Ingrid Bachér: Zu Max Herrmann-Neißes Gedicht „Notturno“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Max Herrmann-Neißes Gedicht „Notturno“ aus Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts. Von den Wegbereitern bis zum Dada. –

 

 

 

 

MAX HERRMANN-NEISSE

NOTTURNO

Wind würgt den Wald. Wie totgeschlagen liegt
ein dunkler Teich. Ins Sterngeflacker fliegt
aus Abendrot der irre Mond. Gewölk schlägt schwer
wie nasse Segel auf das Wipfel-Meer.

… und zwischen mich und dich ist Finsternis
und Feld und Giebel und Gebirg gestellt,
und Sehnsucht blutet so wie Natterbiß,
und wie in Feuersbrunst ist alles Land von unsrer Liebesnot weit überhellt.

Traum trägt mich hoch, dass meine Hände wie zwei Hunde
verbissen sind an dir. Flammen flackern von Mund zu Munde.
Wind würgt den Wald. Sterne verströmen ihr Blut.
Mond fließt in Mond. Giebel, Gebirg vergeht. Gott ist mir gut.

 

Die Glut des Bleibenden

Als ich wieder Hunger nach Gedichten hatte, nach einer intensiven Form des Lebens, die nie ganz auszuloten ist, da fand ich ein altes dtv Taschenbuch von 1962. Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts. Die Autoren der Gedichte sind den Jahren zugeordnet, in denen die Gedichte das erste Mal veröffentlicht wurden, von 1910 bis 1920. Unter der Jahreszahl 1914 finden sich drei Gedichte von Max Herrmann-Neiße. Eins von ihnen ist dies: „Notturno“, das mich einem Orkan der Empfindungen aussetzte. Da würgt der Wind den Wald und noch in derselben Zeile tritt schon der Tod hervor. „Wie totgeschlagen“ liegt der dunkle Teich. Das Mörderische der Verzweiflung wird gespiegelt in Bildern der Natur. Irr ist der Mond und fliegt „ins Sterngeflacker“, und herab schlagen die Wolken „auf das Wipfel-Meer“. Die Natur ist hier das Orchester, das die Stimmung ausdrückt, die Bühne bereitet für den Auftritt des Solisten, des einen Menschen in seiner schaurigen Verlorenheit und seiner Größe, diese benennen zu können. Er, Max Herrmann-Neiße, hatte die Kraft dazu.
Alles ist Bewegung in diesem Gedicht. Fest stehen nur, wie eine Barriere, Finsternis und Land und Stadt, ja, selbst das Gebirge zwischen ihm und der Geliebten. Sehnsucht ist hier nicht romantisch gefühlvoll, sondern hart schmerzhaft blutend, und Gefahr verbunden mit der Liebesnot. Die Feuersbrunst taucht auf wie ein Signal, das Kunde davon gibt. Sie überstrahlt das Land, verdrängt die starre Finsternis. Im Traum die Annäherung, auch sie in bitterer Not heftig. Verbissen „wie zwei Hunde“, die nicht loslassen können, halten die Hände die Geliebte. Nah „von Mund zu Munde“ flackern die Flammen.
Als sei Zeit vergangen, verändern sich in den beiden letzten Zeilen die Bilder des Anfangs. Noch einmal klingt auf wie ein Echo:

Wind würgt den Wald.

Doch dann schweift ins Größere der Blick. Es sind nun die Sterne, die ihr Blut verströmen. Wie in einem Wechselspiel fließt Mond in Mond, und das Trennende vergeht. Überraschend erschien mir zuerst der stille Schluss:

Gott ist mir gut.

Doch ist er der Schlussstein des Gewölbes, des Gedichtes, zu dem die Gewissheit – der Erlösung in einer anderen Dimension – ebenso gehört wie das unstillbare Verlangen nach dem, was man liebt.
Max Herrmann-Neiße war 28 Jahre, als dies Gedicht erschien. Damals lebte er in Berlin und war berühmt als Lyriker, Publizist und Kritiker. Körperlich zwergenhaft, war sein Geist scharfsinnig und unbestechlich. Manchmal trat er als Rezitator in Trude Hesterbergs Wilder Bühne auf. Else Lasker-Schüler feierte ihn:

seine Seele ist grün und tief, ein heller Schilfteich und seine Gedichte sind große pietätvolle Wanduhren, schlagen herrlich, wenn er sie vorträgt.

Sein Freund George Grosz malte ihn 1925. Das Bild hängt heute wieder in der Mannheimer Kunsthalle. Grosz flüchtete nach Amerika. Auch Max Herrmann-Neiße verließ 1933 Deutschland, obwohl er hätte bleiben können, wenn er eben nicht der Dichter aus Schlesien gewesen wäre, der mit den Wölfen nicht heulen wollte. 1935 schrieb er an George Grosz:

Die ganze Welt wird immer konsequenter dem nationalen Wahn hörig, und Hitler für diese Welt ein großer Mann, und alles kriecht Deutschland in den Arsch und lässt sich dem großen Krieg immer williger zutreiben und unsere, die den ganzen Irrsinn erkennen und nichts gegen die verblendete Welten-Mehrheit tun können, werden immer weniger.

Er erlebte noch den Beginn des Krieges. Krank vor Heimweh, immer in Geldnot und verlassen von seiner Frau starb er vor siebzig Jahren am 8. April 1941 im Londoner Exil und liegt begraben auf dem Marylebone Cemetery. Seit 1990 gibt es keine Neuausgabe seiner Gedichte, doch ist er trotzdem nicht vergessen. Die beharrliche Glut seiner Gedichte und seine Existenz, die diese prägte, sind vielen Verehrern präsent.

Ingrid Bachér, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechsunddreißigster Band, Insel Verlag, 2013

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