Iring Fetscher: Zu Bertolt Brechts Gedicht „Kinderhymne“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Bertolt Brechts Gedicht „Kinderhymne“ aus Bertolt Brecht: Gesammelte Gedichte. Vier Bände. –

 

 

 

 

BERTOLT BRECHT

Kinderhymne

Anmut sparet nicht noch Mühe
Leidenschaft nicht noch Verstand
Daß ein gutes Deutschland blühe
Wie ein andres gutes Land.

Daß die Völker nicht erbleichen
Wie vor einer Räuberin
Sondern ihre Hände reichen
Uns wie andern Völkern hin.

Und nicht über und nicht unter
Andern Völkern wolln wir sein
Von der See bis zu den Alpen
Von der Oder bis zum Rhein.

Und weil wir dies Land verbessern
Lieben und beschirmen wir’s
Und das liebste mag’s uns scheinen
So wie andern Völkern ihrs.

 

Leidenschaftlich, aber kontrolliert

Brechts Kinderhymne ist das schönste Deutschlandlied, das ich kenne. Es scheint ganz einfach und ist doch weise durchdacht. Das „Deutschland, Deutschland über alles“ hatte einmal den Überschwang des subjektiven Gefühls ausdrücken sollen: mir geht mein Vaterland über alles, aber die Maßlosigkeit der Wilhelminischen Ära und das Verbrechen der Nazis gaben dem „über alles“ einen anderen Sinn, als habe der Dichter sagen wollen, dieser Staat solle über alle anderen herrschen, seinen Eigennutz über alle erheben. Dem Katzenjammer der Niederlage folgte die Unterwürfigkeit der Besiegten. „Man hat sie entweder an der Gurgel oder zu seinen Füßen.“ So ähnlich hat sich Churchill einmal über die Deutschen geäußert.
Brechts Kinderhymne ist ganz auf den Ton der „Gleichheit“ Deutschlands mit andren Ländern gestimmt: Schon in der ersten Strophe heißt es „Wie ein andres gutes Land“, in der zweiten wird der Gedanke aufgenommen „Uns wie andern Völkern…“, und in der dritten ist dann klar die Antithese zum „über alles“ der Chauvinisten formuliert, aber zugleich auch die zur Servilität der Besiegten:

nicht über und nicht unter
Andern Völkern wolln wir sein

Während Hoffmann von Fallerslebens Hymne eine feierliche Beschwörung des lyrischen Individuums darstellt, spricht in Brechts Kinderhymne das „wir“ ähnlich wie in der Marseillaise, wenn auch weit friedlicher und stiller. Von der zweiten Strophe an ist dieses „wir“ präsent: im „uns“, in der dritten heißt es „wolln wir sein“ und in der vierten „weil wir… verbessern“. Das ist eine bewußt gestaltete Steigerung von der passiven Entgegennahme der Hände der andren Völker über das „wolln wir sein“ und „wir… verbessern“, zum aktiven, Liebe begründenden und aus Liebe kommenden Tun.
So bewußt wie der Gang des Liedes ist jede Strophe gestaltet. In der ersten wird schon auf das „Verbessern“ in der letzten vorausgedeutet und die Ausbalanciertheit der Haltung umschrieben. Dieses Verbessern soll mit Anmut und Mühe, unverkrampft, aber doch mit Anstrengung erfolgen, leidenschaftlich – aber kontrolliert durch den nüchternen Verstand. Solche Ausgeglichenheit und Ausgewogenheit ist das Unterpfand dafür, daß jene Wendung in der Einstellung anderer Völker eintritt, die dann nicht mehr vor uns erbleichen „wie vor einer Räuberin“. Dies ist die einzige Stelle der Hymne, in der auf die damals (1950) noch so junge Nazivergangenheit andeutungsweise hingewiesen wird.
Vielleicht wird von hier aus auch klar, warum die Hymne eine „Kinderhymne“ ist. Sie kann ja kaum von denen gesungen werden, vor denen – zu Recht – die Völker schreckhaft erbleichten. Es ist das Lied der neuen Generation, von der nicht nur Brecht hoffte, sie werde dieses Land verbessern. Keine Hymne für Kinder, sondern das Lied, das die Kinder singen (können). Und nur sie. Sie sind es auch, die sich von dem „über alles“ abkehren, um ein Volk unter Völkern zu sein. Sie nur dürfen zum Schluß erklären, „das liebste mag’s uns scheinen“, weil sie es verbessern. Welch besseren Grund gäbe es für Liebe zu einem Land als den, daß man es „verbessert“? Brechts Lied ist eine demokratische Hymne.
Brecht drückt sich hier weit bescheidener aus, als es einer dogmatisch gedeuteten marxistischen Theorie entspräche. Dieses „gute Land“ wird kein Paradies, aber es wird verbessert werden und stets verbesserungsbedürftig bleiben. Aus der verbessernden Arbeit rührt unsere Bindung an dieses Land und die Bereitschaft, es zu hüten und „zu beschirmen“. Das mag als Bereitschaft zur Abwehr äußerer Feinde gedeutet werden oder auch als Absage an solche, die das Verbessern nicht zulassen wollen. Es gibt wohl keine Hymne, die die Liebe zum eigenen Land so schön, so rational, so kritisch begründet, und keine, die mit so versöhnlichen Zeilen endet.

Iring Fetscheraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zweiter Band, Insel Verlag, 1977

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