
Drin ist.

Manchmal merkt man beim Lesen, dass da etwas scheinbar ganz normal und verständlich daherkommt, und dass sich dennoch dahinter mehr verbirgt, als beim ersten Draufschauen greifbar wird. Sofortiges Verstehen mit dem Urteil, es schon immer gewusst zu haben, wird es nicht häufig geben, die Texte stellen hohe Ansprüche an Willen, Intelligenz und Konzentration des Lesers, der dafür aber auch entsprechend entlohnt wird.

ADAM RIES

Wenn sie vorwärts zählen
Beginnen sie bei Eins
Wenn sie rückwärts zählen
Enden sie bei Null
Da ist doch etwas faul.

Jedenfalls: Etwas zu sagen hat Brökel unbedingt, weil er sich und unsere Welt exakt beobachtet, das Gesehene gekonnt verarbeitet, Schlussfolgerungen zieht und diese dann unserem Nachdenken übergibt.

MAGDEBURG, KAUFLAND

Nein, hier nicht
Da müssen Sie
In den Taut-Ring
Ins Sozialkaufhaus.

Das Sozialkaufhaus
Ist voller Leute
Vor dem Bücherregal
Steht keiner.

Der Verfasser dieser Besprechung, der das Vergnügen hatte, das Entstehen des Buches ein klein wenig zu beobachten, und weiß, wie Ingolf Brökel mit den ewigen Wahrheiten der Poesie ringt, und dass diese beiden sich nicht so leicht in Ruhe lassen werden, wagt hier, der Hoffnung Ausdruck zu verleihen, dass das Schlussgedicht über das Tschüss-Sagen nur dieses Buch betrifft, der Autor aber weiter dem Wahren, Wichtigen und Schönen auf der Spur bleiben wird.

SO TSCHÜSS SAGEN
Dass es nur die
Mit dem absoluten
Gehör verstehen.

Insgesamt hat Ingolf Brökel uns also ein sehr gutes Buch, geschenkt; je öfter man es liest, umso besser kann man es durchdringen und verinnerlichen. Lesen, wieder lesen, wiederholt lesen. Da haben wir es noch einmal: Lesen, Verstehen und Mögen als Prozess. – Und wie ist das Buch gestaltet? Sehr gediegen bis elitär. Die Typografie ist etwas eigenwillig und gewöhnungsbedürftig, aber eine Buchbesprechung ist ja kein Lehrbuch für Schriftsetzer.

Roland Müller, signum, Winter 2023

 

Fakten und Vermutungen zum Autor

 

Ingolf Brökel (Text) & Erhard Ertel (Video/Musik)
Trailer zu Häschen in der Grube – Ein Stück Abend aufgeführt am 23. Oktober 2004.

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